Handelskammern

[728] Handelskammern (Handels- und Gewerbekammern, Kommerzkammern, Handelsdeputationen, Handelskollegien, kaufmännische Ältestenkollegien), Hilfsorgane der öffentlichen [728] Verwaltung, deren Aufgabe darin liegt, die kaufmännischen und industriellen Interessen ihres Bezirks zu vertreten, sachverständige Gutachten über Handels- und Industrieangelegenheiten zu erstatten und über die Lage von Handel und Industrie zu berichten. Zum Teil sind ihnen auch gewisse behördliche Befugnisse (z. B. Beaufsichtigung der Börsen) zugewiesen. Im einzelnen ist ihre Organisation in den verschiedenen Ländern recht verschieden.

Die erste Handelskammer entstand in Frankreich und zwar 1650 in Marseille frei aus dem Handelsstande heraus. Im J. 1700 wurde dann ein Conseil royal de commerce, also ein zentrales Organ geschaffen, zu dessen Information mehrere 1700,1701 und noch später gebildete lokale H. dienen sollten. Während der Revolution 1791 aufgehoben, wurden sie unter Napoleon I. 1802 wieder organisiert und mit der französischen Verwaltung auf Italien, Belgien, Holland und Westdeutschland übertragen. Aufgaben und Stellung der französischen H. wurden durch spätere Erlasse und Gesetze (neues Handelskammergesetz vom 9. April 1898) geregelt. Danach bestehen hier Chambres de commerce und Chambres consultatives des arts et manufactures. In die erstern, um die es sich hier handelt, können Handel- und Gewerbtreibende unterschiedlos gewählt werden; ihre Kosten werden durch Umlagen von den der Gewerbesteuer Unterworfenen aufgebracht. Um 1900 gab es 117 H. im europäischen Frankreich. Vgl. Guillaumot, Les chambres de commerce avant et depuis la loi du 9 Avril 1898 (Par. 1898). In Preußen, wo, wie in andern deutschen Staaten, eine den H. ähnliche Einrichtung in den aus den alten Kaufmannsgilden hervorgegangenen Kommerzkollegien, Kaufmannschaften etc. schon seit längerer Zeit bestanden hatte, erhielten die H. ihre erste Regelung durch Verordnung vom 11. Febr. 1848; durch Gesetz vom 24. Febr. 1870 mit Novelle vom 19. Aug. 1897 wurden sie weiter ausgebaut. Hiernach ist ihre Errichtung, zu der Genehmigung des Handelsministers erforderlich ist, nur fakultativ. Ihre Mitglieder werden auf sechs Jahre, mit Drittelerneuerung alle zwei Jahre, von den Inhabern des in das Handels- oder Genossenschaftsregister des Bezirks eingetragenen Firmen, der Bergwerksunternehmungen und der im Bezirk belegenen kaufmännisch betriebenen Betriebsstätten gewählt; die Besitzer land- und forstwirtschaftlicher Nebenbetriebe und die landwirtschaftlichen und Handwerkergenossenschaften sind nur auf Antrag wahlberechtigt. Die Kosten, über welche die Kammer selbständig beschließt, werden durch Zuschlag zur Gewerbesteuer aufgebracht. Die H. haben jährlich Bericht an das Handelsministerium zu erstatten. Die wichtigsten Änderungen, welche die neue Gesetzgebung brachte, bestehen in der Befugnis der H., Anstalten, Anlagen und Einrichtungen zur Förderung von Handel und Gewerbe, zur Ausbildung und Erziehung und zum sittlichen Schutz der Gehilfen und Lehrlinge zu unterstützen und zu gründen sowie in der Verleihung der Rechte einer juristischen Person an die H. Die Wahl zu den H. erfolgt, wenn nicht ausdrücklich ein andres beschlossen wird, in drei Abteilungen, die unter Zugrundelegung des Gewerbesteuerkatasters zu bilden sind. Zurzeit gibt es in Preußen 83 H., die jüngste am 14. Febr. 1902 zu Berlin errichtet, neben denen noch kaufmännische Korporationen mit ähnlichen Zielen in Berlin (Älteste der Kaufmannschaft), Königsberg, Memel, Tilsit, Elbing, Danzig und Stettin bestehen. Vgl. die Kommentare zum preußischen Gesetz vom 24. Febr. 1870 und 19. Aug. 1897 von Lusensky (Berl. 1897) und Reitz (das. 1897). In Bayern, wo man seit 1847 H. errichtet hat, bestehen deren 8, in jedem Regierungsbezirk eine, mit je zwei Abteilungen (eine für Handel, eine für Gewerbe), unter denen lokale Bezirksgremien gleichfalls mit zwei Abteilungen stehen (Gesetz vom 30. Jan. 1868 und Verordnung vom 25. Okt. 1889). Die Wahlfähigkeit ist von dreijährigem selbständigen Gewerbebetrieb abhängig. In Sachsen bestehen 4 Handels- und Gewerbekammern und je eine Handels- und eine Gewerbekammer (neues Gesetz vom 4. Aug. 1900 mit Verordnungen vom 22. Juli und 15. Aug. 1901). Wahlberechtigt zu den H. sind alle Kaufleute und Fabrikanten, die mindestens 10 Tlr. ordentliche Gewerbesteuer zahlen. Vgl. Naundorff, Gesetz, betreffend die Handels- und Gewerbekammern etc. (Leipz. 1900); Gensel, Stimmrecht und Wählbarkeit für die Handels- und Gewerbekammern im Königreich Sachsen (das. 1899). Württemberg besaß 8 Handels- und Gewerbekammern seit Verordnung vom 19. Sept. 1854, umgestaltet durch Verordnung vom 17. Febr. 1858 und Gesetz vom 4. Juli 1874; durch Gesetz vom 30. Juli 1899 sind diese in reine H. umgewandelt; die Wahlberechtigung ist ähnlich wie in Preußen geregelt. In Baden bestanden seit 1862 freie H.; durch Gesetz vom 11. Dez. 1878 (abgeändert zuletzt durch Gesetz vom 12. Sept. 1898) erhielten die 9 H. eine der preußischen ähnliche Organisation. Von den übrigen deutschen Staaten besitzen nur Mecklenburg-Strelitz, Lippe und Waldeck keine H. Mehrfach abweichend sind die H. der Hansestädte organisiert, auch haben sie einen besondern Wirkungskreis; so entsendet die Hamburger Kammer Mitglieder in verschiedene Deputationen (für Handel und Schiffahrt, indirekte Steuern etc.) und andre Kommissionen, verwaltet die Börse, veranlaßt Kursnotierungen, ernennt Sachverständige auf Antrag von Gerichten etc. Über die gesetzlichen Bestimmungen über die H. in Elsaß-Lothringen vgl. die Ausgabe von Scheid (Straßb. 1898). Die deutschen H. und die andern zur Vertretung von Industrie und Handel gesetzlich berufenen Körperschaften sind zusammen mit einigen freien Vereinen in dem 1861 gegründeten Deutschen Handelstag (s. d.) vereinigt.

In Österreich führte ein Gesetz vom 18. März 1850 für das ganze Staatsgebiet Handels- und Gewerbekammern ein; durch Gesetz vom 29. Juni 1868 erfolgte ihre Reorganisierung. Zurzeit bestehen deren 29, von denen 11 ihren Bezirk über ein ganzes Kronland, die übrigen nur über Teile eines solchen erstrecken. Jede Kammer zerfällt in der Regel in eine Handels- und eine Gewerbesektion. Die Wirksamkeit der H. ist hier eine etwas größere als in Deutschland, insbes. bilden sie auch politische Wahlkörper und wählen teils selbständig, teils gemeinsam mit den städtischen Wählern Abgeordnete in den Reichsrat und in die Provinziallandtage. Vgl. Smidek, Gesetz, betreffend die Handels- und Gewerbekammern, Fassung vom 30. Juni 1901 (Brünn 1902). Die H. in Ungarn haben mit Ausnahme des politischen Wahlrechts ähnliche Befugnisse wie in Österreich. Eine dem deutschen Handelstag analoge Einrichtung bildet in Österreich der Handelskammertag. In der Schweiz wurde durch Dekret vom 19. Nov. 1897 als beratende und begutachtende Behörde der Direktion des Innern eine kantonale Kommission, die Bernische Handels- und Gewerbekammer, eingesetzt, deren Mitglieder von der Regierung ernannt werden; on andern Orten bestehen freie Vereinigungen, die[729] sich auch oft H. nennen. Im Rahmen der bisher erwähnten Tätigkeit bewegen sich auch die H. in andern europäischen Ländern. In Spanien wurden 1859 in den Provinzhauptstädten Provinzialkammern errichtet, die seit Dekret vom 13. Nov. 1874 in sechs Sektionen, darunter eine speziell für Handel, zerfallen; Portugal hat durch Dekret vom 10. Febr. 1894 eine Handels- und Gewerbekammer in Lissabon mit drei Sektionen für Großhandel und Schiffahrt, Detailhandel und Industrie geschaffen, Rumänien hat H., die auch das Gewerbe mit vertreten. Freie Vereinigungen sind die H. in Belgien und England, haben aber im wesentlichen den gleichen Wirkungskreis wie die übrigen. Die meisten englischen H. gehören der Vereinigung der H. des Königreichs an, die zu großer Bedeutung gelangt ist.

In neuerer Zeit ist in Deutschland und anderwärts die Frage einer Neuorganisation der H. vielfach erörtert worden. Insbesondere wird geltend gemacht, daß da, wo die H. mit Gewerbekammern verbunden sind, nicht alle Interessen eine dem Wunsche der Beteiligten entsprechende Vertretung fänden. Durch die Errichtung von Handwerkskammern (s. d.) im Deutschen Reich ist wenigstens den Wünschen der kleinern Gewerbtreibenden Rechnung getragen. Nicht genügend vertreten glaubt sich auch der Kleinhandel. Erst neuerdings sind auch Vertreter von diesem, wenn auch in beschränkter Zahl, in die H. eingerückt.

Als notwendige Ergänzung des Konsulatswesens und der inländischen H. werden H. im Ausland angesehen. Solche Auslandshandelskammern wurden von Österreich errichtet 1870 in Konstantinopel, 1885 in Alexandrien, 1887 in Paris, 1888 in London, 1889 in Salonichi, 1872 eine solche von England, dann auch von Belgien in Paris, seit 1876 eine größere Anzahl von Frankreich (Konstantinopel, Mailand, Odessa, New York etc.) und Italien in verschiedenen Ländern. Die erste deutsche wurde 1894 in Brüssel, eine weitere 1902 in Bukarest, beide von Privaten errichtet. Die Vereinigten Staaten haben eine Handelskammer in London, die Niederlande in Hamburg, Rußland in Paris, Belgien jetzt auch in Bukarest. Eine englisch-belgische Handelskammer besteht in London, die, aus einer englischen und einer belgischen Vertretung zusammengesetzt, in gleicher Weise den Interessen beider Länder förderlich sein soll. – Nicht zu verwechseln sind die H. mit den »Kammern für Handelssachen«, die in Deutschland Abteilungen der Landgerichte bilden (s. Handelsgerichte). – Vgl. außer den oben bei den einzelnen Ländern angegebenen Kommentaren etc. v. Kaufmann, Die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen in den Staaten Europas (Berl. 1879) und Die Reform der Handels- u. Gewerbekammern (das. 1883); Grätzer, Die Organisation der Berufsinteressen (das. 1890); Hager, Taschenbuch für Mitglieder von H., Gewerbekammern etc. (Halberst. 1890); Lehmann, Über Errichtung von deutschen H. im Auslande (Heidelberg 1891); Hampke, Handwerker- oder Gewerbekammern (Jena 1893); »Verzeichnis der im Deutschen Reich bestehenden H. und kaufmännischen Korporationen« (aus dem »Deutschen Handelsarchiv«, Berl. 1901); Zeitschrift »Handel und Gewerbe«, Organ für die deutschen H. (das. 1893 ff.); »The Chamber of Commerce Journal« (Lond. 1881 ff.); »Journal des Chambres de Commerce« (Par. 1882 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 728-730.
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