[454] Runen, 1) (altnord. Runir, Runar, schwed. Runor, d.i. geheimnißvolle Zeichen, Geheimnisse), die Schriftzeichen der alten germanischen Völker, welche ursprünglich mehr nur in irgend einer religiösen Beziehung verwendet wurden, namentlich bei Loosung u. Weissagung, sowie bei Segens- u. Verwünschungsformeln. Zu der bei den Germanen sehr beliebten Loosung u. Weissagung schnitt man Stäbchen aus den Zweigen von fruchttragendem Hartholze, bes. von der Buche, ritzte in jedes Stäbchen eine Rune u. versuchte dann aus dem od. den auf Gerathewohl herausgegriffenen Runenstäbchen eine Deutung zu gewinnen. Unter dem Hersagen von Segens- od. Verwünschungsformeln versah man auch mit R., was man stärken od. schützen wollte, das Schwert, das Schild, den Becher, den Schnabel des Schiffes u. dgl. Als technischer Ausdruck für das Einschneiden od. Einritzen der R. galt das altnordische rista (reißen). Aus der allgemein üblichen Anwendung der Buchenstäbchen entstand der Ausdruck Buchstab in der Bedeutung Lautzeichen, welcher dann auch für die Lautzeichen des aus der Fremde überkommenen lateinischen Alphabetes beibehalten wurde. Es galt für die in zufälliger Folge wieder aufgenommenen Runenstäbchen einen Vers zu finden, in welchem die Runenstäbe als Reimstäbe standen. Aber nicht bloß auf die Form, sondern auch selbst auf den Inhalt des gesuchten Verses konnten die R. einen bestimmenden Einfluß üben, vermöge ihrer Namen, da diese für eine jede Rune ein bestimmtes mit ihrem Laute denselben anhebendes Substantivum darboten. So heißen die R. im Altnordischen u. im Angelsächsischen für f: fê u. fesh; für u, v: ûr; für th: thorn (od. thurs) u. dhorn; für o: ôs; für r: reidh u. râdh; für k, g: kann u. cên; für h: hagal u. hägl; für n: naudh u. nead; für i: îs; für a: âr; für s: sôl u. sigel; für t, d: tyr u. tîr; für [454] b, p: biarkan u. beorc; für l: lögr u. lagh; für m: madhr u. man. Bei den Skandinaviern erweiterte sich durch eine eigenthümliche, in der späteren nordischen Skaldenpoesie bis auf die Spitze getriebene formelhafte Synonymik der Bereich dieser Runennamen ziemlich über den ganzen Kreis der damals vorhandenen Ideen; so geben beispielsweise ôs u. reidh (d.i. Gott u. Wagen) zusammen: Wagen-Gott, d.i. den Gott Thor; dagegen lögr u. reidh zusammen: Meer-Wagen, d.i. Schiff. Ferner konnte jeder einzelne Runenname eine ganze Reihe verwandter Begriffe vertreten; z.B. bedeutete fê nicht blos Vieh, sondern auch Reichthum überhaupt, sowie alle einzelne Dinge, welche zum Reichthum gezählt wurden, Gold, Ringe u. dgl.; biarkan (d.i. Birke) konnte jeden weiblichen Baumnamen vertreten, u. nach einer mysteriösen Symbolik bedeutete wiederum jeder weibliche Baumname in Verbindung mit einem zum Reichthum gerechneten Namen (z.B. Birke des Goldes) so viel als Frau; dagegen jeder männliche Baumname mit einem Synonym von fê so viel als Mann. Gelangte auch erst allmälig die Runendeutung zu dieser Künstlichkeit, so setzt sie doch schon in sehr alter Zeit eine ziemliche Übung in dem Gebrauche der epischen Formeln voraus, so daß die Runendeutung förmlich erlernt werden mußte, daher sie einen förmlichen Gegenstand des Unterrichts für Priester, Weissagefrauen u. Hausväter, welche die Loose warfen, bildete. Die Vorstellung von der Bedeutung u. Macht der R. ging so weit, daß man sie gewissermaßen mit der Idee od. dem eigentlich Lebendigen in den betreffenden Dingen gleichsetzte u. glaubte, man könne auf das innerste Wesen der Dinge selbst einwirken, wenn man auf die R. wirke. Die R. wurden daher nicht nur bei Loosung u. Weissagung, sondern auch den damit in Zusammenhang stehenden Handlungen des Opfers u. des Zaubers unentbehrlich; man betrachtete sie als Schutzmittel gegen allerlei drohende Gefahren u. Übel, sowie als Hülfsmittel um zu allem erhofften od. gewünschten Heil zu gelangen. Die alten Skandinavier unterschieden in letzter Beziehung vielerlei Arten von R., wie Brimrunen (d.i. Seerunen), zur Sicherung der Schiffe; Biargrunen, Hülfsrunen bes. für Gebärende; Limrunen, zur Heilung der Wunden; Mâlrunen etc. Die Wissenschaft von den R. gewann eine bedeutende, an das systematische streifende Ausbildung; doch sind von derselben nur trümmerhafte Andeutungen auf uns gekommen.
Da die lautliche Geltung der R. feststand, konnten dieselben auch von vornherein zur wirklichen Schrift verwendet werden. Der wirkliche Schriftgebrauch der R. muß schon vor dem 4. Jahrh. n. Chr. in Aufnahme gewesen sein. Die älteste Runenreihe (Futhork od. Fudark, nach den 6 ersten Zeichen so genannt), enthielt 15 Zeichen:
Diese Zeichen erfuhren eine zweifache Fortbildung, die eine bei den Normannen in Dänemark, Norwegen u. Schweden, die andere bei den Gothen, Angeln u. Angelsachsen. Die alten Skandinavier fügten zuerst das Zeichen (Namens yr) hinzu, welches zugleich für ein von einem dunkeln Vocallaute begleitetes auslautendes r, so wie für die später entstandenen Vocale galt; dann gaben sie (aber erst im 11. Jahrh.) den Zeichen für k, i, t, b durch einen eingefügten Punkt die abgeleitete Geltung von g, e, d, p (punktirte, gestochene R.) u. nahmen endlich noch einige wenige Zeichen von beschränkter Geltung für untergeordnete Laute (c, x, æ, œ) auf. Viel entwickelter gestaltete sich das Runenalphabet bes. bei den Angelsachsen, indem sie aus den alten Zeichen durch leichte Änderung, Hinweglassung od. Hinzufügung einzelner Striche, neue Zeichen für verwandte Laute bildeten, z.B. aus b ein p, aus u ein v; aus dem ä ein â u. ein ô. In dieser Weise hatten sie bereits in ihrer Heimath vor Eroberung Englands ihr Alphabet auf 24 Zeichen gebracht, so daß sie Buchstaben besaßen für die Laute: f, u, th, o, r, k, g, v, h, n, i, ge (j), co, p, s, t, b, e, m, l, gg (ng, Nasal), d, ê (œ); nach der Eroberung kamen hierzu nun noch als weitere, auf ähnliche Weise formirte, besonders benannte Zeichen, die Vocale â, ä, y u. ea, sowie einige andere Buchstaben untergeordneter Geltung (cv, st u. dgl.). Von den Runenzeichen anderer germanischen Völker ist nichts auf uns gekommen. Im eigentlichen Deutschland waren R. erweislich seit ältester Zeit in Gebrauch, doch wissen wir nichts über ihre Beschaffenheit; denn die sogen. Markomannischen R., welche Rhabanus Maurus im 9. Jahrh. zuerst erwähnt, sind wahrscheinlich eine erst in jener Zeit auf gelehrtem Wege entstandene u. folglich gar nicht für den praktischen Gebrauch bestimmte Umsetzung angelsächsischer R. Mit Einführung des Christenthums geriethen die R. in den Hintergrund, wurden jedoch nicht allerwärts auf gleiche Weise verdrängt. Die Gothen erhielten im 4. Jahrh. durch Ulfilas ein ganz neues Alphabet, indem er ein Runenalphabet von 25 Zeichen mit dem griechischen Alphabet in der Art vermittelte, daß er die Gestalt der beiderseitigen Buchstaben, wo es irgend anging, verschmolz, u. wo dieses unthunlich war, bald das griechische, bald das runische Zeichen eintreten ließ. Vgl. Kirchboff, Das gothische Runenalphabet, Berl. 1851, 2. Aufl. 1854; Zacher, Das gothische Alphabet Vulfilas u. das Runenalphabet, Lpz. 1855. Bei den westlichen u. nördlichen Germanen, deren Bekehrung von Rom aus erfolgte, trat in Folge dessen auch das lateinische Alphabet unmittelbar an die Stelle des runischen; bei den Angelsachsen u. Skandinaviern wurden nur einzelne Runenzeichen für Laute, welche im lateinischen Alphabete nicht vertreten waren (z.B. O), beibehalten.
Obgleich seit dem Bekanntwerden der lateinischen Schrift bei den germanischen Völkern gewiß auch noch die R. als Buchstabenschrift zur Anwendung kamen, so geschah dieses doch nie u. nirgends in ausgedehnterer Weise. Außer ihrer Einritzung auf Waffen, Trinkhörner, Ringe u. dgl., wobei sie ihre alte religiöse Geltung behielten, bediente man sich ihrer meist nur zu kürzeren Inschriften auf Holz u. Metall, sowie auf Stein (häufiger jedoch erst seit dem 9. Jahrh.); geschrieben aber mit Tinte u. Feder[455] auf Pergament od. gar zum Niederschreiben von Büchern wurden sie nur sehr selten benutzt. Für Inschriften erhielten sie sich z.B. auf Denk- u. Grabsteinen (Runensteine), auf Glocken, Taufsteinen etc. noch Jahrhunderte lang in Gebrauch; die Zahl der Denkmäler dieser Art, welche man aufgefunden hat, beträgt weit über 3000, von denen die meisten auf Skandinavien, bes. auf Schweden kommen, gesammelt von Liljegren, Run-Urkunder, Stockh. 1833. Dieselben ergeben bis jetzt drei Hauptarten des Runenalphabetes, welche jedoch unter sich wiederum sehr nahe verwandt sind. Die älteste Form ist A) die anglische od. altangelsächsische; Hauptdenkmale für dieselbe bleiben der goldene Bracteat im Museum zu Stockholm, mit einem vollständigen Alphabete von 24 Buchstaben; die Inschrift auf dem Tondernschen Horn (s.d.) u. die Inschrift eines in Bukarest gefundenen Ringes, welche wenigstens Dietrich (De inscriptionibus duabus runicis ad Gothorum gentem relatis, Marb. 1861) zu den Angelschen R. rechnet. B) Das altnordische Runenalphabet, durch zahllose Inschriften auf Holzstäben (Kalender, Briefe u. dgl.) u. Steinen belegt. Eine vollständige Sammlung der schwedischen Denkmäler hat Dybeck in Svenska Run-Urkunder (Stockh. 1855 ff.) begonnen. C) Die eigentlich angelsächsischen R. Obgleich die alten Franken auch R. gehabt haben (Venantius Fortunatus im 6. Jahrh. erwähnt ausdrücklich eine hölzerne Runentafel), so ist doch kein sicheres Denkmal vorhanden, denn die 1854 von Lenormant publicirten, angeblich auf einem Kirchhofe (der Kapelle des St. Eligius im französischen Departement Eure, Bezirk Bernay, Canton Beaumont-le-Roger) mitten unter lateinischen aufgefundenen runischen Inschriften des 6. Jahrh. beruhen auf einer Mystification. Die Sammlung u. Erklärung der Runendenkmäler erfolgte zuerst in Dänemark u. Schweden, so von Magnus Celsius, Specimen lexici runici, Kopenh. 1650, Fol.; Olaf Worm, Literatura runica, ebd. 1661, Fol.; Warel, Runographia, Ups. 1676; J. Erichsen, Bibliotheca runica, Greifsw. 1766; Ihre, De runarum patria, origine et occasu, Ups. 1770; Brynjulfsen, Periculum runologicum, Kopenh. 1823; Liljegren, Runlära, Stockh. 1832. Das wissenschaftliche Verständniß der Runenschrift beginnt mit W. Grimm, Über deutsche R., Gött. 1821, u. Zur Literatur der R., Wien 1828; seitdem wurde die Runenlehre gefördert durch verschiedene Arbeiten des Isländers Finn Magnusen, des Engländers Kemble, des Dänen Worsaae, der Skandinavier Bredsdorff, Munch (Kortfattet fremstilling af den seldste Nordiske Runeskrift, Christ. 1848) u. Rafn, bes. durch R. von Liliencron u. Müllenhoff, Zur Runenlehre, Halle 1852; J. Lauth, Das Germanische Runenfudark, 1857. 2) (Runot), die epischen Volkslieder der Finnen, s. Finnische Sprache u. Literatur.
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