China (Geographie)

[361] China (Geographie). Dieß Land einer uralten Cultur, einer die unsrige weit überragenden Zeitrechnung, ist auch das Land der Gegensätze, das Land des Grottesken, des Barocken, geschmacklos-Phantastischen. Das Wort »chinesisch« ist in Europa mit »seltsam, sonderbar, pedantisch, komisch,« gleichbedeutend geworden. Hier gibt es eine Morallehre voll Weisheit, Klarheit und Milde neben einer Religion voll der abgeschmacktesten Abgötterei, hier im Volke achtungswerthes Schicklich- und Sittlichkeitsgefühl, während zugleich körperliche Züchtigungen, denen der Geringste, wie der erste Minister unterworfen ist, nicht entehren; hier gibt es Poesien, die mit vielem Reiz die Sehnsucht und das Glück der Liebe feiern, während man die Frauen als eine Handelswaare betrachtet und der Kindermord für kein Verbrechen gilt. Hier wird die Schöne nicht durch den Heldenmuth ihres Anbeters bezaubert und überwunden, [361] sondern durch ein glänzendes Examen, durch Verse, durch seine Kenntniß der Klassiker. Hier gibt es keinen Adel, keine Hierarchie, keinen bevorrechteten Stand, sondern die Gelehrsamkeit allein, in den starren Formen voriger Jahrhunderte befähigt zum Staatsdienst, gibt Rang und Einfluß, macht Mandarinen der verschiedenen Classen, aber die Würde muß vom Sohn und Enkel immer wieder neu erworben werden. China besaß die wichtigen Erfindungen des Compasses, der Buchdruckerei, des Schießpulvers, wie ziemlich bestimmt ermittelt ist, Jahrhunderte früher als Europa; während der Occident diese Erfindungen aber verbesserte, vervollkommnete, blieben sie dort in ihrer Kindheit, in ihrem rohen Uranfange auf derselben Stufe stehen. Hier ist im Allgemeinen eine Neigung zur Mäßigkeit und dech eine raffinirte Küche, welche die französische übertrifft. Hier eine unübertroffene Geschicklichkeit in mechanischen Künsten, ein scharfer Erfindungsgeist in Erzeugnissen der Manufaktur; dabei aber kein Wechsel der Mode; die Tracht ist seit Jahrhunderten ohne die geringste Veränderung dieselbe geblieben. – Auf 247,900 Quadrat Meilen wohnen wenigstens 142 Millionen Menschen, größtentheils von mongolischer Abstammung, despotisch regiert von einem Kaiser, der sich den Sohn des Himmels nennt, in Ordnung und gesetzlichem Verband erhalten durch das Bambusrohr, in denselben Formen, wie vor Jahrhunderten sich bewegend und doch ewig neu und nie ganz durchforscht in ihrer Seltsamkeit, ihrer Gesetzgebung und Geschichte. China ist seiner Bevölkerung nach das größte Reich der Erde und steht an Flächenraum nur Rußland nach. Wer hat nicht von der großen chinesischen Mauer gehört, die 247 Jahre vor Christus vom Kaiser Thingwam erbaut, oft doppelt und dreifach über Abgründe, Flüsse und Berge in einer Länge von 150 geographischen Meilen an der Nordgrenze des Landes hinläuft; ein Riesenbau, gegen welchen selbst die kolossalen Bauten der Aegypter und Babylonier verschwinden? Wer sah nicht eine Abbildung des neun Stockwerk hohen Porzellanthurmes von Nanking? – Da fast[362] alle Naturkräfte personificirt sind, so sieht man eine außerordentliche Menge von Tempeln und zum Theil scheuslichen Götzenbildern. – In der Bildung der Oberfläche dieses großen Landes liegt eine fast trostlose Einförmigkeit. Die Gebirge, Seen, Ströme etc. bieten nichts Malerisches; nur die Ufer des blauen Flusses und die Gegend um Dschehol, die Sommerresidenz des Kaisers, geben reizende Landschaftsbilder. In Hinsicht des Klima's kann man drei Bezirke annehmen. Im nördlichsten gedeihen Weizen, Gerste, europäisches Obst, Wein, Maulbeerbäume; im mittleren Thee, Reis, Kampher; der südlichste aber ist mit allen Erzeugnissen des tropischen Klima's gesegnet. Hier gibt es zwei bis drei Reisernten jährlich. Im Allgemeinen sind wenig Länder der Erde von der Natur mit allerlei trefflichen Produkten so reich begabt worden wie China. Die Berge enthalten alle Arten edle und unedle Metalle, Lasursteine, Porphyre, Jaspise, Topase etc., herrlichen Marmor, den klingenden Stein Yu, Porzellanerde. Im Pflanzenreich zeichnen sich aus: herrliche Eichen, Firniß-, Talg-, Wachs-, Leim- und Theebäume. Aus den Zweigen und Früchten des Wachs- und Talgbaumes wird eine fettige Substanz gewonnen, welche verhärtet und in Lichter geformt, gebrannt wird. Der Theebaum ist vielleicht der größte Reichthum China's; alle übrigen Welttheile werden von hier aus mit diesem würzigen, sanft erwärmenden Getränke versorgt. Die ostindische Compagnie holt jährlich an 30 Millionen Pfund aus Canton. Nebst dem Thee ist Reis das Hauptnahrungsmittel. Er wird allgemein und auf die verschiedenste Art zubereitet genossen, und vertritt die Stelle des Brodes. Das Bambusrohr dient zum Bauen, zu allerlei Geräthschaften und zur Ausübung der Justizpflege. Aus dem Ruß von Camelien- und Rettigöl werden die unnachahmlichen Tusche gewonnen. Berühmt sind noch die großen Rhabarbarwurzeln, die Arzneipflanze Dschinseng, wovon eine Unze mit 8 Unzen Silber aufgewogen wird, die Frucht L itschi, welche eine säuerliche, gewürzhafte, wohlschmeckende Nuß[363] trägt, die Wasserpflanze Linekio mit ihrer mehlreichen Wurzel, die Wasserkastanie Pitsi etc. Zu den Hausthieren gehören Pferde und Rinder, schwächer und kleiner als in Europa, Schafe, Schweine und Zwerghirsche, welche nur so groß wie eine englische Dogge sind und zum Vergnügen gehalten werden. Von wilden Thieren sind bemerkenswerth: Affen, Eichhörnchen, gelbe Ratten, deren Balg sehr geschätzt wird, Zibetkatzen, Biber, Murmelthiere, Tiger, Leoparden, Luchse, Elephanten, Nashörner; an den Küsten: Wallfische. Aus der Klasse der Vögel nennen wir nebst den Raub- und Waldvögeln die Zwergsperlinge, welche dem Kolibri gleichen, Kropfgänse, die zum Fischfang abgerichtet werden, Gold- und Silberfasane, Kasuare, Nashornvögel, Flamingo's und unzählige Enten, als Hauptbestandtheile aller Mahlzeiten. Es gibt künstliche Anstalten zum Ausbrüten der Enteneier. Unter den Amphibien sind: Schildkröten, Chamäleons und Schlangen von 24 Fuß Länge; von Fischen besonders Goldkarpfen, Lampreten, Störe, Aale, Haufen, Lachse. – Fischerei und Jagd ist Jedermann frei gegeben: Auf den zahlreichen Flüssen gibt es darum schwimmende Dörfer. Auf Flößen von Bambusrohr wohnen ganze Familien, bauen auf einem Wurzelgeflecht, welches mit Erde bedeckt ist, ihr Gemüse, treiben Fischfang und erziehen ganze Herden von Enten, welche ihnen folgen. – In der Klasse der Insekten kommen prachtvolle Schmetterlinge, von der Größe einer Fledermaus, vor, dann Seidenraupen, deren Larven auch zur Nahrung dienen. Dieses nützliche Insekt hat sich von hier aus über alle andere Welttheile verbreitet. Die Seide ist in China so allgemein, daß selbst die niedern und armen Volksklassen sich darein kleiden. Die ausgekrochenen Larven geben einen Schleim von sich, der das Wachs übertrifft und zu Lichtern gebraucht wird. Von Würmern dienen Tintenfische, Wegschnecken, Regenwürmer, Muscheln etc. zur Nahrung. An den Küsten fischt man Perlenmuscheln. Die Chinesen verstehen es, große Perlen künstlich zu erzeugen. Sie stecken zwischen den [364] Mantel des lebendigen Thieres und die Muschelschale ein Stückchen Silberdraht und werfen die Muschel wieder in's Wasser. – China hat 163 Städte des ersten Ranges, 249 vom zweiten und 1183 vom dritten. Die Zahl der Festungen ist 297, die der zahllosen Dörfer aber gänzlich unbekannt. Die Hauptflüsse des Landes sind der blaue und gelbe Fluß, so von ihrer Grundfarbe benannt. Jeder hat einen Lauf von 430–450 Meilen Länge. Sie überschwemmen und befruchten das Land regelmäßig. Der natürliche Wasserreichthum wird noch durch unzählige Kanäle vermehrt. Der große Kaiserkanal steht in seiner Art einzig da, wie die berühmte Mauer. Er ist nach Beschaffenheit des Bodens 290–1000 Fuß breit, läuft über Seen und Moräste auf 20 Fuß hohen Dämmen aus Granitquadern fort, ist oft durch Felsen gebrochen und 60–70 Fuß tief in den Erdboden hineingearbeitet. Man kann auf diesem Kanal und seinen Verbindungen den Weg von Canton bis Pecking, 258 Meilen, in gerader Linie auf dem Wasser zurücklegen. – China ohne die Nebenländer: Mandschurei, Mongolei, Turfan etc. wird in 15 Provinzen eingetheilt. Die Einwohner bestehen aus eigentlichen Chinesen, Mandschuren, Mongolen, Miaothen und Lolos (zwei halbwilde Gebirgsvölker) und Juden, welche bereits 200 Jahre vor Christus hier eingewandert sein sollen. Die Chinesen sind mongolischer Abstammung, zart und schmächtig von Gestalt. Hände und Füße sind klein. Die Hautfarbe ist ein bräunliches Gelb, das sich aber im Norden mehr dem Weißen nähert. Ihr Gesicht ist breit und flach, mit hervorstehenden Backenknochen, die Nase platt, das Auge schwarz, das Haar dunkelschwarz, die Stirne frei. Die Männer haben Anlage zum Dickwerden, doch sind ihre Muskeln schlaff und sie können körperliche Anstrengungen nicht gut vertragen. Die vielen Soldaten, welche die Gränzen, Canäle, Ufer, Festungen etc. bewachen, sind alle verheirathet; haben Feldboden und betreiben Ackerbau. Der ledige Stand wird für schimpflich gehalten; es ist ein großes Unglück zu sterben, ohne[365] Kinder zu hinterlassen, welche auf dem Grabe der Eltern die alljährlichen Opfer bringen müssen. Der Ackerbau ist das ehrenvollste Geschäft. Jeden Frühling begeht der Kaiser die Feierlichkeit des Pflugführens in eigener Person, in der Nähe eines Tempels zu Peking, welcher dem Erfinder des Ackerbaues geweiht ist. Hier lenkt er und nach ihm alle Fürsten und Große des Reiches den silbernen Pflug und trägt bei dieser Verrichtung die Kleidung der Dorfbewohner. Hofsänger singen während dieser Ceremonie Loblieder zum Preis der Agricultur. – Auch der Gartenbau wird von ihnen sehr verständig getrieben. Manufakturen im Großen kennen sie nicht, jeder Arbeiter arbeitet gewöhnlich für sich und setzt seine Erzeugnisse unmittelbar an den Kaufmann ab. – Die Mandarinen, zugleich Regierungs- und Justizbeamte, Lehrer und Priester werden in verschiedene Klassen eingetheilt. Jeder muß mit der ersten Klasse beginnen und steigt erst nach einem strengen Examen in die zweite. – Der Kaiser ist Herr über Tod und Leben; wenn er ausreitet, werden die Fronten aller Häuser, an welchen er vorüberzieht, mit blauem Kattun verdeckt; Jeder, der dem Zuge begegnet, muß sich mit dem Gesichte platt auf die Erde legen. Sein Hofstaat ist zahlreich und glänzend, sein Harem ausgesucht; es wird von einer großen Anzahl Eunuchen bewacht. Im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben herrscht ein langweiliges, steifes, lächerliches Ceremoniel. Es wird mit der heiligsten Ernsthaftigkeit betrieben und erfordert ein eigenes Studium. Alle Verrichtungen erheischen eine bestimmte Anzahl von Kniebeugungen, Arm- und Handbewegungen, die je nach dem Range der verschiedenen Personen modificirt werden. Ladet ein Chinese Jemanden zur Tafel ein, so muß dieß drei Mal schriftlich auf rosenrothem Papier, das dritte Mal kurz vor Anbeginn des Festes, geschehen. Schon die Kinder werden an Ernsthaftigkeit und ein steifes, abgemessenes Wesen in der Schule gewöhnt. Mit dem neunten Jahre werden die Geschwister nach den Geschlechtern von einander getrennt und streng abgesondert; [366] Geschwisterliebe existirt hier gar nicht; doch müssen die Kinder ihre Eltern über Alles lieben, im Nothfalle nur für sie arbeiten und ihnen, wenn es gefordert wird, das Leben zum Opfer bringen. Der Mann ist im Hause Tyrann, selbst die Frau ist seine Sklavin. Kindermord und Selbstmord sind keine Verbrechen, Betrug im Handel ist erlaubt. Seltsam ist der Gebrauch, daß Verwandte ihren Verwandten, Kinder ihren Eltern bei Lebzeiten schön geschmückte Särge zum Geschenke machen; es gilt dieß für ein besonderes Zeichen von zärtlicher Anhänglichkeit. Der allgemeine Charakter des Volkes ist ein Gemisch von Stolz, Bettelhaftigkeit, List und Kleinlichkeit, Ernst und Gemeinheit. Sie verachten alle anderen Nationen, nennen sie Barbaren und überschätzen Alles, was von ihnen selbst herrührt. Sie sind ungemein feig, eine Drohung mit Degen oder Pistole erschreckt sie bis zu Krämpfen. Die Polizei ist auf den Straßen mit Peitschen bewaffnet und erhält mittelst derselben Ruhe und Ordnung. – Hungersnoth ist nicht selten; denn da der Boden ziemlich vertheilt ist und Niemand mehr baut, als sein jährliches Bedürfniß erfordert, so folgt auf einen einzigen Mißwachs augenblicklicher Mangel. Der Kaiser muß dann seine Speicher öffnen lassen, welche die Abgaben an Getreide und Reis enthalten und das Volk speisen. – Sie haben kein Alphabet. Jedes Schriftzeichen bedeutet nicht, wie bei uns einen Ton, ondern eine Idee, einen Gegenstand; eine Vereinigung von Strichen repräsentirt einen Redesatz u. dgl. Die Religionsbücher enthalten zugleich Philosophie und Mythologie. Sehr verschieden von der unsrigen ist ihre Küche. Sie verspeisen nebst den gewöhnlichen Hausthieren und dem Wildpret auch Hunde-, Pferde-, Katzen-, Rattenfleisch, gebratene Regenwürmer, aufgeweichtes Leder, Heuschrecken, Schlangen, verschiedene Insekten, Vogelnester, in Oel und Zucker gebackene Rosen, Bambusknospen und sehr viel Confituren. Sie verschmähen jedes kalte Getränk als ungesund und genießen Wein und Thee warm, letzteren ohne Zucker und Milch.[367] Alle Speisen, stets geschmackvoll gewürzt, werden klein zerschnitten und statt der Gabel mit zwei kleinen Stäbchen von Silber oder Elfenbein zum Munde geführt. Häufiges Gesundheittrinken ist üblich; es wird von verschiedenen ceremoniellen Hand- und Armbewegungen begleitet, welche alle Anwesende a tempo nachzumachen genöthigt sind. Die höhern Stände berauschen sich mit Opium, welches sie leidenschaftlich rauchen. – Getanzt wird gar nicht. Sie haben nur Pantomimen, welche ihre Schauspieler aufführen. Ihre Dramen sind zahl- und formlos, ein Gemisch von Declamation und Gesang, größtentheils Melodram; aber mit Unsittlichkeiten vermengt, weßhalb die Frauen diesen Produktionen auch nicht beiwohnen dürfen. Die Musik ist ein sinnloses Geräusch. – Feiertage gibt es gar nicht, nur Neujahr (15. Januar) und die darauf folgenden Wochen sind Fest- und Ruhetage. – Eine merkwürdige Feier ist das Laternenfest, wo das ganze Land von einem Ende zum andern auf die sinnigste Art erleuchtet wird. Aus allen Fenstern, von allen Dächern hängen zahllose, bunte Lampen; man formt sie aus geöltem Papier in Gestalt von Drachen, Vögeln, Fischen etc. Sehr beliebt sind auch die Feuerwerke, worin sie große Geschicklichkeit besitzen. – Sie spielen gern, namentlich eine Art Schach, welches aber von dem gewöhnlichen ganz abweicht, dann ein Spiel mit den Fingern, welches mit der italienischen mora Aehnlichkeit hat; auch richten sie Grillen ab und lassen diesemit einander kämpfen. – So viel in flüchtigem Umrisse über ein Volk, dessen Sitten und Gebräuche, Religion und Sprache, dessen Geschicklichkeiten und Verkehrtheiten, so weit sie uns durch die Reisenden bekannt geworden, kaum in mehreren Bänden erschöpfend geschildert werden könnten.

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Damen Conversations Lexikon, Band 2. Leipzig 1834, S. 361-368.
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