[409] Mäßigkeits- und Abstinenzbestrebungen. Von jeher riefen zwei Übel, die dem Genusse geistiger Getränke anhaften, Gegenwirkungen hervor. Erstens die Unmäßigkeit und ihre Folgen: unsinnige oder verderbliche Rauschhandlungen, Einbuße an Vermögen, Gesundheit und Sittlichkeit, allmähliche Verrohung und schließlich Entartung der Nachkommenschaft. Das zweite, geringere, doch ärgerlich empfundene Übel ist der Zwang, den die Trinklustigen, sein oder grob, andern, die mäßig oder enthaltsam sein möchten, auszulegen lieben. Schon für das ganze Mittelalter wird uns eine Auflehnung der Mäßigen gegen diese beiden Übel bezeugt, also gegen die Trunkenheit oder Völlerei einerseits, gegen das Zutrinken und Rundentrinken anderseits. Man suchte durch gesetzliche Anordnungen und durch geistliche Ermahnungen Abhilfe zu schaffen. Die religiöse Warnung vertrat damals die Stelle der heutigen wissenschaftlichen Aufklärung; daß der Saufteufel die Seele gefährdet, daß die Völlerei wider Gottes Wort ist, daß Säufer nicht das Reich Gottes ererben, wird von den Predigern immer wieder ausgeführt. Ebenso wird betont, daß der Geistliche, der Richter und jeder andre zum Vorbild Berufene nicht durch Beteiligung an den Trinksitten (Zutrinken, Bescheid tun, Halbe und Ganze saufen) den schwachen Nächsten in Versuchung führen dürfe. Schon Karl d. Gr. untersagte den Mönchen und Predigern das Betreten der Schenken, bestrafte trunkene Soldaten, verbot auch gewisse Brüderschaften, die das Trinken zum statutarischen Zwange machten, und verpflichtete die Grafen, nur in nüchternem Zustande zu Gericht zu sitzen. Im Mittelalter konnte übrigens der Alkoholismus noch nicht zu einer Volkskrankheit werden, denn der Weinvorrat war beschränkt, haltbares Bier selten und nicht vielen zugängig, Branntwein als Getränk fast unbekannt. Im 16. Jahrh. jedoch erreichte die Unmäßigkeit in Deutschland den höchsten Grad, besonders war sie damals auch unter Fürsten, Rittern und Geistlichen so häufig, wie nie zuvor oder später. Sie rief eine Art Mäßigkeitsbewegung hervor, deren Gedankenwelt wir aus den Schriften von Sebastian Franck und Matthäus Friderich, auch aus gedruckten Predigten und aus den Satzungen der ersten wenigen Mäßigkeitsvereine, die seit 1439 unter Fürsten und Herren entstanden, kennen lernen. In den letztern gestattete man den Mitgliedern noch erhebliche Mengen täglichen Getränks, aber es ist von Bedeutung, wenn z. B. der Orden Temperentiae seinen Mitgliedern verbot, »einigen menschen, viel weniger seinen mitordensverwandten Bescheid zu thun zwingen, dringen oder auf andere weiß nötigen. Vielweniger (soll) eintziger Ordensverwandter über seinen guten Willen Bescheid thun, vielmehr aber sollen die Ordensverwandten ihre mitordensverwandte, so zu trunck genötiget werden möchten, zu vertheidigen schuldig sein.« Auch kaiserliche Befehle (»Reichsabschiede«) wurden von 14951577 gegen das Zutrinken wiederholt erlassen, fruchteten aber nichts.
Nach dem Dreißigjährigen Kriege herrschte größere Mäßigkeit; ihre wichtigste Ursache war die Verarmung des Reiches, der geringere Verkehr und die starke Verminderung der Volkszahl; wichtig waren auch der Niedergang der vorher hochstehenden norddeutschen Brauerei und das Aufkommen der neuen Getränke Kaffee, Schokolade, Tee und der ersten Kaffeehäuser. Gegen das Ende des 18. Jahrh. spüren wir auch den Einfluß einer höhern Kultur. Aber nach den Befreiungskriegen entstand unter den Landleuten und ärmern Stadtbewohnern neues Unheil durch die ungeheure Ausbreitung und Verbilligung des Branntweins; die »Branntweinpest« rief etwa zwischen 1825 und 1850 großes Elend hervor. Die Reaktion war gleichfalls kräftig. Den ersten deutschen Enthaltsamkeitsverein gegen den Branntwein gründete 1831 Herzog Johann von Sachsen, der nachmalige König, aber erst nach 1836 kam es zu einer wirklichen Volksbewegung; ihre Erfolge waren eine Zeitlang wunderbare. 1841 kannte man 302 Vereine mit 20,000 Mitgliedern, aber außerdem gelobten damals Hunderttausende die Enthaltsamkeit vom Branntwein. Rasch entstand auch eine reiche Mäßigkeitsliteratur; ihr erstes Buch war die auf Befehl des Königs von Preußen übersetzte und verteilte Geschichte der amerikanischen Mäßigkeitsgesellschaften von Baird. Führer der Bewegung waren der evangelische Pastor Böttcher in Imsen bei Alfeld, der Kaplan Seling in Osnabrück, Freiherr v. Seld in Berlin und Bürgermeister Stüve in Osnabrück. Um 1848 fiel die Bewegung rasch in sich zusammen, teils weil sie für politisch- und kirchlichreaktionär galt, teils weil allzu viele zum Gelübde zugelassen waren und die Rückfälle der Schwachen von[409] den Gegnern ausgebeutet wurden, teils weil stärkere Biere aufkamen, teils aus andern Gründen.
Erst von 1883 an haben wir in Deutschland wieder eine träftige Vereinigung der Mäßigkeitsfreunde in den Vereinen gegen den Mißbrauch geistiger Getränke; ihre Begründer waren besonders die Volkswirte Lammers, Böhmert und Schmoller, die Ärzte Bär und Nasse, die Bürgermeister Miquel und Struckmann, die Geistlichen Martius und Hirsch. Das Werk Bärs über den Alkoholismus war der Anfang einer modern-wissenschaftlichen Behandlung der Alkoholfrage, Hirsch war Vorsteher der 1851 in Lintorf begründeten ersten Trinkerheilanstalt der Welt. 1904 gab es in Deutschland 86 Vereine gegen den Mißbrauch geistiger Getränke mit 17,000 Mitgliedern; ihre Zentralstelle ist in Berlin W 15. Ähnlich wirkt in Österreich der von M. v. Proskowetz begründete Verein gegen Trunksucht (Wien).
Seit 1887 besteht im Deutschen Reich auch eine Bewegung gegen allen Genuß geistiger Getränke; anfänglich sehr schwach, hat sie sich etwa seit 1895 in überraschender Weise ausgedehnt. Die Totalabstinenten zerfallen in zwei große Gruppen; die einen, zumeist von der biblischen Tradition gebunden, stellen den Verzicht auf alle geistigen Getränke nicht als jedermanns Pflicht hin, sondern nur als Mittel, Trunksüchtige zu bewahren oder zu retten; die andern halten dagegen alles Trinken der alkoholischen Flüssigkeiten für fehlerhaft. Wo sie zugestehen, daß ein wirklich mäßiger Genuß von Bier und Wein keinen erkennbaren Schaden bringt, bekämpfen sie ihn dennoch, weil nur durch die völlige Beseitigung dieser Getränke ihrem unmäßigen Gebrauch vorgebeugt werden könne. Andre schätzen die völlige Enthaltung wenigstens als beständige, auffällige Durchbrechung des sozialen Trinkzwangs. Die prinzipielle Ablehnung allen Alkoholgenusses vertreten bei uns der Gut-Templer-Orden, der Alkoholgegnerbund, der Amethystenbund, der Rechabiten-Orden, die Vereine abstinenter Arbeiter, Ärzte, Lehrer, Pastoren, Eisenbahner, Kaufleute, Schüler, Studenten und Frauen sowie der Allgemeine deutsche Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus (Hamburg 19). Bloßer Trinkerbewahrungsverein ist dagegen das Blaue Kreuz (s. d.), 1877 von Rochat in Genf gegründet, in der deutschen Schweiz durch Bovet, im Reiche durch C. v. Knobelsdorff, G. Fischer und Klar ausgebreitet. Anfang 1905 zählte in Deutschland der Bund evangelisch-kirchlicher Blaukreuzvereine (Vorsitzender Superintendent Klar in Belgard) 4000 Mitglieder in 95 Vereinen, der »nebenkirchliche« Deutsche Bund des Blauen Kreuzes (Vorsitzender Pastor Fischer, Essen) 16,984 Mitglieder in 365 Vereinen; außerdem besteht ein methodistischer »Freier Bund vom Blauen Kreuz« (Vorsitzender Professor Bücher, Frankfurt a. M.).
Ähnliche katholische Vereine sind durch die Geistlichen Neumann (Mündt-Titz) und Werthmann (Freiburg i. Br.) und durch den Bischof Egger von St. Gallen ins Leben gerufen.
Der Gut-Templer-Orden (s. d.), 1852 im Staate New York entstanden und jetzt über die ganze Erde verbreitet, hat seine großen Erfolge vor allem dadurch, daß er seinen Angehörigen einen reichen Ersatz für die frühere Geselligkeit des Trinkerlebens und auch wirtschaftliche Vorteile bietet. Der Alkoholgegnerbund betreibt dagegen nur geistigen Kampf gegen die Trinksitten, er ist 1889 von Bode begründet, durch Vereinigung mit einem schweizerischen Verein sehr gestärkt; seine Führer waren Bunge, Forel, Plötz, Blocher, Strecker, Eggers, Delbrück; seine literarischen Leistungen sind erheblich, er zählte jedoch 1904 erst 2500 Mitglieder, davon 800 in Deutschland. Der Amethystenbund, 1903 von Fiebig begründet, ist dem Gut-Templer-Orden ähnlich, aber minder radikal. Auch besteht ein Freier Gut-Templer-Orden. Der Verein abstinenter Ärzte, 1896 gegründet, zählt 248 Mitglieder, Führer: Kräpelin, Möbius, Fick, Forel, Bunge. Der Verein abstinenter Lehrer (1896 gegründet; Hähnel, Petersen) zählt 500 Mitglieder, der Verein abstinenter Pastoren (Rolffs) 87, der Verein abstinenter Eisenbahner (de Terra) 500, der Verein abstinenter Kaufleute (Warming) 450, der Verein abstinenter Frauen (Ottilie Hoffmann) 400, der Verein abstinenter Studenten 126, der Abstinentenbund an deutschen Schulen 293, darunter 52 weibliche; der sozialdemokratische Arbeiterabstinentenbund (Katzenstein, Berg, Miethke) hatte 1905: 1135 männliche und 166 weibliche Mitglieder. Im ganzen berechnete man für 1905 im Deutschen Reich rund 60,000 organisierte Abstinente (ohne die Kinder). In Österreich ist seit 1900 etwa die Abstinenzbewegung rasch erstarkt, die Ärzte Fröhlich, Kassowitz, Wiassack, Weichselbaum, Rösler sind ihre Führer; die sozialdemokratische Partei ist hier stärker beeinflußt als im Reiche: organisierte Abstinente in Österreich 1700, in Ungarn 550. In der Schweiz ist die Sache seit 1877 durch das Blaue Kreuz (Rochat, Bovet) u. seit 1888 durch den Alkoholgegnerbund eingeführt, Gut-Templer-Orden, katholische Vereine und Berufsvereine folgten. Als Führer wirkten die Professoren Bunge, Forel, Gaule, Hilty Harcod, die Brüder Blocher, die Sozialdemokraten Lange und Gschwind, Bischof Egger. Organisierte Abstinente 1904: 34,000.
Die Bestrebungen aller dieser Vereine richten sich auf Änderung der Anschauungen, Sitten, Einrichtungen und Gesetze. Da sie mit den verschiedensten Berufen und Lebenslagen zu tun haben, ist die Betätigung sehr mannigfaltig. Über das Thema »Mäßigkeit oder Enthaltung?« ist viel Streit, doch verlangen auch die Gemäßigten völlige Enthaltung bei Trunksüchtigen, zur Trunksucht Veranlagten, Kindern, Jugendlichen und bei Beamten und Arbeitern, solange sie gefährliche Arbeiten verrichten, z. B. bei Eisenbahnern und Automobillenkern. Alle kämpfen gegen den Trinkzwang an, wie ihn der Komment in studentischen Verbindungen, die Sitte im Offizierkorps etc. und die wirtschaftliche Grundlage unsrer Gasthäuser mit sich bringt. Sie wünschen eine gesetzliche Verminderung der Wirtshäuser oder ein Verfügungsrecht der Gemeinden, z. T. auch Stimmrecht der Bürger über die Zahl und Art der Schankstätten. Sie errichten oder begünstigen alkoholfreie Gaststuben oder Speisehäuser ohne Trinkzwang und mancherlei Schutzeinrichtungen für Arbeiter; sie begünstigen die alkoholfreien Getränke und bekämpfen den Verzehrungszwang in Gasthäusern, indem sie dem Wirt als Entschädigung ein Platz- oder Stundengeld anbieten. Seit 1902 arbeiten sie durch den Verein für Gasthausreform (Weimar; v. Diergardt, Bode, Eggers, Germershausen) auf die Überführung von Gasthäusern in gemeinnützigen Besitz hin. Ihre wichtigste Arbeit geschieht durch gelehrte oder populäre Schriften und Vorträge; ihre Literatur hat seit 1895 einen großen Umfang angenommen; genannt seien hier die größern Handbücher der Alkoholfrage von Delbrück, Hoppe, Helenius, Grotjahn, Martius. Auch auf die Jugend sucht man kräftig einzuwirken, in den Schulen[410] und außerhalb; Guttempler und Blaukreuzler haben besondere Jugendvereine.
Die Erfolge dieser Bestrebungen sind statistisch nicht faßbar, da der Verbrauch von Bier, Wein und Schnaps von vielen andern Umständen zugleich abhängt. Der Schnapsgenuß hat in Deutschland abgenommen, der Bier- und Weinumsatz zugenommen, doch trinkt man jetzt leichteres Bier als früher. Die Neigung zur Unmäßigkeit im Trinken hat im deutschen Volke seit 1880 entschieden abgenommen. Ebenso ist der Trinkzwang erheblich leichter als früher. Neue alkoholfreie Getränke sind in die Wirtshäuser und in die häusliche Geselligkeit eingeführt. Die Kinder werden vor dem Alkohol besser behütet, die frühern »Säufer« werden jetzt als Trunksüchtige vernünftiger und freundlicher behandelt; viele von ihnen werden in Enthaltsamkeitsvereinen oder in den zahlreich entstandenen Trinkerheilanstalten oder durch die Propaganda der Abstinenzidee auf die Dauer oder doch wenigstens zeitweilig von ihrem zerstörenden Übel befreit. Die durch das Bürgerliche Gesetzbuch (§ 6, Abs. 3; 114; 2229) gegebene Möglichkeit, Trunksüchtige zu entmündigen, rechnet die Mäßigkeitspartei gleichfalls zu ihren Erfolgen.
In einigen andern Ländern, besonders in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Schweden, Norwegen, Holland und der Schweiz, ist die Bewegung stärker als in Deutschland, schwach ist sie unter romanischen und katholischen Bevölkerungen. Man kann sagen, daß sie auf germanischem und protestantischem Boden am besten gedeiht, besonders auf solchem, wo durch Freikirchen und Sekten vorgearbeitet ist; calvinistischer Untergrund ist günstiger als lutherischer; Küstenland günstiger als Binnenland. Anfangs richtete sich die Bewegung überall nur gegen den Branntwein als das neuere und giftigste Getränk; wo man seine völlige Abschaffung forderte, erlaubte man oder pries man geradezu den mäßigen Genuß von Bier und Wein. Das änderte sich, als schwerere Biere sehr in Aufnahme kamen und die Erkenntnis durchdrang, daß Bier und Wein den gleichen Alkohol enthalten wie die gebrannten Getränke und gleichfalls viel Schaden stiften. In Großbritannien begann die neue Bewegung, die völlige Verwerfung aller berauschenden Getränke forderte, 1832 mit dem Enthaltsamkeitsverein der »sieben Männer von Preston«; sie gewann hier und in Amerika, auch in allen englischen Kolonien, rasch die Oberhand über die gemäßigte Richtung. Es entstanden Vereine nach den verschiedenen Provinzen, Konfessionen und Berufen, auch »Orden« wie Rechabiten, Söhne des Phönix und Guttempler, Vereine für Frauen, für Kinder etc. Zeitweilig wirkten »Enthaltsamkeitsapostel«, wie Pater Matthew in Irland und der ehemalige Trinker Gough; sie bewogen viele Tausende zur Unterzeichnung des »pledge«, des Enthaltsamkeitsgelübdes. Man schätzt jetzt die Zahl der Abstinenten in Großbritannien auf 4 Mill. Die politische Forderung dieser Abstinenten richtet sich auf eine völlige Abschaffung des Handels mit geistigen Getränken; in Großbritannien gehen sie mit der liberalen Partei, in den Vereinigten Staaten mit der republikanischen zusammen. Entweder suchen sie in ganzen Staaten das Verbot durchzusetzen (Prohibition) oder den Gemeinden und Kreisen das Recht zu diesem Verbot zu verschaffen (Local Veto). Die Prohibition wurde zuerst 1851 im Staat Maine eingeführt, wo sie jetzt noch besteht; andre Staaten folgten; Ende 1900 hatten noch 5 Staaten die Prohibition, 10 andre hatten sie bereits wieder aufgegeben. Wirklich durchgeführt wurde und wird sie in volkreichen Gegenden nirgends. Besser bewährt hat sich die lokale Option; sie kommt seit 1834 in den Vereinigten Staaten und seit 1864 in Kanada vor. Sie bedeutet eine Lokalisierung der Kneipen und ihre Entfernung aus bessern Vorstädten und Landbezirken. So hält sich z. B. das durch seine Harvard-Universität bekannte Cambridge kneipenrein, die Trinklustigen suchen ihre Stätten im benachbarten Boston. In Großbritannien gibt es auch größere kneipenfreie Ortschaften, weil der Herr des Bodens sie leicht ausschließen kann (die Arbeiterstädte Saltaire und Beßbrook, kleine Stadtteile in Liverpool und London).
Diese Vorgänge in England und Amerika wirkten besonders auf die skandinavischen Länder, auf Holland, Belgien, die Schweiz und Deutschland. Es entstanden zunächst ähnliche Enthaltsamkeitsvereine, in den Demokratien gelangte man auch rasch zu der Forderung, daß die Bürger selber durch Abstimmung über Zulassung oder Verbot oder Art des Handels mit geistigen Getränken beschließen sollen; in den norwegischen Städten entscheiden seit 1894 Abstimmungen aller erwachsenen Männer und Frauen. In Norwegen wuchs die Zahl der organisierten Abstinenten auf 140,000, in Schweden auf 350,000.
Nebenher läuft eine Bewegung für das Gotenburger System. Dies besteht darin, daß aller Kleinverkauf von gebrannten oder von allen geistigen Getränken den Gewinn erstrebenden Geschäftsleuten entzogen und an gemeinnützige Gesellschaften übertragen wird, die als Vertreter des Volkswohls die mindestschädliche Abgabe dieser Getränke einrichten; ihre Aktionäre erhalten nur die landesüblichen Zinsen, ihre Wirte nur festes Gehalt; der erzielte Überschuß fließt gemeinnützigen Aufgaben zu, besonders auch der Bekämpfung des Alkoholismus. In Schweden, Norwegen und Finnland bezieht sich das System nur auf den Branntwein, es ist dort aber auch völlig zur Herrschaft gelangt, soweit überhaupt Branntweinverkauf gestattet ist; es begann 1865 in Gotenburg; in Norwegen wurde es 1871 eingeführt. In Großbritannien wurde es durch den Bischof von Chester und Earl Grey seit 1896 eingeführt; ihre »Vertrauensgesellschaften« verwalteten 1904: 170 Gasthäuser. In Deutschland vertritt der Verein für Gasthausreform diesen Gasthaus-Sozialismus; er verfügt jedoch erst über zwei eigne und zwei gepachtete Gasthäuser.
In Rußland hat Witte das staatliche Branntweinmonopol geschaffen, über Tendenz und Erfolg gehen die Urteile auseinander, ein Teil des Gewinns wird für direkte und indirekte Bekämpfung des Alkoholismus verwandt. Dies letztere gilt auch für das schweizerische Alkoholmonopol, das im übrigen nur eine Besteuerungsform ist und den Kleinverkauf in Privathänden beläßt. In den meisten Kulturstaaten, so in Deutschland, Österreich-Ungarn, Holland, Belgien, der Schweiz und am energischsten in England, bemühten sich die Gesetzgeber und Verwaltungsbehörden bisher namentlich um eine Verminderung der Wirtshäuser und Branntweinläden; in letzter Zeit erkennt man aber die Gefahr, die in der daraus folgenden Verteurung dieser Häuser liegt. Andre Maßregeln der Mäßigkeitspartei sind Polizeistunde, früher Schenkenschluß an Lohntagen in Bergwerksbezirken, Verbot des Branntweinverkaufs vor 8 Uhr früh, Schenkenverbot für Trunksüchtige und Jugendliche, Verbot des Anschreibens geistiger Getränke.
Die Einrichtung von Kaffeehallen und andern alkoholfreien Gaststuben betrachteten die Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsfreunde stets als eine ihrer wichtigsten [411] Aufgaben. Meistens war ihr Erfolg gering, weil Unkundige mit zu geringen Mitteln anfingen; Großes leisteten dagegen Gesellschaften in Liverpool, Birmingham, Bradford, London und andern englischen Städten, weil sie nach kaufmännischen Grundsätzen arbeiten. Auf dem Festland sind das beste Unternehmen dieser Art die Speisehäuser und das Kurhaus des Frauenvereins für Mäßigkeit und Volkswohl in Zürich; erfolgreich waren auch Kaffeehallen in Stuttgart, Heilbronn, M.-Gladbach etc. Bewährt haben sich in Dresden, Frankfurt, Hamburg und Berlin auch die Volksheime und Speisehäuser solcher Vereine, die leichtes Bier nicht ganz ausschließen.
Die Literatur der Alkoholfrage ist in einer besondern Bibliographie von E. Abderhalden (Wien 1904) zusammengestellt. Die vollständigste Übersicht geben die Berichte der internationalen Kongresse gegen den Alkoholismus (Paris 1878, Brüssel 1880, Antwerpen 1885, Zürich 1887, Christiania 1890, Haag 1893, Basel 1895, Brüssel 1897, Paris 1899, Wien 1901, Bremen 1903, Budapest 1905); die Zeitschriften: »Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten« (Basel), »Mäßigkeitsblätter« (Berl.), »Alkoholismus« (Dresd.), »Alkoholfrage« (Berl.), »Gasthaus-Reform« (Weim.). Von ausländischen Werken sind am wichtigsten die unten genannten Werke von Kerr und Rowntree und Sherwell. Vgl. Baer, Der Alkoholismus (Berl. 1878) und Die Trunksucht und ihre Abwehr (Wien 1890); Bunge, Die Alkoholfrage (Leipz. 1887); Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol (2. Aufl., Berl. 1901); Bode, Kurze Geschichte der Trinksitten und Mäßigkeitsbestrebungen in Deutschland (Weim. 1896), Wirtshaus-Reform in England, Norwegen und Schweden (Berl. 1898) und Studien zur Alkoholfrage (Weim. 1901 f., 5 Hefte); Grotjahn, Der Alkoholismus (Leipz. 1898); Delbrück, Hygiene des Alkoholismus (Jena 1901); Martius, Die ältere deutsche Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung, 18381848 (Dresd. 1901); Stubbe, Der deutsche Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke (Halle 1903); Germershausen, Zur Reform des Schankkonzessionswesens (Berl. 1903); Bergmann, Geschichte der Anti-Alkoholbestrebungen (a. d. Schwed. von Kraut, Hamb. 1903); Helenius, Die Alkoholfrage (Jena 1903); Burns, Temperance history (Lond. 188991, 4 Tle.); Fanshawe, Liquor legislation in the United States and Canada (das. 1893); Wines und Koren, The Liquor problem in its legislative aspects (Boston 1897); Kerr, Inebriety, its etiology, pathology, treatment and jurisprudence (Lond. 1897); Wright, Economic aspects of the liquor problem (Washingt. 1898); Rowntree und Sherwell, The Temperance problem and social reform (9. Aufl., Lond. 1901); Skarzinski, L'alcool etc., son histoireen Russie (Par. 1902); Wooley u. Johnson, Temperance progress of the century (Lond. 1905).
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