Eisenbahn

[272] Eisenbahn, im weiteren Sinne jeder Schienenweg, nach dem üblichen Sprachgebrauch jedoch ohne weiteren Zusatz nur die für regelmäßige Beförderung großer Transportmengen mit Maschinenkraft eingerichtete Spurbahn, während »Pferdebahnen« wie auch mit Maschinenkraft betriebene »Straßenbahnen« und andre besonderen Zwecken dienende Bahnen durch entsprechende Bezeichnungen von den allgemeinen »Eisenbahnen« unterschieden werden. Auch die von festen Kraftmaschinen aus mittels Seils oder andrer Uebertragungsmittel betriebenen, auf kurze Längen beschränkten Schienenwege, wie sie namentlich als Bergbahnen Anwendung finden, pflegen durch ihre Benennung gekennzeichnet zu werden. Unter »Eisenbahn« ohne weiteren Zusatz wird bisher fast immer – auch im rechtsgültigen Sinne – die Lokomotivbahn, und zwar in der Regel mit Dampfbetrieb, verstanden, wie sie zurzeit das allgemeine Transportmittel für den Massenverkehr zu Lande auf beliebig weite Entfernungen bildet und durch ihre große Leistungsfähigkeit an Transportmenge und Schnelligkeit einen weltumgestaltenden Einfluß ausgeübt hat und noch täglich ausübt.

Die allmählich beginnende Einführung elektrischen Antriebes für Hauptbahnen – sei es durch elektrische Kraftsammler, sei es durch Stromzuleitung – ändert nichts an dem eigentlichen Begriff des Wortes »Eisenbahn«, erweitert jedoch seine Anwendung dahin, daß an Stelle der elektrischen Lokomotive auch der Motorwagenbetrieb treten kann, indem die einzelnen Antriebmaschinen auf eine Anzahl oder alle Wagen verteilt sein können.

In baulichem Sinne besteht die Eisenbahn (zunächst abgesehen von den Bahnhöfen, also auf freier Strecke) aus dem Oberbau und dem Unterbau. Der Oberbau setzt sich zusammen aus Schienen, Schwellen (oder andern Unterlagen) und Bettung, die den Druck der Schienenunterlagen auf den Unterbau verteilt und zur Trockenhaltung sowie Regelung der Lage und Höhe für die Schwellen und Schienen dient. Der Unterbau besteht in der Regel aus einem Erdkörper: Abtrag oder Einschnitt, wenn tiefer als die natürliche Oberfläche, Auftrag oder Damm über derselben, dann mit den nötigen Durchlässen und Brücken für den Durchgang der Wasserläufe u.s.w. Bei großem Höhenunterschied oder sehr teuerm Grunderwerb tritt an Stelle des Erddammes der Viadukt (aus Holz, Stein oder Eisen) und an Stelle des Einschnitts der Tunnel. Zum Unter- und Oberbau kommt sodann auf freier Strecke noch eine Reihe von zugehörigen Gegenständen, als Einfriedigungen, Wegeschranken, Signale, Wärterhäuser und andres. Auf Bahnhöfen tritt ferner noch eine große Zahl von Anlagen aus dem Gebiete des Hochbaues und des Maschinenwesens sowie vielerlei Ausrüstungsgegenstände hinzu, die alle der Eisenbahn als notwendige Teile angehören.

Das Bewegungssystem der Eisenbahn ist im allgemeinen dasjenige der Reibung (unzutreffend »Adhäsion« genannt), indem die Triebkraft der Lokomotive ihre Triebräder in Drehung versetzt, diese vermöge des auf ihnen ruhenden großen Gewichts (Triebgewichts) auf den Schienen die nötige Reibung erzeugen und somit die Fortbewegung ermöglichen, sofern der Bewegungswiderstand des angehängten Zuges nicht das Produkt aus Triebgewicht und Reibungswert (ein Siebtel bis ein Sechstel, bei feuchten Schienen weniger) übersteigt, das die äußerste Grenze der Zugkraft bildet. (Um diese bei glatten Schienen im Anfang der Bewegung oder auf steilen Neigungen für den Augenblick zu erhöhen, werden manche Lokomotiven mit Sandstreuvorrichtungen versehen.) Das Bahnsystem ist im allgemeinen das zweischienige mit darüber befindlichem Fahrzeug (Standbahn).

Neben dieser allgemein verbreiteten Art der Bewegung und der Bahngestaltung sind nun im Laufe der Zeit in großer Anzahl andre Systeme für besondere Zwecke entstanden und zum Teil auch ausgebildet worden. Die meisten beabsichtigen, bei steilen Neigungen, wo die Reibung zwischen Rad und Schiene allein nicht mehr genügt, diese durch besondere Mittel (wie z.B. Klemmräder) zu erhöhen oder (wie z.B. durch Seil- oder Zahnradbetrieb, Luftdruck u.a.m.) zu ersetzen. Andre sind für besondere Transportgegenstände auf kurze Entfernung bestimmt (ein- oder zweischienige Förderbahnen für gewisse Rohgutarten). Wieder andre bezwecken, auch für Personentransport die Umgehung von Hindernissen zu erleichtern und den Platzbedarf auf das äußerste zu verringern (ein- und zweischienige Schwebebahnen). Eine geordnete Uebersicht dieser verschiedenen, teils ausgeführten, teils vorgeschlagenen Eisenbahnsysteme verlangt, eine zweifache Einteilung, einmal nach Art der Bewegung, sodann nach Art der Bahngestaltung, wenn auch beide in manchen Fällen sich berühren und einander bedingen. Eine solche Uebersicht, wie sie der Verfasser bei seinen Vorträgen aufgestellt hat, ist die folgende:

Nach Art der Bewegung:

A. Die Bewegung erfolgt durch eine den Zug begleitende Kraftquelle, und zwar:

I. Tierische Kräfte: Pferdebahnen, Bergwerksgleise (s. Streckenförderung).[272]

II. Mechanische Kräfte: Lokomotivbahnen, und zwar wird die Lokomotive getrieben namentlich durch Dampf (gewöhnliche Eisenbahn), Preßluft (s. Luftdruckbahnen) oder durch elektrische Akkumulatoren. Dabei erfolgt die Bildung der Zugkraft:

a) durch die Reibung zwischen Schiene und Treibrad (Reibungs- oder Adhäsionssystem);

b) durch besondere Mittel zur Erhöhung oder zum Ersatz der Reibung, nämlich:

1. Klemmschiene und wagerechte Klemmtriebräder zwischen den Fahrschienen. Vorschlag von Vignoles und Ericson 1829, Ausführung von Fell 1868 am Mont Cenis (vgl. Dreischienenbahnen).

2. Seilrad mit Schlepptau oder Kette, die ruhend zwischen oder neben den Schienen liegt. Versuch von Chapman 1812; später bei der Schiffahrt als Tauerei ausgebildet (s. Kettenschleppschiffahrt).

3. Zahnrad mit Zahnstange. Versuch von Blenkinsop 1811; später für Bergbahnen ausgebildet (vgl. Zahnstangenbahnen).

B. Die Bewegung des Zuges erfolgt ohne begleitende Kraftquelle, entweder durch die Schwerkraft allein oder in Verbindung mit einer Kraftübertragung von festen Punkten aus. Arten der Kraftübertragung:

I. Mittels Rohrleitung, und zwar:

a) Luftverdünnung (also Ansaugen): Atmosphärische Eisenbahn (s. Luftdruckbahnen).

b) Luftverdichtung (Preßluft): Pneumatische Bahnen (s. Luftdruckbahnen).

c) Wasserdruck, bisher nur als Vorschlag.

d) Ausströmende Wasserstrahlen, auf der Pariser Weltausstellung 1889 bei der Girard-Barreschen Gleitbahn ausgeführt, s. Girard, Le chemin de ser glissant, Paris 1889 (ohne praktische Bedeutung). S. Gleiteisenbahnen.

II. Mittels Treibseils: Bahnen mit direktem oder indirektem Seilbetrieb, Seilebenen.

a) Direkter Seilbetrieb:

1. Einfacher Aufzug. Seil nur an einem Ende belastet.

2. Seil oben über eine Rolle geleitet, beide Enden belastet:

α) Nur Schwerkraft als Antrieb, wenn die Nutzlast nur zu Tal geht und die Hebung der leeren Fahrzeuge mit bewirkt (so bei Steinbrüchen, Erzbergen u. dergl.), oder wenn die Schwerkraft durch Ballast, meist Wasser, erzeugt werden kann, um die Nutzlast zu heben (so für kleinere Lasten, z.B. für Bergwerkszwecke und zur Personenbeförderung für Bergbahnen).

ß) Zugleich eine feste Kraftquelle, z.B. Dampf- oder elektrische Maschine, zur Bewegung des Seiles. So namentlich für Bergbahnen, wenn Wasser am oberen Ende nicht ausreichend verfügbar ist.

γ) Erzeugung (oder Verstärkung) der Schwerkraft, an dem einen Seilende durch eine vorgespannte Lokomotive, zusammenwirkend mit deren eigner Zugkraft, so auf der »schiefen Ebene« zwischen Erkrath und Hochdahl seit 1841 (auf der Bahn Düsseldorf–Elberfeld) mit Hilfe eines besonderen dritten Gleises.

3. Seil ohne Ende, beiderseits über Rollen geleitet, in Spannung gehalten und umlaufend. Ankupplung der Zuglast an beliebiger Stelle unter Umständen mittels Greifervorrichtung vom Zuge (oder Wagen) aus, so daß dieser unabhängig von der entfernten Kraftquelle anhalten kann:

α) System Maus (Belgier), s. Heusinger, Handbuch d. spez. Eisenbahntechnik, Leipzig 1877, Bd. 1, Kap. 17.

ß) Straßenbahnen mit unterirdischem Seil ohne Ende und Greiser am Wagen, auch Kabelbahnen genannt, vorwiegend in Nordamerika vor Einführung des elektrischen Betriebs (s. Seilbahnen und Straßeneisenbahnen).

b) Indirekter Seilbetrieb (Agudios-System), s. Seilbahnen.

III. Kraftübertragung von fester Kraftquelle (z.B. Turbine oder Dampfmaschine) aus mittels elektrischen Stromes; Zuleitung durch besondere Leitungskörper, die entweder (für große Kraft) als Stab oder Schiene neben oder zwischen den Fahrschienen angebracht oder (für schwächere Kräfte, insbesondere Straßenbahnen) als Drähte oder Drahtschnüre über der Bahn oder unter dem Pflaster ausgespannt werden; Rückleitung meist durch die Schienen. s. Eisenbahnen, elektrische.

Nach der Gestaltung der Bahn

ergibt sich folgende Einteilung:

A. Fahrzeuge über der Bahn:

I. Reibungsbahn (Adhäsionsbahn), zwei Schienen ohne weitere Hilfsmittel: Gewöhnliche Eisenbahnen und Straßenbahnen.

II. Besondere Mittel zur Vermehrung der Adhäsion:

1. Mittelschiene für wagerechte Klemmräder, System Fell (s. Dreischienenbahnen).

2. Ruhendes Schleppseil oder Kette. Vorschlag von Chapman 1812.

3. Zahnstange zwischen den Schienen, ganz durchlaufend (reiner Zahnradbetrieb) oder nur auf besonders steile Strecken beschränkt (gemischter Betrieb). S. Zahnstangenbahnen.

Die Bewegung zu 1.–3. kann mit Lokomotive oder mit Kraftübertragung durch indirekten Seilbetrieb, auch durch elektrische Uebertragung erfolgen.

B. Das Fahrzeug umgreift die Bahn oben und beiderseits (rittlings) mit Hilfe von unteren wagerechten oder schräg gesellten Führungsrollen:[273]

I. Zwei Schienen sehr nahe zusammen, beispielsweise nur 25 cm entfernt, im Lager von Aldershot 1870, von Fell ausgeführt.

II. Einschienenbahnen (s.d.); Roy-Stone 1876; Lartigue; frühere Form der Vesuvbahn 1880.

C. Fahrzeug unter der Bahn, an derselben hängend: Schwebebahnen, auch Hängebahnen oder Luftbahnen genannt (s. Schwebebahnen).

D. Fahrzeug in geschlossenem Rohr, gleitend oder geführt und mit Preßluft bewegt (Rohrpost). Auch in größeren Abmessungen mit drei Führungsschienen für die Bergbahn zum Gipfel der Jungfrau von Locher geplant, aber nicht ausgeführt (s. Luftdruckbahnen).

E. Hydraulische Gleitbahn, s. oben B. d); praktisch nicht anwendbar.

Die dem öffentlichen Verkehr dienenden Eisenbahnen werden in wirtschaftlichem Sinne in Deutschland eingeteilt in: a) Hauptbahnen (auch Vollbahnen) mit Schnellzugsverkehr; Geschwindigkeit für Personenzüge bis zu 60 km in der Stunde bei Handbremsen, bis zu 100 km, ausnahmsweise 120 km bei durchgehenden Bremsen; für Güterzüge bis zu 45 km, ausnahmsweise 60 km in der Stunde, b) Nebenbahnen (auch Sekundär- oder Vizinalbahnen) mit einer Geschwindigkeitsgrenze von 40 (50) km auf eignem Bahnkörper und bei durchgehenden Bremsen, sonst 30 km. (Vgl. die neue Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung vom 1. Mai 1905, § 66.)

Daneben unterscheidet man noch »Kleinbahnen«, die nur den Verkehr innerhalb örtlich eng beschränkter Grenzen vermitteln, dabei aber z.B. für den städtischen Personenverkehr als Straßen-, Hoch- oder Tiefbahnen großen Wert haben können. Für solche Kleinbahnen ist in Preußen 1892 ein besonderes Kleinbahnengesetz geschaffen, da sie unter den Begriff der allgemeinen Eisenbahn nicht einzureihen sind.

Die Eisenbahnen sind (abgesehen von den Kleinbahnen) in Deutschland zurzeit mit wenig Ausnahmen im Besitz und Betrieb der Landesregierungen; auch in Oesterreich und der Schweiz schreitet die Verstaatlichung allmählich vor. In Italien sind die Hauptbahnen durchweg im Besitz des Staates, aber zum Betrieb bisher an Privatgesellschaften verpachtet, indessen ist auch dort baldige Einführung des Staatsbetriebes wahrscheinlich. In England bestehen nur Privatbahnen, in Frankreich sind sie weit überwiegend.

Als Spurweite ist das in Deutschland unter dem Namen der Vollspur (Normalspur) bekannte Maß von 1,435 m zwischen den Leit- oder Innenkanten der Schienen weitaus am meinen über den Erdboden verbreitet. In Nordamerika, Großbritannien, Belgien, Holland, Frankreich, Deutschland, Oesterreich, Ungarn, Schweiz, Italien, Dänemark, Schweden, Rumänien, in der europäischen Türkei und Aegypten, Kleinasien und Neusüdwales (Australien) ist es für Hauptbahnen das herrschende, meist ausschließliche. Größere Spurweiten kommen als herrschende vor: 1,524 m (5' engl.) in Rußland; 1,60 m (5' 3'') in Irland und Victoria (Australien); 1,676 m (5' 6'') in Spanien, Portugal, Argentinien, Chile, Indien, auch bei der englischen Great Western-Bahn bis 1890. Schmalere Spurweiten sind vorherrschend: 1,0 m in Griechenland, Korsika, Algier, Brasilien; 1,067 m (3'6'' engl) in Norwegen, Kapland, Java und Japan, Südaustralien (neben 1,6). Außerdem kommen neben den vorherrschenden größeren Weiten in manchen Ländern »Schmalspurbahnen« vor, so von 1 m namentlich in Belgien, Frankreich und Algier, in der Schweiz, in Deutschland, Oesterreich und Indien. In Deutschland haben die Hauptbahnen stets Vollspur, die Nebenbahnen vorwiegend dieselbe, daneben aber auch Im und 0,75 m (Sachsen). Für die Kleinbahnen ist außer diesen drei Weiten auch diejenige von 0,60 m in Aufnahme gekommen und wird von manchen Seiten befürwortet (vgl. Haarmann, Kleinbahnen, 1896). Vgl.a. Eisenbahnbau.


Literatur über Geschichte, Statistik, Politik und Verwaltung der Eisenbahnen s. am Schluß des nachfolgenden Art. Eisenbahnverwaltung, ferner in dem Artikel »Eisenbahn« in Rolls Encyklopädie des Eisenbahnwesens, Wien 1891. S.a. Cauer, Betrieb und Verkehr der Preuß. Staatsbahnen, Berlin 1897 und 1903.

Goering.

Die ebenso gewaltigen wie mannigfaltigen Wirkungen der Eisenbahn entstehen sämtlich aus der Abschwächung der Bedeutung räumlicher Entfernung und führen in der Regel zu geradezu entgegengesetzten Erscheinungen, indem jede Tätigkeit, die in räumlichen Schranken die Grenzen für ihre Entfaltung findet, erweitert und begünstigt, im Gegensatze dazu aber jede Wirksamkeit, die des Schutzes räumlicher Beschränkung bedarf, zurückgedrängt oder gar vernichtet wird. – Die erste unmittelbare Wirkung der Eisenbahnen ist eine Erhöhung des Lebensgenusses, da durch sie die Arbeit vermindert wird, die zur Erlangung der wirtschaftlichen Güter aufzuwenden ist. In gleich unmittelbarer Weise entsteht eine Verminderung der örtlichen und zeitlichen Preisschwankungen. Die Gefahren großer Teuerung oder der Hungersnot mit ihrer Gefolgschaft von Seuchen, Lastern und Verbrechen bestehen nach Ausbildung des Eisenbahnnetzes nicht mehr, die örtlichen Preisschwankungen sind zwischen dem Ein- und Ausfuhrpreise eingeschlossen, deren Unterschied gleich dem doppelten Betrage der Transportkosten zwischen dem heimischen und fremden Erzeugungsorte eines Gutes ist, der also mit der Vervollkommnung des Verkehrs geringer wird. Die Herstellung derjenigen Güter, deren Ausfuhr durch die Eisenbahnen begünstigt wird, muß gewinnbringender werden, wogegen die Erzeugung solcher Güter, die dadurch dem Wettbewerbe der Einfuhr in erhöhtem Maße ausgesetzt werden, weniger lohnend wird. Infolgedessen wird die Produktion dieser letzteren Güter eingeschränkt oder ganz aufgegeben, die der ersteren aber ausgedehnt. Dadurch entsteht in der Landwirtschaft wie im Gewerbe die Ausbildung örtlicher Standorte für bestimmte Arten der Gütererzeugung, also eine schärfere Ausprägung örtlicher Eigenart. Der örtlichen Arbeitsteilung folgt im Gewerbebetriebe die technische Arbeitsteilung und die Ansiedlung der Hilfsgewerbe, so daß der gesamte wirtschaftliche Charakter einer Gegend sich dem herrschenden Gewerbebetriebe anschließt. Im Gegensatz zu der schärferen Ausprägung örtlicher Eigenart verliert die Entfernung vom Marktorte, die früher für den Grundwert und auch für die Bewirtschaftungsweise so entscheidend[274] war, sehr erheblich an Bedeutung. Auch der Standort der Gewerbebetriebe wird mehr von dem Gewinnungsorte der Rohprodukte abgelöst und, da die Fracht für Rohprodukte billiger ist als für die fertigen Waren, dem Absatzgebiete nähergerückt, wodurch die Großstädte auch zum Hauptsitze der Gewerbetätigkeit werden. Durch die erleichterte Beherrschung eines weiten Absatzgebietes bildet sich der Großbetrieb aus und mit ihm die Ersetzung der Handarbeit durch Maschinen. So segensreich die hierdurch herbeigeführte Entladung von qualvoller, harter Arbeit ist, so wurde doch in weiterer Folge durch die Maschinenarbeit die soziale Frage heraufbeschworen. Die alte Gliederung der menschlichen Gesellschaft ist aufgelöst, ohne daß sofort neue befriedigende Formen dafür gewonnen werden können. Die Ueberleitung aus dem Kampfe zu einer neuen friedlichen Gleichgewichtslage bildet eine ernste Aufgabe des Staates, dessen Tätigkeit überhaupt durch die Eisenbahnen erheblich erweitert wurde. Die technische Eigenart der Eisenbahnen, das Gleis, machte eine Zusammenfassung des Betriebes in eine Hand erforderlich, was offenbar am vollkommensten durch den Staat erreicht wurde. Das Verhältnis zwischen Stadt und Land ist durch die Eisenbahnen völlig umgekehrt. Früher erhielt die Landwirtschaft bei knappen Ernten einen Ausgleich durch höhere Preise, während die städtische Bevölkerung unter der Teuerung zu leiden hatte. Bei der jetzt durch den Einfluß des Weltmarktes gesicherten größeren Gleichmäßigkeit der Preise ist der Lebensunterhalt für die Städte weit unabhängiger von dem örtlichen Ernteausfall geworden, während die Landwirtschaft bei schlechten Ernten Not leidet. Daher entsteht die massenhafte Einwanderung der Landbevölkerung in die Städte. Das Wachstum der Städte wirkt anregend und fördernd auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft, veranlaßt die Ausführung umfassender Anlagen zur Förderung der Gesundheit, der Bequemlichkeit und Annehmlichkeit des Lebens, aber bringt auch alle unheilvollen Folgen der Verschärfung des Kampfes um das Dasein mit sich. Doch das Schlechte hat den Schutz der Verborgenheit verloren, und dieselben Eisenbahnen, die die Bevölkerung in die Mauern der Städte ziehen, führen sie im erleichterten Vorortverkehr auch wieder hinaus ins Freie. – Das frühere Uebergewicht der Küstenländer über das Binnenland ist durch die Eisenbahnen zugunsten der Binnenländer umgekehrt. Sie bilden auch ein gewaltiges Rüstzeug des Krieges und sichern als solches den Frieden. Alle Naturschönheiten, erfrischende Bäder und Heilquellen, alle Schätze des Wissens und der Kunst werden durch die Eisenbahnen mehr und mehr zum Gemeingut der Menschheit. Auf der durch die Eisenbahnen erreichten Steigerung der Herrschaft des Menschen über den Raum beruht ein Kulturfortschritt von so vielseitiger und umwälzender Art, daß in der ganzen Kulturgeschichte der Menschheit nur die Erfindung der Buchdruckerkunst an Wirksamkeit damit verglichen werden kann.

Launhardt.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 272-275.
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