Gambetta

[311] Gambetta (spr. gangb-), Léon Michel, franz. Staatsmann, geb. 3. April 1838 in Cahors, gest. 31. Dez. 1882, aus Genua stammend, trat 1859 als Advokat in das Barreau von Paris. Als Sekretär Lachauds, dann Crémieux' machte er sich als Verteidiger in einigen politischen und Preßprozessen durch seine scharfe und beredte Opposition gegen das Kaiserreich sehr bemerklich. Infolgedessen wurde er bei den allgemeinen Wahlen als Kandidat der unversöhnlichen Opposition in den Gesetzgebenden Körper gewählt. Als Hauptwortführer der äußersten Linken hielt er mehrere glänzende Reden. Seine Beredsamkeit war zwar nicht gedankenreich, aber schwungvoll, treffend und wirksam; sein mächtiges, klangvolles Organ kam ihm dabei sehr zu statten. Er tadelte 15. Juli 1870 die leichtfertige Art der Kriegserklärung, stimmte aber für Bewilligung der verlangten Kredite. Am 4. Sept. proklamierte er die Thronentsetzung Napoleons III. und seiner Familie auf ewige Zeiten und übernahm in der Regierung der Nationalverteidigung das Ministerium des Innern. Am 6. Okt. verließ er das belagerte Paris in einem Luftballon und begab sich nach Tours, wo sich eine Delegation der Regierung befand. Er übernahm dort neben dem Ministerium des Innern auch das Departement des Krieges und das der Finanzen, riß eine unumschränkte Diktatur an sich und verstand es, die Leidenschaften des Volkes zu entzünden, dem Krieg einen unversöhnlichen Charakter zu geben (guerre à outrance) und durch Aufbietung aller waffenfähigen Mannschaft neue Armeen gleichsam aus dem Boden zu stampfen. Beherrscht von der republikanischen Legende der siegreichen Volkserhebung von 1792 und 1793, hatte er den Glauben und wußte ihn auch eine Zeitlang der Nation einzuflößen, daß es möglich sei, durch das Entgegenwerfen großer Massen gegen die Front und durch den kleinen Krieg im Rücken der feindlichen Heere diese aufzureiben. Alle Mißerfolge konnten diesen Glauben nicht erschüttern, sondern reizten ihn nur, in die Leitung der militärischen Aktionen selbst einzugreifen, Generale ab- und einzusetzen und die gewagtesten [311] Unternehmungen direkt zu befehlen. Auch nach dem Falle von Paris wollte er von Frieden nichts wissen und suchte durch ein ungesetzliches Dekret vom 31. Jan. 1871 friedlich Gesinnte von der Nationalversammlung auszuschließen; als dies Dekret von der Regierung in Paris annulliert wurde, nahm er 6. Febr. seine Entlassung. Wenn Gambettas Tätigkeit, trotz der ungeheuern Opfer, die das französische Volk gebracht, auch Frankreich keinen greifbaren Vorteil verschafft hatte, so hatte sie doch durch den langen und zähen Widerstand die nationale Ehre gerettet. Das vergaß ihm das Volk nicht. Von neun Departements in die Nationalversammlung gewählt, stimmte er gegen den Frieden und übernahm die Führung der republikanischen Linken; zugleich gründete er ein neues Blatt: »La République Française«. Seit 1876 Mitglied der Deputiertenkammer, erlangte er als Vorsitzender der Budgetkommission auch auf die Verwaltung maßgebenden Einfluß. Während des Reaktionsversuchs 1877 leitete er den Widerstand des Landes mit großem Geschick und glänzendem Erfolg und steigerte sein Ansehen. Dennoch trat er weder an die Spitze des Ministeriums, noch bewarb er sich 1879 nach Mac Mahons Rücktritt um das Amt des Präsidenten der Republik. Er begnügte sich, Präsident der Deputiertenkammer zu werden, um sich nicht abzunutzen und von den Kulissen aus um so wirksamer die gesamte Politik beeinflussen zu können. Bei den Neuwahlen für die Deputiertenkammer, die G. leitete, erlangten seine Anhänger eine so große Majorität, daß er nun nicht umhin konnte, ein Kabinett zu bilden. Dieses »grand ministère« kam 14. Nov. 1881 zustande. In der innern Politik machte G. die Verfassungsrevision nebst Listenwahl zu seinem Programm; in der auswärtigen Politik wollte er die Beziehungen zu Rußland enger knüpfen und ein festes Bündnis mit England schließen, um, hierauf gestützt, gegen Deutschland aufzutreten. Aber England lehnte die gemeinschaftliche englisch-französische Aktion in Ägypten, die G. vorschlug, ab, und die Kammer verwarf 26. Jan. 1882 die von G. beantragte Listenwahl. Sofort nahm G. seine Entlassung und beschränkte sich auf seine frühere Tätigkeit, den Ministern durch die Stimmen seiner Anhänger in der Kammer seinen Willen aufzuzwingen. Ende 1882 erkrankte er in seinem Landhaus zu Ville d'Avray bei Paris tödlich. Sein glänzendes Begräbnis erfolgte 6. Jan. 1883 auf Staatskosten; seine Leiche ward in Nizza beigesetzt. In Cahors wurde ihm 1884 ein Standbild errichtet, ein andres, großartiges in Paris. G. war ein glühender Patriot, ein begeisterter Redner und ein kühner, energischer Politiker, doch schrankenlos ehrgeizig und herrschsüchtig. Seine »Discours et plaidoyers politiques« (Par. 1880–84, 10 Bde.) und »Dépêches, circulaires, décrets, proclamations, etc.« (1886–92, 2 Bde.) gab Reinach heraus. Vgl. Freycinet, La guerreen province (deutsch, Bresl. 1872); v. d. Goltz, Léon G. und seine Armeen (Berl. 1877); Reinach, Léon G. (Par. 1884); Neucastel, G., sa vie, ses idées politiques (1885); Tournier, G., souvenirs anecdotiques (1893); Laborde, Léon G., biographie psychologique (1898); Tourneur, G. en 1869 : Belleville et Marseille (1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 311-312.
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