[682] Arbeiterversicherung, die Versicherung, durch die vom Arbeiter und seiner Familie die aus teilweisem oder gänzlichem Verluste der Erwerbsfähigkeit erwachsenden Gefahren dadurch abgewandt werden, daß in Zeiten des Erwerbs gezahlte Beiträge zur Auszahlung an die Unterstützungsbedürftigen gelangen. Jene Gefahren können erwachsen durch Tod, der den hinterbliebenen Witwen und Waisen ihren Ernährer entzieht und größere Ausgaben (Begräbniskosten) verursacht, dann durch Krankheit, die Lohnausfall zur [682] Folge hat, ferner durch Invalidität infolge von Altersschwäche, Kränklichkeit oder Unfall. Außerdem kann auch Hilfsbedürftigkeit infolge von Arbeitslosigkeit eintreten. Der einzelne Arbeiter ist nun nicht im stande, durch Ersparnisse sich gegen diese Gefahren ausreichend zu sichern. Wenn auch, was aber nicht immer der Fall ist, der Arbeitslohn so hoch steht, daß bei einem den Kulturanforderungen entsprechenden Leben Erübrigungen möglich sind, und wenn auch wirklich der Arbeiter, was nicht bei allen zu erwarten, sich zu den mit dem Sparen verknüpften Entsagungen entschließt, so vermag er doch nicht immer so viel rechtzeitig zurückzulegen, daß die bei Eintritt des Todes oder der Arbeitsunfähigkeit vorhandene Summe genügt. Ist hiernach nicht jeder Einzelne, wenn auf sich allein angewiesen, im stande, seinen vollen Unterhaltsbedarf zu decken, so muß der Weg der wechselseitigen Unterstützung, der sozialen Hilfe beschritten werden. Solche Hilfe wird einmal durch gesetzliche Anerkennung von Unterstützungspflichten der Familie, der Gemeinde, des Staates gewährt, neben denen die Privatwohltätigkeit ergänzend wirken kann. Nun sind aber die Unterstützungen, die als unentgeltliche Zuwendungen den Charakter der Armenpflege tragen, für sich allein weder zureichend noch empfehlenswert; sie können nie in der Art und in dem Maße gewährt werden, daß sie überall wirklichem Bedarf genügen. Außerdem wirkt die Armenpflege leicht demoralisierend, indem sie bei schwachem Charakter Arbeitsscheu und Neigung zum Bettel großzieht. Aus diesem Grunde soll man suchen, diese nur auf solche Fälle zu beschränken, in denen sie unentbehrlich ist, in andern aber Einrichtungen zu schaffen, in denen bei wohlorganisierter Hilfe der Trieb zur Arbeit und menschliche Würde gewahrt wird. Hierzu erweist sich die Versicherung als sehr zweckmäßig, die überdies das Gefühl einer durch eigne Arbeit und Sparsamkeit ermöglichten Selbständigkeit wach erhält. Auf die Summen, die dem versicherten Arbeiter zu zahlen sind, hat dieser ein Recht, sie sind nicht etwa Almosen. Nach obigem wäre also nötig eine Kranken-, Begräbnis-, Unfall-, Alters-, Invaliden-, Witwen-, Waisen- und Arbeitslosenversicherung.
In Deutschland und andern Ländern finden sich die ersten Anfänge der modernen A. in dem Unterstützungswesen der mittelalterlichen Genossenschaften, namentlich in den Zünften und Gesellenverbänden. Das Hauptgebiet der Fürsorge war die Unterstützung in Krankheits- (wesentlich Naturalverpflegung in Krankenhäusern) und Sterbefällen (Sterbegelder). Die Mittel wurden durch obligatorische Beiträge der Mitglieder aufgebracht; aber der Zwang war ein statutarischer, kein gesetzlicher. Für die an die Scholle gebundene, abhängige bäuerliche Bevölkerung hatte in Notfällen die Gutsherrschaft zu sorgen. Eine neue Epoche in der Geschichte der A. beginnt mit der Entwickelung des absolutistischen Staates: an die Stelle der statutarischen Unterstützungspflicht beginnt die gesetzliche zu treten; es entstehen die mit gesetzlichem Beitrittszwang ausgestatteten und unter staatlicher Kontrolle stehenden Genossenschaften für einzelne Berufe, insbes. im Bergwerkswesen und in der Schifffahrt. Dem Wesen der neuesten Wirtschaftsordnung mit Gewerbe- und Koalitionsfreiheit, Freizügigkeit hatte eine Auflösung der ältern Einrichtungen entsprochen; und in der Tat entsprachen die aus dem Assoziationswesen Großbritanniens erwachsenden freien Hilfskassen (s. d. und Friendly Societies), die sich meist auf die Kranken- und Begräbnisversicherung beschränken, und die mit den Gewerkvereinen (s. d.) verbundenen verschiedenen Zweige der A., wie die analogen Bildungen in Frankreich und Belgien, dem System der wirtschaftlichen Freiheit. Indessen blieb in den deutschen Staaten, namentlich in Preußen, nach einer vorübergehenden Lockerung des gewerblichen Unterstützungswesens, das System der Zwangskassen in gewissem Umfang aufrecht erhalten. Daneben nahm infolge der Gesetzgebung über das Hilfskassenwesen auch das freie Hilfskassenwesen einen bemerkenswerten Aufschwung, namentlich in den Zentralkassen der Gewerkschaften.
Eine völlige Neugestaltung hat die A. in Deutschland seit Beginn der 1880er Jahre erhalten: sie ist zu einer auf Zwang beruhenden Versicherung der Lohnarbeiter und der diesen wirtschaftlich und sozial nahestehenden Klassen geworden. Die A. des Deutschen Reiches trägt wesentliche Züge des Hilfskassenwesens wie des Gesetzes vom 7. Juni 1871 über die Haftpflicht (s. d.) der Eisenbahnen und industriellen Unternehmer für die Folgen von Betriebsunfällen an sich, ist aber in der Hauptsache völlig neuschöpferisch. Man faßte bei der Ungenügendheit der bisherigen Einrichtungen und namentlich des Haftpflichtgesetzes den Entschluß, zunächst eine öffentlich-rechtliche Unfallversicherung (erster Gesetzentwurf vom 8. März 1881) einzuführen, womit der entscheidende Schritt getan war, der auf die Bahn der großen Arbeiterversicherungsgesetzgebung führte. Dabei war wesentlich auch die Absicht mitbestimmend, durch die in dieser A. zu Tage tretende positive Fürsorge für die arbeitenden Klassen die damaligen repressiven Maßregeln gegen die Sozialdemokratie zu ergänzen und eine innerliche Überwindung derselben anzubahnen. Es wurde als Aufgabe des Staates bezeichnet, sich in höherm Maß als bisher seiner hilfsbedürftigen Mitglieder anzunehmen und den besitzlosen Klassen der Bevölkerung durch erkennbare direkte Vorteile die Überzeugung nahezulegen, daß der Staat ihnen ebenso diene wie den bemittelten Klassen. Noch in demselben Jahre (17. Nov. 1881) erschien die berühmte kaiserliche Botschaft, die eine planmäßige Organisation nicht nur der Unfall-, sondern auch der Kranken- und Invaliditäts- und Altersversicherung in Aussicht stellte. Die Verwirklichung dieses Programms begann indessen nicht mit der Unfall-, sondern mit der Krankenversicherung in dem Gesetz vom 15. Juni 1883 mit der Novelle vom 10. April 1892. Ihr folgte die Unfallversicherung in dem Hauptgesetz vom 6. Juli 1884 und den Gesetzen vom 28. Mai 1885 (Ausdehnungsgesetz), vom 5. Mai 1886 (Kranken- und Unfallversicherung für land- und forstwirtschaftliche Arbeiter), vom 11. und 13. Juli 1887 (Unfallversicherung der Bauarbeiter und Seeleute) mit Novelle vom 30. Juni 1900 und Gesetz vom selben Tage, betreffend Unfallfürsorge für Gefangene. Die Invaliditäts- und Altersversicherung wurde geregelt durch Gesetz vom 22. Juni 1889 mit Novelle vom 13. Juni 1899 (Invalidenversicherungsgesetz).
Das Wesentliche in dieser neuen Gesetzgebung liegt in der Durchführung des Versicherungszwanges, dem übrigens nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Arbeitgeber unterworfen sind. Die Organisation ist in den einzelnen Zweigen der A. verschieden: Träger der Versicherung sind bei der Krankenversicherung örtlich gegliederte Vereinigungen der versicherten Arbeiter, die Krankenkassen und unter Umständen die Gemeindekrankenversicherung, bei der Unfallversicherung die Berufsgenossenschaften der Unternehmer,[683] bei der Invalidenversicherung die räumlich abgegrenzten Landesversicherungsanstalten. An Stelle und neben diese Einrichtungen treten als Träger der Versicherung, insbes. bei der Unfallversicherung, die öffentlichen Körper (Reich, Staat, Gemeindeverbände) für die von ihnen betriebenen Unternehmungen und Verwaltungszweige sowie einige große Eisenbahnpensionskassen und ähnliche besondere Kasseneinrichtungen für die Invalidenversicherung. Der Gegenstand der Versicherung ist 1) bei der Krankenversicherung die Gewährung freier ärztlicher Behandlung, unter Umständen Verpflegung in einem Krankenhause, und eines Krankengeldes an Erwerbsunfähige und Wöchnerinnen auf die Dauer von 13 Wochen, eventuell auch länger, sowie eines Sterbegeldes an die Hinterbliebenen; 2) bei der Unfallversicherung die Fürsorge für die durch Betriebsunfälle Verletzten und deren Hinterbliebene (Heilverfahren von der 14. Woche ab; Rente an die Verunglückten nach Maßgabe der durch den Unfall bewirkten Erwerbsbeschränktheit, im Todesfall Begräbnisgeld und eine Rente an die Hinterbliebenen); 3) bei der Invalidenversicherung eine Invalidenrente nach Maßgabe der Erwerbsunfähigkeit, bez. eine Altersrente nach zurückgelegtem 70. Lebensjahr. Der Kreis der versicherungspflichtigen Personen ist verschieden. Über Einzelheiten s. die Artikel »Krankenkassen, Invaliditätsversicherung, Unfallversicherung«. Die außerordentliche Bedeutung der A. in Deutschland erhellt daraus, daß von den 56 Mill. Einwohnern des Deutschen Reiches mit rund 16 Mill. Arbeitern 9 Mill. gegen Krankheit, 17 Mill. gegen Unfall, 13 Mill. gegen Invalidität und Not des Alters versichert sind. Über 2 Milliarden Mk. sind bis 1. Jan. 1900 den Arbeitern in 40 Mill. Fällen an Entschädigungen zu teil geworden. An der Aufbringung dieser Summe sind die Arbeiter mit 1164 Mill. Mk., die Unternehmer mit 1099 Mill. Mk., das Reich mit 150 Mill. Mk. beteiligt. Nahezu 1 Mill. Mk. gelangte an jedem Arbeitstag als Entschädigung an jährlich rund 4 Mill. Arbeiter zur Auszahlung.
Der früher vielfach gegen die zwangsweise A. erhobene Vorwurf der Unzulässigkeit und Unwirksamkeit ist angesichts ihrer Erfolge so ziemlich verstummt. Auch die Befürchtung, daß durch die Lasten, die sie bedingt, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Produktion gegenüber dem Auslande leiden werde, hat sich nicht bewahrheitet. Im einzelnen mag sie noch verbesserungsbedürftig sein, im ganzen ist sie eine bewundernswerte Leistung, die von den segensreichsten Folgen für die arbeitenden Klassen begleitet ist. Da sie sich auf das Allernotwendigste beschränkt, so erwächst den freien Organisationen auch heute noch ein reiches Gebiet ergänzender Tätigkeit. Auch ist die deutsche A. noch keineswegs abgeschlossen: es fehlt ihr die Witwen- und Waisenversicherung (vgl. Witwenkassen) sowie die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit (s. d.). Doch hat von der Inangriffnahme dieser Zweige der A. bisher teils die Schwierigkeit der Aufbringung der erforderlichen Mittel, teils die Schwierigkeit der praktischen Durchführung abgehalten.
Die deutsche Arbeitversicherungsgesetzgebung hat Nachahmung gefunden in Österreich (Unfallversicherungsgesetze vom 28. Dez. 1887 und Novelle vom 20. Juli 1894). Ungarn (Krankenversicherungsgesetz vom 9. April 1891) und Norwegen (Unfallversicherungsgesetz vom 23. Juli 1894). In den andern Staaten hat man sich mit dem allgemeinen direkten Versicherungszwang noch nicht befreunden können. In der Schweiz wurde die geplante obligatorische Kranken- und Unfallversicherung durch Volksabstimmung vom 20. Mai 1900 verworfen. Vgl. Schmitz, Die A., Handbuch für die Berufsgenossenschaften, Vorstände etc. (Berl. 1888); Rosin, Das Recht der A. (das. 189093, Bd. 1); Bödiker, Die A. in den europäischen Staaten (Leipz. 1895); Derselbe, Die Reichsversicherungsgesetzgebung (das. 1898); van der Borght, Die soziale Bedeutung der deutschen A. (Jena 1898); Wengler, Das deutsche Arbeiterrecht etc. (Leipz. 1899); Laß u. Zahn, Einrichtung und Wirkung der deutschen A. (2 Ausg., Berl. 1902); F. Hoffmann, Die Arbeiterversicherungsgesetze des Deutschen Reiches (das. 1902); Artikel A. (von van der Borght, Honigmann, Verkauf u.a.) im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 1 (2. Aufl., Jena 1898); Menzel, Die A. nach österreichischem Recht (Leipz. 1893); Mataja, Grundriß des österreichischen Gewerberechts und der A. (das. 1899); Hasbach, Das englische Arbeiterversicherungswesen (das. 1883); von der Osten, Die A. in Frankreich (das. 1884); Zacher, Die A. im Auslande (Berl. 1898 ff.). Zeitschrift: »Die Arbeiterversorgung«, Zentralorgan für die A. (Berl. 1884 ff.)
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