[92] Sünde (lat. Peccatum), 1) eigentlich jede Übertretung eines Gesetzes, welche eine Sühne (s.d.) verlangt; bes. 3) jede Übertretung der Gebote Gottes od. des Moralgesetzes, wobei Freiheit des Willens, ein bestehendes Gesetz u. die Bekanntschaft mit demselben vorausgesetzt wird (so daß nach diesem Begriff von S. Wahnsinniger nicht die Rede sein kann). Der Grund od. die Entstehung der S., welche schon in der vorchristlichen Zeit die heidnischen Philosophen u. Religionsstifter vielfach beschäftigte u. später bei vielen Gnostikern den Mittelpunkt ihres ganzen Systems bildete, wurde bes. vom Apostel Paulus, namentlich in dem Briefe an die Römer, näher entwickelt u. dabei auf den Zwiespalt hingewiesen, welcher durch die doppelte Natur im Menschen, durch das Fleisch (Sinnlichkeit) u. den Geist, entsteht u. zur S. führt. Aber auch von Außen wurde nach der Schriftlehre die S. veranlaßt u. der Teufel od. Satan (s.d.) als der fortwährende Versucher zum Bösen bezeichnet, u. seit Augustin die Lehre von der Erbsünde (s.d.) damit in Verbindung gebracht. Man unterscheidet mehre Gattungen: a) die Erbsünde (s.d.), als die allen Menschen von Adam her angeborene S., nach Andern die in der sinnlichen Natur des Menschen vorhandene Trägheit zum Guten u. Geneigtheit zum Bösen; u. die eigne, aus freier That hervorgegangene Thatsünde (Peccatum actuale) b) rücksichtlich des Gesetzes: Begehungssünde (Peccatum commissionis), die etwas thut, was verboten ist, u. Unterlassungssünde (Pecc. omissionis), die etwas, was geschehen sollte, unterläßt; zu beiden gehören z.B. die Gewohnheitssünde, welche durch ihre öftere Wiederholung zur Gewohnheit geworden ist; die [92] Schooßsünden, Fehler, deren der Mensch mit einer besondern Art von Zuneigung ergeben ist; dagegen versteht man unter stummen (heimlichen) S-n widernatürliche Ausschweifungen des Geschlechtstriebes, wie Onanie, Päderastie etc., weil der Mensch sie nur insgeheim treibt. c) In Rücksicht des Objects unterscheidet man S. gegen Gott, S. gegen andere Menschen, S. gegen sich selbst. Da Gott aber zu erhaben ist, als daß er durch Menschen beleidigt werden könnte, so kann von S. gegen Gott nur in sofern die Rede sein, als der Mensch die Gebote übertritt, welche sich auf seine Verehrung u. den ihm schuldigen Gehorsam beziehen. d) In Bezugnahme auf den sündigen Menschen sind die S-n: vorsätzliche od. Bosheitssünden (Peccata prohaeretica s. dolosa), die unsittlichen Handlungen, welche unmittelbar aus einer sittlich-bösen Gesinnung hervorgehen, so daß diese Gesinnung den Entschluß zur That bestimmte; unvorsätzliche od. Nachlässigkeitssünden (Pecc. negligentiae s. mere culposa), welche nur unmittelbar aus einem dem Entschlüsse zur That hervorgehenden Mangel an Achtung gegen das Gesetz entsprungen sind; die Unterarten der Letzteren sind: Unwissenheitssünde (Peccata ignorantiae), Schwachheitssünde (P. ex infirmitate oriunda), Übereilungssünde (P. praecipitantiae s. temeritatis); e) in Rücksicht auf die Handlung selbst: innere S. (P. interna), wohin die unerlaubten Gedanken, Neigungen, Entschließungen, u. äußere S. (P. externa), wohin böse Reden u. Thaten gehören; eigene S. (P. propria), wenn Jemand aus eigenem Willen das Böse thut, u. fremde S. (P. aliena), wenn Einer an den S-n Anderer auf irgend eine Weise Antheil nimmt; unbedingte S. (P. absoluta), wenn die böse Handlung, vermöge ihrer ganzen Natur, dem göttlichen Gebote widerstreitet; u. bedingte S. (P. hypothetica), welche erst durch hinzukommende Umstände S. werden. f) In Hinsicht der Bedeutendheit nimmt man größere u. geringere S. (P. graviora et leviora) an, je nachdem das übertretene Gebot wichtiger od. minder wichtiger ist; (himmel-)schreiende (P. clamantia) S-n, welche zu Gott um Rache rufen, auch wenn kein Ankläger da ist, od. sie nicht von Menschen gestraft werden; man rechnet dazu: das unschuldig vergossene Blut, die Sodomiterei, die Unterdrückung der Unschuldigen, den zurückgehaltenen Lohn des Arbeiters. Unter der sogenannten S. wider den heiligen Geist (P. contra Spiritum sanctum) verstehen die Theologen theils die S. wider die lebende Person Jesu, namentlich Verlästerung derselben, theils die eigentliche Bosheitssünde. g) Hinsichtlich der Folgen: vergebliche od. läßliche u. unvergebliche od. unerläßliche S-n (P. remissibilia s. veniabilia et irremissibilia s. manentia), Todsünde (P. mortiferum s. mortale), eine Sünde, welche den Menschen seines geistigen Lebens beraubt, den Glauben vernichtet u. ewige Strafe verdient. Die Folge der S. ist die Strafe, s.d. I. Über die Befreiung von der S. s.u. Sündenvergebung. Vgl. Tholuck, Die Lehre von der S., Hamb. 1823, 8. A. 1862; I. Müller, Vom Wesen u. Grunde der S., Bresl. 1839. 3. A. 1848. 2 Bde.