Kanarienvogel

[550] Kanarienvogel (Zuckervogel, Serinus canarius Cab., Dryospiza canaria L.), Sperlingsvogel aus der Familie der Finken (Fringillidae) und der Unterfamilie der Gimpel (Pyrrhulinae), 12–13 cm lang, mit 6 cm langem Schwanz und 7 cm langen Fittichen; Stirn, Augengegend, Kehle und Brust sind mattglänzend goldgrün, nach dem Rücken zu durch Aschgrau in Graugrün und nach dem Bauche zu in Reinweiß übergehend; der Mantel ist bräunlich graugrün; Schwingen und Schwanzfedern sind mattschwarz, grünlich gesäumt, der Bürzel ist grüngelb. Der wilde K. singt wie der zahme, der Gesang des letztern ist kein Kunsterzeugnis, sondern nur ausgebildet, umgestaltet, zu glänzenderer Entwickelung gebracht. Er ist auf den Kanarischen Inseln, Madeira und auf den Inseln des Grünen Vorgebirges heimisch, lebt überall, wo dicht wachsende Bäume, Gestrüpp und Wasser vorhanden sind, in Gärten und Weinbergen bis zu einer Höhe von 1500 m. Nur das Innere des schattigen Hochwaldes scheint er zu meiden. Er nährt sich von Sämereien, zartem Grün und Früchten, namentlich Feigen, nistet im März auf jungen, frühbelaubten Bäumen, legt fünf blaß meergrüne, rötlichbraun gefleckte Eier, die denen des zahmen Vogels vollkommen entsprechen, und brütet wie dieser 13 Tage. In jedem Sommer finden 3–4 Bruten statt. In der Gefangenschaft ist der frisch eingefangene Wildling sehr unruhig, er paart sich aber sehr leicht mit dem gezähmten und erzeugt hübsche Blendlinge. Linné, Brisson u. a. hielten den K. für einen Mischling von verschiedenen grünen Finken; erst Bolle stellte fest, daß die ursprüngliche Art auf den Kanarischen Inseln noch unverändert vorhanden[550] ist. Die ältern Schriftsteller, wie Gesner, Aldrovandi u. a., kennen nur den grünen K., und niemand weiß anzugeben, wann und wie der Übergang vom grünen zum gelben Kleid stattgefunden. Nachdem die Spanier 1311 und 1473 die Kanarischen Inseln erobert, bildete der K. einen namhaften Handelsgegenstand. Es wurde Mode, daß sich vornehme Frauen nur mit dem Kanari auf dem Finger malen ließen. Die Spanier bewahrten diesen Handel ein volles Jahrhundert hindurch als Monopol. Durch ein gestrandetes spanisches Schiff wurden die Kanarienvögel nach Elba verpflanzt (Mitte des 16. Jahrh.), verwilderten hier, wurden von den Italienern bald wieder ausgerottet, dann aber in Italien und besonders in Deutschland (schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrh.) gezüchtet.

Vom gezähmten K. unterscheidet man zahlreiche Varietäten und Spielarten. Die früher allgemein verbreitete deutsche Landrasse wird jetzt nur noch in verschiedenen Spielarten als Farbenvögel gezüchtet. Von letztern unterscheidet man loh- oder gold-, strohgelbe, weiße, isabellfarbene oder Elberne, graugrüne, tief orangegelbe, gescheckte (Gelb-, Blaß-, Isabellschecken, getigerte, Einflügel, Halbschwalben), Plättchen (Mückchen, Grau-, Grün-, Braun- und Schwarzplättchen), grau, grün, braun und schwarz gehäubte, Schwalben (Grau-, Grün-, Schwarz-, Isabell- und Flügelschwalben); außerdem unterscheidet man Glattköpfe und gehäubte und als krankhafte Varietät die Kakerlaken oder Albinos. In England werden besondere Farbenvarietäten gezüchtet, die man Lizards (eidechsenartig gestreifte), Yorkshire Spangles (Goldflitter), Cinnamoms (zimtbraune), Turnkrests (verkehrt gehäubte) u. dgl. benennt. Auch erzieht man tief gelbrote durch Fütterung mit einem völlig geschmacklosen Cayennepfeffer (Pfeffervögel) in denselben Farbenschlägen. Die Harzer Kanarienvögel bezeichnet man als Nachtigallschläger oder Gluckvögel (Doppelglucker, Gluckroller), Kollervögel und Rollvögel (Baß-, Knarr-, Hohl-, Klingelroller). Im Äußern ist der Harzer von dem gemeinen deutschen K. nicht verschieden, doch der herrliche Gesang stellt ihn obenan unter allen Singvögeln. Die Holländer Rasse zeigt große, schlanke Vögel mit sonderbar gekrümmtem Rücken und emporgezogenen Schultern nebst gekräuselten Federn an Brust und Flügeln (Jabot und Epauletten). Man unterscheidet Trompeter, größte und schlankeste Rasse, Pariser, Lord-Mayor, Brabanter und Brüsseler (Katzenbuckel).

Man füttert den gemeinen und holländischen K. mit einem Gemisch von Kanariensamen, Hanf und Rübsen nebst gelegentlicher Zugabe von Grünkraut (Miere, Kreuzkraut, Salat), auch Zucker, Obst und andern Leckereien. Der Harzer K. erhält nur besten, hederichfreien Sommerrübsen nebst Eifutter (Gemisch aus hart gekochtem Hühnerei und altbackenem, geriebenem Weizenbrot). Bei guter Pflege hält der einzelne Sänger sich wohl 20 Jahre im Käfig; Nistvögel sind bis zum vierten Jahr ergiebig. Für den Sänger muß der Käfig etwa 36 cm lang, 21 cm hoch und 17 cm tief, viereckig und oben von sanft gewölbter Form sein. Ein mindestens dreifach so großer Bauer ist zur Hecke für ein Männchen mit 1–3 Weibchen ausreichend. Die Zucht im großen wird in geräumigen Käfigen oder in Vogelstuben betrieben; man rechnet bis 200 Kanarienvögel, immer je ein Männchen mit 3–4, selbst 5 Weibchen, auf ein mittleres, einfensteriges Zimmer; doch ist eine geringere Bevölkerung ratsam. Die Nester bestehen in Holzkörbchen, Kästchen oder Blumentöpfen von 9 cm Weite und 6 cm Höhe, in sogen. Harzer Bauerchen befestigt, die 30 cm voneinander an den Wänden befestigt werden; sie sind etwa halb mit zartem, trocknem Moos gefüllt, auf dem die Vögel aus halbfingerlanger Scharpie die Nester bauen. Eier und Brut gleichen denen des Wildlings. Die Zeit des Einwurfs ist Mitte Februar bis Mitte März. Alljährlich erzielt man 3–4 Bruten. Die Fütterung in der Nistzeit besteht für gemeine deutsche und Holländer Kanarienvögel in Zugabe von hart gekochtem, geriebenem Hühnerei, für den Harzer K. in reichlichem Eifutter und neben dem trocknen in gebrühtem, zwischen Leinen gerolltem Sommerrübsen. Die vorzüglichsten Sänger müssen als Vorschläger für die jungen Männchen dienen, und ganze Stämme werden zu gleichem Gesang ausgebildet. Die Sänger befinden sich in verhängten Käfigen, damit sie ganz ungestört die Touren und Passagen lernen können. Im Harz wird die Zucht bei 22–30° betrieben, deshalb sind die kostbarsten Harzer Kanarienvögel sehr weichlich. Dennoch werden sie selbst im Winter bis auf vier oder fünf Tagereisen in zweckmäßig eingerichteten Käfigen versandt. Beim Empfang ist allmähliche Gewöhnung an ein wärmeres Zimmer und dann gleichmäßige Wärme von mindestens 22° zu beachten; auch darf Eifutter nicht entzogen werden, und der Sommerrübsen muß durchaus gut und rein sein. Zug, Nässe, Unreinlichkeit, starker Temperaturwechsel, z. B. beim Zimmerreinigen des Morgens, besonders aber verdorbenes oder unpassendes Futter (Hanfsame, Grünkraut oder Leckereien) richten zahlreiche Harzer Kanarienvögel zugrunde. Kanarienbastarde werden gezogen vom Stieglitz, Hänfling, Zeisig, Grünfink, Gimpel und andern einheimischen Finken; der erstere Mischling ist geschätzt der Schönheit und der zweite des Gesanges wegen. Die Zucht des Kanarienvogels wird im Harz (besonders in St. Andreasberg), in Hannover, Thüringen, Franken, im Schwarzwald, in Stuttgart, Nürnberg, Berlin, Leipzig, Magdeburg, Frankfurt a. M., Belgien und in der Schweiz großartig betrieben. In Deutschland werden alljährlich ca. 2 Mill. Kanarienvögel gezüchtet. Die Ausfuhr nach Nordamerika, England, Rußland, Südamerika, Ostindien und Australien beziffert sich auf etwa 1 Mill. Kanarienvögel. Für auswärtige Händler und Liebhaber besorgen sogen. Ausstecker das Abhören und den Einkauf der Vögel. Die Kanarienzüchter des Main-Rheingauverbandes haben wiederholt in Frankfurt Gesangskurse für Kanarienvögel veranstaltet. Die Krankheiten der Kanarienvögel bestehen in Heiserkeit, Hals- und Lungenentzündung, Epilepsie, Krämpfen, Fallsucht, Verstopfung, Unterleibsentzündung, Durchfall, Schwitzkrankheit, Wunden, Geschwüren, Ausschlägen, Beinbrüchen. Schwächliche Weibchen leiden an Legenot. Ungeziefer wird durch Reinlichkeit und Insektenpulver erfolgreich bekämpft. Vgl. Ruß, Der K. (10. Aufl. von Hoffschildt, Magdeb. 1901); Brandner, Der Harzer K. (3. Aufl., Stettin 1888); Böcker, Beiträge zur Kenntnis der Kanarien (10. Aufl., Ilmenau 1895); Bröse, Die Kanarienvogelzucht (Berl. 1894); Richard, Die Zucht des deutschen Kanariensängers (Duderstadt 1894); Kleeberger, Der K. (6. Aufl., Köln 1898); Zürn, Der K. (Berl. 1903); Bröcker, Der K. (2. Aufl., Hamb. 1905). Zeitschriften: »Kanaria« (Leipz., seit 1882), »Allgemeine Kanarienzeitung« (Oberdollendorf, seit 1893); »Der Kanarienzüchter« (Leipz., seit 1895) u. a.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 550-551.
Lizenz:
Faksimiles:
550 | 551
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon