Spencer [2]

[712] Spencer, 1) Georg John, Graf, engl. Bibliophile, geb. 1. Sept. 1758 als Sohn des Lords S., der 1761 zum Viscount Althorp und 1765 zum Grafen S. erhoben wurde, gest. 10. Nov. 1834, trat 1783 in das Oberhaus ein, wurde 1794 zum ersten Lord der Admiralität ernannt, zog sich dann 1801 mit Pitt zurück, übernahm aber in Fox' und Grenvilles Ministerium auf kurze Zeit von neuem das Staatssekretariat des Innern und lebte seitdem in Zurückgezogenheit. Durch Ankauf der Büchersammlung des Grafen von Rewiczki 1789 hatte er den Grund zu einer Bibliothek gelegt, die er in der Folge durch umfassende und kostspielige Neuerwerbungen zur größten und glänzendsten Privatbüchersammlung[712] von ganz Europa erhob. Sie zählte über 45,000 Bände 1892 wurde sie von John Ryland erworben und bildet gegenwärtig einen Teil der 1899 von dessen Gattin eröffneten John Rylands Library in Manchester. Auch eine reichhaltige Gemäldesammlung hatte S. angelegt. Vgl. Dibdin, Bibliotheca Spenceriana (Lond. 1814, 4 Bde.) und Aedes Althorpianae (das. 1822).

2) John Charles, Graf von, brit. Staatsmann, bekannter unter dem Namen Lord Althorp, geb 30. Mai 1782, gest. 1. Okt. 1845, studierte in Cambridge, trat 1803 ins Unterhaus, wo er sich zu den Whigs hielt, und war unter Fox und Grenville Lord des Schatzes. Im Ministerium Grey (1830) wurde er Kanzler der Schatzkammer und galt in allen finanziellen und staatswirtschaftlichen Fragen als Autorität. Als er 1834 durch den Tod seines Vaters al Mitglied des Oberhauses ward, legte er sein Schatzkanzleramt nieder und widmete sich fortan landwirtschaftlicher Beschäftigung. Später trat er der Anti-Cornlaw-League bei. Vgl. Le Marchant. Memoirs of John Charles Viscount Althorp, third Earl of S. (Lond. 1876); Myers, Lord Althorp (das. 1890).

3) John Poyntz, fünfter Graf von, brit. Staatsmann, Neffe des vorigen, geb. 27. Okt. 1835, erzogen in Harrow und Cambridge, war 1859–61 Ooerkammerherr (groom of the stole) des Prinzen Albert und bekleidete 1862–67 das gleiche Amt in der Hofhaltung des Prinzen von Wales. Vom Dezember 1868 bis zum Februar 1875 war S. unter Gladstone Vizekönig von Irland, erhielt im neuen Gladstoneschen Kabinett (1880–85) erst das Amt eines Präsidenten des Geheimen Rates, dann 1882 abermals das des Vizekönigs von Irland und übernahm 1886 auf kurze Zeit wieder das Präsidium des Geheimen Rates. Im vierten Ministerium Gladstone und im Ministerium Rosebery war er vom August 1892 bis zum Juni 189. erster Lord der Admiralität. 1902 wurde er als Nachfolger des Grafen von Kimberley zum Führer der liberalen Partei im Oberhaus erwählt. – Sein Bruder Charles Robert S., geb. 1857, seit 1880 liberales Mitglied des Unterhauses, war 1892–95 Vizekämmerer und wurde im Dezember 1905 zum Lord-Kämmerer ernannt und gleichzeitig als Lord Althorp zum Peer erhoben.

4) Herbert, bedeutendster engl. Philosoph der letzten Zeit, geb. 27. April 1820 in Derby, gest. 8. Dez. 1903 in Brighton, wurde von seinem Vater, einem Lehrer der Mathematik, und seinem Oheim Thomas S., einem liberalen Geistlichen, erzogen, zuerst Zivilingenieur, sodann Journalist und (von 1848–59) Mitarbeiter an dem von J. Wilson herausgegebenen »Economist«, an der »Westminster Review«, der »Edinburgh Review« und andern Zeitschriften, endlich philosophischer Schriftsteller und Begründer eines eignen Systems, das er als Evolutions- oder Entwickelungsphilosophie bezeichnete. Einzig erkennbar ist das Relative, dem allerdings ein unerkennbares Absolutes zugrunde liegt. Die Prozesse in dem Erkennbaren sind Evolution, d. h. Ausbreitung der Bewegung, mit der die Integration des Stoffes zugleich erfolgt, und Dissolution, d. h. Absorption der Bewegung, mit der Disintegration verbunden ist. Wie alles übrige Geistige werden auch die ethischen Erscheinungen durch die Evolution erklärt. Die erste bedeutende Schrift Spencers war eine Statistik der Gesellschaft u. d. T.: »Social statics« (1851, 1868; abgekürzte Ausg. 1892), der die »Principles of psychology« (1855) folgten. 1860 begann er nach dem Vorbild von Comtes »Cours de philosophie positive« eine zusammenhängende Folge von philosophischen Werken, in denen »nach ihrer natürlichen Ordnung« die Prinzipien der Biologie, Psychologie, Soziologie und Moral entwickelt wurden. Dieses 1896 abgeschlossene »System of synthetic philosophy« (deutsch von Vetter und Carus, Stuttg. 1875–97, 9 Bde.) besteht aus folgenden Abteilungen: »First principles« (1862, 5. Aufl. 1893), »Principles of biology« (1865, 2 Bde.; 6. Aufl. 1898), einer Umarbeitung der »Principles of psychology« (1870; 3. Aufl. 1890, 2 Bde.), »Principles of sociology« (1876–96, 3 Bde.) und »Ethics« (1892–93, 2 Bde.). Außerdem veröffentlichle S.: »Education: intellectual, moral and physical« (1861, 38. Aufl. 1896; deutsch von Schultze, 5. Aufl., Sachsa 1905); »Essays, scientific, political and speculative« (1858–63, 2 Bde.), deren 5. Auflage (1891, 3 Bde.) auch die »Classification of the sciences« (1864, 3. Aufl. 1871) in sich aufgenommen hat; »Recent discussions in science, philosophy and morals« (1871); »Study of sociology« (1873, 18. Aufl. 1897; deutsch von Marquardsen, Leipz. 1875, 2 Bde.); »Descriptive sociology« (mit Collier, Scheppig u. Duncan, 1873 ff., 6 Bde.); »The rights of children and tue true principles of family government« (1879) u. a. Eine kurze Darstellung des Ganzen gibt Collins, An epitome of the synthetic philosophy (5. Aufl., Lond. 1903; deutsch, Leipz. 1900). Eine deutsche Übersetzung vermischter Aufsätze (von Carus und Wischmann) u. d. T.: »Erfahrungen und Betrachtungen aus der Zeit« (Stuttg. 1903) beruht auf den »Various essays« (1901) und »Facts and comments« (1902); Spencers »Autobiography« erschien 1904 in 2 Bänden (deutsch von Ludw. und Helene Stein, Stuttg. 1905). Von den sehr vielen Arbeiten über S. seien genannt: Pünjer, Der Positivismus in der neuern Philosophie etc. (in den »Jahrbüchern für protestantische Theologie«, 1878, Heft 3); Guthrie. On Spencer's unification of knowledge (Lond. 1882); Michelet, Spencers System der Philosophie (Halle 1882); Hudson, Introduction to the philosophy of H. S. (2. Aufl., Lond. 1895); Gaquoin, Die Grundlage der Spencerschen Philosophie (Berl. 1888); Grosse, H. Spencers Lehre vom Unerkennbaren (Leipz. 1890); E. de Roberty, Aug. Comte et Herbert S. (Par. 1894); Busse, Spencers Philosophie der Geschichte (Halle 1894); Gaupp, Herbert S. (3. Aufl., Stuttg. 1906); Dubois, S. et le principe de la morale (Par. 1899); Salvadori, S. e l'opera sua (Flor. 1900) und L'Etica evoluzionista (Turin 1903); Juvalta, La dottrina delle due ethiche di H. S. (Bizzoni 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 712-713.
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