Runen

[264] Runen, die ältesten Schriftzeichen der Germanen. Sie sind nicht, wie man früher annahm, einheimischen Ursprungs, sondern aus einem südeuropäischen Alphabet hervorgegangen, dessen Buchstaben man unter prinzipieller Vermeidung der wagerechten und krummen Linien (diese waren zum Ein ritzen in Holz ungeeignet) umformte und mit bedeutsamen Namen versah. Daß die R. aus der lateinischen Kapitalschrift umgebildet sind, was lange auf Grund der Wimmerschen Forschungen für ausgemacht galt, wurde neuerdings durch O. v. Friesen und Bugge bestritten, die vielmehr zu beweisen suchen, daß die R. zum größern Teil aus dem griechischen Alphabet entlehnt sind, während nur wenige Zeichen dem lateinischen entstammen. Das älteste Runenalphabet (nach den ersten sechs Buchstaben futhark genannt) bestand aus 24 Zeichen: f, u, th, a, r, k, g, w, h, n, i, j, e, p, z (= weich s), s, t, b, e, m, l, ng, o, d; dasselbe läßt sich mit geringen Abweichungen in der gleichen Anordnung bei den Nordgermanen (Brakteat von Vadstena; Runenstein von Kylfver auf Gotland), Angelsachsen (in der Themse gefundenes Messer) und Süd germanen (Charnayspange) nachweisen, war also allen[264] germanischen Stämmen gemeinsam, was für die Goten durch die Beibehaltung einzelner Runenzeichen in dem Alphabet des Ulfilas und durch die in einer Wiener Handschrift erhaltenen Namen der gotischen Buchstaben, die mit den Namen der angelsächsischen und nordischen R. übereinstimmen, für die Franken durch das ausdrückliche Zeugnis des Venantius Fortunatus noch besonders erhärtet wird.

Fig. 1. Das gemein-germanische Runenalphabet.
Fig. 1. Das gemein-germanische Runenalphabet.

Dieses gemeingermanische Alphabet (Fig. 1) ist bei den Angelsachsen durch Hinzufügen neuer Zeichen (die durch die reichere Entwickelung des Vokalismus notwendig wurde) erweitert, bei den Skandinaviern vereinfacht worden, da in den jüngern Inschriften nur 16 Zeichen (f, u, th, o, r, k, h, n, i, a, s, t, b, l, m, y) verwendet werden, denen man erst ganz spät noch 7 neue Sproßformen (die sogen. punktierten R.) hinzufügte (Fig. 2–4). Eine eigentümliche Abart des kürzern Alphabets sind die sogen. Zweigrunen, eine Art nordischer Geheimschrift. Zuerst sind die R., denen man einen geheimnisvollen Einfluß auf die Personen oder Dinge, die ihre Namen bezeichneten, zuschrieb, nur zur Weissagung (beim Losorakel) und zum Zauber gebraucht worden.

Fig. 2. Angelsächsische Runen (nach der Inschrift des Kreuzes von Ruthwell). Die hier fehlenden Zeichen, durch 0 eingeschlossen, sind aus dem Alphabet des Runenliedes hinzugefügt.
Fig. 2. Angelsächsische Runen (nach der Inschrift des Kreuzes von Ruthwell). Die hier fehlenden Zeichen, durch 0 eingeschlossen, sind aus dem Alphabet des Runenliedes hinzugefügt.
Fig. 3. Das jüngere nordische Runenalphabet.
Fig. 3. Das jüngere nordische Runenalphabet.
Fig. 4. Das jüngste nordische Runenalphabet mit den »punktierten« Runen (nach dem »Codex runicus«).
Fig. 4. Das jüngste nordische Runenalphabet mit den »punktierten« Runen (nach dem »Codex runicus«).

Hieraus erklärt sich auch der Name der N. (rûna, altnord. run. Plural rúnir. bedeutet Geheimnis). Über das Losorakel ist uns im 10. Kapitel der »Germania« des Tacitus ein Zeugnis erhalten. Man st reute mit R. (notis quibusdam) bezeichnete hölzerne Stäbchen auf ein weißes Tuch; darauf würden auf gut Glück drei dieser Stäbchen aufgehoben und gedeutet. Höchstwahrscheinlich geschah diese Deutung in metrischer Form (in alliterierendem Spruch). Die Verwendung der R. zum Zauber ist besonders im Norden bezeugt. Es gab Zauberrunen für bestimmte Zwecke, so Siegrunen, Bierrunen, Bergerunen (zur Geburtshilfe), Seerunen (zum Schutz der Schiffe), Rederunen (um klug zu sprechen), Löserunen (bei Gefangenschaft), R. zum Besprechen (Stumpfmachen) der Schwerter u. dgl. Zu zusammenhängender Schrift sind die R. von den Deutschen des Kontinents nur in geringem Umfange gebraucht worden (die einzigen erhaltenen Runendenkmäler sind Schmuckgegenstände, die durch die R. den Wert von Amuletten erhielten, und Waffen), und auch in England war ihre Verwendung zu diesem Zweck nicht häufig (das umfangreichste Denkmal, die Inschrift auf dem Kreuz von Ruthwell, stammt bereits aus christlicher Zeit). Im skandinavischen Norden, wo die lateinische Schrift erst verhältnismäßig spät bekannt wurde, haben die R. dagegen sehr ausgedehnte Verwendung gefunden, besonders zu Grabinschriften auf Steinen, die nicht selten ganz oder zum Teil in alliterierenden Versen abgefaßt sind (vgl. E. Brate und S. Bugge, Runverser in: »Antiqvar. Tidskr. för Sverige«, Bd. 10). Die Schrift geht entweder von links nach rechts oder umgekehrt, zuweilen auch in beiden Richtungen abwechselnd. Die ältesten Denkmäler (die Zwinge von Thorsbjärg, das Diadem von Straarup u.a.) gehören wahrscheinlich dem 5. Jahrh. an; das berühmte »goldene Horn« von Gallehus bei Tondern, die Steine von Tune, Strand, Varnum, Tanum u.a. stammen aus dem 6. Jahrh. Vgl. Fr. Burg, Die ältern nordischen Runenschriften (Berl. 1885). Die Inschriften im kürzern Alphabet beginnen etwa um 800 (z. B. die Steine von Helnäs und Flemlöse auf Fünen). Ganz sicher datierbar sind jedoch erst die zweifellos jüngern Jällingesteine aus dem 10. Jahrh. Sie sind besonders zahlreich in Schweden und reichen bis in späte Zeit hinab, auf Gotland bis ins 16. Jahrh. Der Gebrauch der R. zu literarischen Zwecken (in Handschriften) ist selten und nur als eine gelehrte Spielerei zu bezeichnen (das umfangreichste Denkmal, der sogen. »Codex runicus« mit dem schon ischen Recht aus dem 14. Jahrh., ist faksimiliert hrsg. von P. G. Thorsen, Kopenh. 1877). Besonders lange wurden R. auf Kalenderstäben gebraucht. – Die ältere Literatur (Worm, Göransson, Brynjolfsson, Liljegren u.a.) hat nur noch historischen Wert. Zur Orientierung empfiehlt sich: v. Liliencron und Müllenhoff, Zur Runenlehre (Halle 1852). Über das Alphabet handelten: Kirchhoff, Das gotische Runenalphabet (2. Aufl., Berl. 1854), und Zacher, Das gotische Alphabet Vulfilas und das Runenalphabet (Leipz. 1855); O. v. Friesen, Om runskriftens härkomft (upsala 1904); S. Bugge (in der Einleitung seiner Ausgabe der norwegischen R.). Unter den neuesten Schriften ist die bedeutendste Ludv. Wimmers Buch »Runeskriftens oprindelse ok udvikling i norden« (Kopenh. 1874; deutsch von Holthausen, Berl. 1887). Die große Sammlung von Stephens: »The old northern runic monuments of Scandinavia and England« (Lond., Kopenh. u. Lund 1866–1901, 4 Bde.), ist wertvoll durch ihre vorzüglichen Abbildungen, dagegen sind die Deutungen der Runeninschriften fast sämtlich verfehlt. Unzulänglich sind auch Dybecks Sammlungen der jüngern schwedischen Inschriften: »Svenska Run-Urkunder« (Stockh. 1855–59) und »Sverikes Run-Urkunder« (das. 1860–76), sowie P. G. Thorsens Werk: »De danske Rune-Mindesmærker« (Kopenh. 1864–81). Auf der Höhe der Wissenschaft stehen dagegen die im Erscheinen begriffenen, groß angelegten »Corpora« der norwegischen, dänischen und schwedischen Runendenkmäler:[265] Sophus Bugge, Norges Indskrifter med de ældre Runer (Bd. 1, Christ. 1891–1903; Bd. 2, 1. Heft und Einleitung, das. 1904–05; »Norges Indskrifter med de yngre Runer 1 [Hönenrunerne]«, das. 1902); Ludv. F. A. Wimmer, De danske Runemindesmærker undersögte og tolkede (1. Halbband: De historiske Rune-Mindesmærker, Kopenh. 1895; Bd. 2–4,1. Abt., 1899–1905); »Sveriges runinskrifter utgifna af Konungl. akademien«, 1. Heft: Ölands runinskrifter (von Sv. Söderberg; Stockh. 1900). Die deutschen Runendenkmäler sind gesammelt von Rud. Henning (Straßb. 1889); vgl. dazu Wimmers Aufsatz: »De tyske Rune-Mindesmæerker« in den »Aarböger for nord. Oldkyndighed og Historie«, 1894. Sonst haben sich um die Runenkunde verdient gemacht: W. Grimm (1821, 1828), Lauth (1857), K. Hofmann (Münch. 1866), Fr. Dietrich, Th. v. Grien berger; im Norden: F. Magnusen, Worsaae, Munch, Rafn, Thomsen, Gislason, Jessen, Torin u.a. Ein Wörterbuch schrieb Dieterich (»Runensprachschatz«, Stockholm u. Leipz. 1844). Vgl. Bugge, Übersicht über die Runenliteratur (in »Verhandlungen der Gelehrten Esthnischen Gesellschaft«, 1875, Bd. 8), und E. Sievers, R. und Runeninschriften, in Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«, Bd. 1, 2. Aufl., S. 248 ff. (Straßb. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 264-266.
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