[260] Gesangbuch, Sammlung religiöser Lieder, behufs des Gesanges bei dem Gottesdienste. In der älteren Christlichen Kirche bediente man sich zu diesem Zweck der alttestamentlichen Psalmen; mit der Erhebung des Christenthums zur Staatsreligion fand auch der öffentliche u. liturgische Kirchengesang viel Theilnehmer, u. die Lieder, die im 4. Jahrh. in der Syrischen Kirche Ephräm der Syrer, in der Griechischen Chrysostomos u. in der Abendländischen Ambrosius (Letzter schon mit einem bestimmten Strophenbau u. mit einem regelmäßigen Wechsel der Versfüße) dichteten, wurden in der ganzen Christlichen Kirche angenommen. Durch den Gebrauch der Römischen Sprache bei dem Gottesdienst u. bei der Liturgie trat das lateinische Kirchenlied im Mittelalter in den Vordergrund, u. erst im 15. Jahrh., wo die Hussiten auf den Gebrauch der Muttersprache drangen, gelangten allmälig auch deutsche Kirchenlieder zu ihrem Rechte, theils dadurch, daß man die lateinischen übersetzte od. überarbeitete od. Mischlieder, halb deutsch u. halb lateinisch, dichtete, z.B. In dulci jubilo, Nun singet u. seid froh etc.; theils durch wirkliche deutsche Originallieder, bes. für Festzeiten, u. durch Veränderung eigentlicher Weltlieder in kirchliche Gesänge. Der eigentliche Stifter des deutschen Kirchenliedes war Luther. Die Kirchensprache, die er durch seine Bibelübersetzung geschaffen hatte, ging auch in die Kirchenlieder über; in der lutherischen Hauptsammlung: Geystliche Lieder, Lpz. 1545, waren unter 129 Liedern 37 von ihm selbst, theils Originale, theils Umarbeitungen, u. der Beifall, wie die Verbreitung, die sie fanden, war so groß, daß man bereits 1571 187 Gesangbücher aufzählte, worunter drei Sammlungen der böhmischen Hussitenlieder waren. Während in der Reformirten Kirche, bei der geringen Zuneigung derselben zu einem gehobenen Cultus u. bei der Liebe zu den Psalmen, das Kirchenlied weniger Gedeihen fand u. in der Katholischen Kirche aus dogmatischen Rücksichten fast gar nicht gepflegt wurde, war es vorzugsweise die Lutherische Kirche, in der es sich bis zur höchsten Blüthe entfaltete, u. nicht blos Luther u. seine Mitreformatoren Melanchthon, Jonas, Eber u.a., sondern auch seine Anhänger Sprengler, Hans Sachs, Speratus, Gromann widmeten sich der religiösen Poesie. Wie schon die Lieder der Reformatoren einen objectiven Charakter gehabt hatten, so konnten sich dieselben auch später dem Einfluß der verschiedenen theologischen Richtungen nicht entziehen, u. die trockene Streittheologie des 16. Jahrh., der todte Buchstabenglaube des 17. Jahrh., der Spenersche Pietismus, der Mysticismus, die Sentimentalität der Nürnberger Schule, der Herrnhutianismus, die Aufklärungsperiode nach dem Siebenjährigen Kriege u. das Wiedererwachen des religiösen u. kirchlichen Bewußtseins nach den Freiheitskriegen u. nach dem Reformationsjubiläum 1817 spiegeln sich auch treu in den Gesangbuchsliedern ab, indem jede dieser Richtungen von mehreren religiösen Dichtern vertreten wird. Dieser Umstand bat dazu mitgewirkt, daß sich im protestantischen Deutschland ein Reichthum von Kirchenliedern, wie nirgends, findet, jedoch hat an diesem Reichthum theils die deutsche Nationalität, welche den Gesang liebt, theils die politische Getheiltheit ihren Antheil, indem von der Reformation an die einzelnen Provinzen u. Reichsstädte eigene Gesangbücher hatten, in die außer den gesammelten älteren Liedern auch Originalpoesien der dort lebenden Dichter aufgenommen wurden. Was die Gesangbuchsreform anlangt, so ist der Wunsch danach seit mehreren Jahrzehnten u. bes. seit 1817 laut geworden u. hat sich in verschiedenen Bestrebungen kund gethan. Zunächst[260] trug man dafür Sorge, daß aus dem reichen Liederschatze von 80,000 Gesängen nichts Wichtiges verloren gehe; unter den reichhaltigen Sammlungen, welche für diesen Zweck veranstaltet wurden u. durch welche eine große Anzahl ganz unbekannt gewordener Lieder zu Tage kam, sind die von Bunsen, Stier, Knapp, Lange, Wackernagel, Daniel, ferner der Berliner Liederschatz u.a. am bemerkenswerthesten. Sodann sind in den letzten 50 Jahren in fast allen deutschen Landeskirchen neue Gesangbücher eingeführt worden, wobei die obigen Sammlungen als brauchbar schienen, u. es ist neuerlich daran festgehalten worden, daß bei der Anordnung der Gesangbücher das kirchliche u. gottesdienstliche Princip maßgebend sein muß u. daß am passendsten das Kirchenjahr zu Grunde gelegt wird. Ferner ist der Begriff des Kirchenliedes etwas genauer fixirt u. demnach die Forderungen gestellt worden, daß ein Kirchenlied dem Inhalte nach durchaus schriftgemäß u. in Übereinstimmung mit den öffentlichen Bekenntnissen der Evangelischen Kirche ist; daß es der Form nach die Sprache der Bibel u. der Kirche redet u. Popularität, Würde u. körnichte Kürze verbindet; daß es endlich dem Versmaße nach singbar sich darstellt, entweder nach einer bereits eingeführten, od. nach einer eigenen Melodie (Anforderungen, bei denen allerdings eine nicht geringe Anzahl älterer u. neuerer Lieder als kirchlich unbrauchbar erschienen). Der wichtigste Gegenstand der Gesangbuchsreform war aber die Veränderung der Lieder, u. hier gingen die Ansichten in so weit auseinander, als die Einen, z.B. Bunsen, von Raumer, Rudelbach, Stip u.a., entweder gar keine od. nur ganz geringe Veränderungen gestatten u. die bereits vorgenommenen wieder entfernen wollten; während Andere, wie Stier, Knapp, Grüneisen, Daniel, Kraz, Lange, Weis, eine freiere Behandlung nach Form u. Inhalt als ein Bedürfniß der Zeit bezeichneten. Während demgemäß in den Sammlungen, die von dem historisch-antiquarischen od. literarisch-historischen Standpunkt bearbeitet sind, die festgestellten Originaltexte beibehalten sind, sind theils durch Umarbeitungen, theils durch Abkürzungen einzelner oft 50, 100 u. 200 Verse enthaltender Lieder, theils durch Ausfüllung wirklicher Lücken, theils durch Veränderung einzelner Strophen eine große Anzahl älterer Kirchenlieder für den kirchlichen Gebrauch eingerichtet. In diesen verschiedenen Ansichten über das Modernisirungsprincip lag hauptsächlich der Grund, daß in den letzten Jahrzehnten über die Gesangbuchsangelegenheit viele Streitigkeiten entstanden, u. daß bei Einführung neuer Gesangbücher z.B. in Lübeck, Schlesien, Württemberg, Baiern, Hannover u. anderwärts, entweder für den allgemeinen od. nur für den Schulgebrauch, Differenzen hervorgerufen wurden. Um diesen Streitigkeiten entgegenzuwirken, wurde auf der Evangelischen Kirchenconferenz (s.d.) 1852 ein Kirchengesangbuch beantragt u. 1853 nach einem Entwurfe einer Commission (Bähr, Grüneisen, Vilmar, Daniel, Wackernagel u. Geffken) angenommen. Dasselbe enthält 150 Kernlieder, die bis 1750 gedichtet sind, fand aber bei den allermeisten Kirchenbehörden keinen Eingang. Der Antrag, eine zweite Sammlung von 1750 an zu veranstalten, wurde 1855 abgelehnt, worauf 1858 eine literarische Fehde zwischen Geffken u. Grüneisen über die Aufstellung der 150 Kernlieder entstand. In Magdeburg protestirten 1857 alle Kirchencollegien gegen einen vom Consistorium vorgelegten Anhang von 200 Liedern zum Gesangbuche, u. in Osnabrück verweigerten die meisten Gemeinden 1857 die Annahme des Gesangbuches für Volksschulen. In der bairischen Pfalz erhob sich 1857 Widerstand gegen das von der Generalsynode vorgelegte G., so daß erst die Synode von 1861 über die Beseitigung des alten G. entscheiden soll. Das Wiener Consistorium hat durch Verordnung von 1855 den Presbyterianern die Auswahl unter 5 Gesangbüchern freigegeben. Zu den Kirchenliederdichtern aus den letzten Jahrzehnten gehören: E. M. Arndt, Luise Hensel, Friedr. Rückert, C. H. F. Sachse, Joh. Fried. Möller, C. B. Garve u. von Albertini (beide Herrnhuter), H. Möwes, J. F. von Meyer, Rud. Ewald Stier, Joh. Rothen. C. A. Döring, C. J. P. Spitta, W. Hey, W. R. Freudentheil, Jul. Aschenfeld, F. L. Würkert, J. F. Bahnmaier, G. Schwab, C. Grüneisen, C. H. Zeller u.a. Vergl. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, 1841; Weis, Versuch einer Theorie u. geschichtliche Übersicht des Kirchenliedes, 1842; Koch, Geschichte des Kirchenliedes, 1847, 2 Thle., 2. A. 1852 f., 4 Bde.; Chr. E. K. Göring, Gesangbuchskunde, d.i. Anleitung zur Kenntniß etc. der evangelischen Kirchengesänge, Erl. 1857.