Lehrling

[346] Lehrling und Lehrlingswesen. Lehrlinge sind junge Leute, die sich die für einen bestimmten Beruf nötigen elementaren Kenntnisse und Fertigkeiten während einer Lehrzeit erwerben wollen und zu diesem Zweck mit einem Lehrherrn in ein Vertragsverhältnis treten. In dem Lehrvertrag verpflichtet sich der Lehrherr zu ordentlicher Ausbildung des Lehrlings, der Lehrling zu Arbeitsleistungen für den Lehrherrn. Im übrigen können Leistungen und Gegenleistungen des Lehrlings und Lehrherrn vertragsmäßig sehr verschieden bestimmt sein. Zu den Berufszweigen, die noch heutzutage eine solche Ausbildung erfordern, gehören besonders der kaufmännische Beruf, der höhere landwirtschaftliche Beruf und der gewerbliche Beruf im engern Sinn. Eine besondere Regelung des Lehrlingswesens ist namentlich geboten für die gewerblichen Lehrlinge. Von dem guten Zustande des Lehrlingswesens, d.h. von der ordentlichen gewerblichen und moralischen Ausbildung der Lehrlinge, hängt hier nicht nur die Zukunft der Lehrlinge, sondern auch der Zustand des Gewerbewesens in einem Land ab. Die für diese Lehrlinge notwendige gewerbliche Ausbildung ist teils eine theoretische, teils eine praktisch-technische. Jene ist in gewerblichen Fachschulen, diese in der Werkstätte (Fabrik) zu geben. Von den gewerblichen Fachschulen kommen hier in Betracht: die gewerblichen Mittelschulen (Baugewerks-, Maschinenbau-, Werkmeister- etc. Schulen), die allgemeinen Fortbildungsschulen, Kunstgewerbeschulen und besondere Lehrlingsschulen für einzelne Gewerbe. Für diese Schulen und für einen ordentlichen Unterricht in diesen sowie für eine Teilnahme der Lehrlinge an dem Unterricht zu sorgen, ist eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Gewalt (Staat, Gemeinde)[346] und der gewerblichen Korporationen. Wichtiger aber als die theoretische Ausbildung ist die gute praktisch-technische Ausbildung der Lehrlinge. Die Fürsorge für diese darf, wie die Erfahrung vieler Länder, auch Deutschlands, im 19. Jahrh. gezeigt hat, nicht lediglich dem freien Vertrag und der Willkür der einzelnen überlassen, sondern muß auch zur Aufgabe der öffentlichen Gewalt und zu einer korporativen Angelegenheit der Gewerbtreibenden gemacht werden. Es bedarf hier zunächst obrigkeitlicher Maßregeln teils der Gesetzgebung, teils der Verwaltung.

Zu den wichtigsten, unentbehrlichen gesetzlichen Vorschriften gehören: 1) das Erfordernis der rechtlichen Unbescholtenheit des Lehrherrn; 2) die obligatorische schriftliche Abfassung und Registrierung der Lehrverträge sowse die Ausstellung von Normativbestimmungen, die für den Fall, daß die schriftliche Abfassung der Lehrverträge in unzureichender Form stattgefunden hat, ergänzend in Kraft treten; 3) die Bestimmung der wesentlichen Erfordernisse des Lehrvertrags (gegenseitige Pflichten, Dauer der Lehrzeit, Lohn des Lehrlings oder Lehrgeld) und die Regelung des Rechts der Beteiligten, denselben allenfalls vor Ablauf der vertragsmäßigen Zeit aufzuheben; 4) die Festsetzung von Strafen beim Lehrvertragsbruch gegen Täter, Anstifter, Teilnehmer und Begünstiger, insbes. auch gegen denjenigen, der einen Lehrling, wissend, daß er entlaufen ist, in Lehre oder Arbeit nimmt oder behält; 5) ausreichende Schutzbestimmungen gegen eine mißbräuchliche (die Gesundheit, Sittlichkeit, Ausbildung gefährdende) Beschäftigung der Lehrlinge; 6) eine gesetzliche Probezeit; 7) die Möglichkeit, den Fortbildungs- oder Fachunterricht für Lehrlinge obligatorisch zu machen; 8) die Verpflichtung zur Erteilung eines amtlich zu beglaubigenden Lehrbriefs (Zeugnisses über die Dauer der Lehrzeit, über Betragen, Kenntnisse und Fertigkeiten des Lehrlings); 9) die Anweisung von Staatsmitteln für Prämien bei Ausstellung von Lehrlingsarbeiten; 10) Veranstaltung von öffentlichen Lehrlingsprüfungen; 11) die zweckmäßige Regelung des Innungswesens (s. Innungen). Die Verwaltung aber muß sorgen für besondere obrigkeitliche Organe, die überall, wo das Bedürfnis vorhanden ist, örtlich für die einzelnen Gewerbe die wesentlichen Bestimmungen der Lehrverträge erlassen, die Beschäftigung und Ausbildung der Lehrlinge überwachen, für die Durchführung der Lehrverträge sorgen und etwaige Streitigkeiten entscheiden. Die Innungen als solche sind hierfür nicht die ausreichenden Organe; dieselben müssen aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern und einem von der Regierung ernannten Vorsitzenden zusammengesetzt sein. Indes wenn auch die Vertretung der Staatsgewalt in ihnen unentbehrlich ist, müssen diese Organe doch in ihrer Einrichtung und Wirksamkeit mehr den Charakter von Organen der Selbstverwaltung erhalten. Unter Umständen muß die Staatsgewalt auch für die Errichtung von Lehrwerkstätten (s. d.) sorgen. Aber alle diese obrigkeitlichen Maßregeln können nur dann ihren Endzweck erreichen, wenn sie unterstützt werden durch eine energische, gemeinnützige Tätigkeit der Gewerbtreibenden selbst, wenn insbes. Innungen und Gewerbevereine für eine gute Ausbildung der Lehrlinge mit sorgen. Sie haben vor allem darüber zu wachen, daß die Lehrherren ihre moralischen Pflichten gegen ihre Lehrlinge erfüllen und bestrebt sind, diese zu geschickten, tüchtigen Gesellen und zu braven, auf gewerbliche Ehre und Moral haltenden, von Gemeinsinn getragenen Gemeinde- und Staatsbürgern heranzubilden; sie müssen besondere Kommissionen zur Unterbringung von Lehrlingen bei geeigneten Lehrherren, zur Beaufsichtigung der von ihnen untergebrachten Lehrlinge und Arbeitsvermittelung für dieselben nach beendigter Lehrzeit etc. einsetzen, Lehrlingsprüfungen (s. d.), Ausstellungen von Lehrlingsarbeiten mit Prämien veranstalten, Fachschulen für Lehrlinge errichten und leiten, unter Umständen Lehrwerkstätten gründen etc.

In keinem Staat entspricht die Fürsorge für das Lehrlingswesen ganz den vorstehenden Anforderungen, nirgends ist daher auch der Zustand desselben in jeder Beziehung befriedigend zu nennen. In Deutschland und ebenso in Österreich ist man in neuerer Zeit bestrebt gewesen, eine Besserung herbeizuführen. In Deutschland hat die Gewerbeordnung in ihrer neuesten Fassung vom 26. Juli 1900 versucht, den oben aufgestellten Forderungen möglichst gerecht zu werden. Sie gewährt einen starken Schutz gegen mißbräuchliche Ausnutzung des Lehrlings, gegen dessen körperliche, geistige und sittliche Gefährdung; durch eingehende Regelung insbes. des Lehrvertrags (§ 126b ff.) sucht sie für die gewerbliche Ausbildung des Lehrlings zu sorgen (Beschränkung des Rechtes zum Halten und Anleiten von Lehrlingen, Schriftlichkeit des Lehrvertrags Vorbedingung für die Klagbarkeit, Regelung der Pflichten des Lehrherrn mit Eingriffsrecht der Verwaltungsbehörden und der Innungen, Abgrenzung der Pflichten des Lehrlings und seiner Vertreter, Regelung der Kündigung, der Entschädigungen bei vorzeitiger Auflösung des Verhältnisses, Mithaftung des zum Vertragsbrüche Verleitenden oder trotz Kenntnis der Sachlage den Lehrling aufnehmenden dritten Arbeitgebers etc.). Das neue Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 hat in § 76 ff. das kaufmännische Lehrlingswesen ausführlich berücksichtigt (s. Handlungslehrling), und auch das Bürgerliche Gesetzbuch beschäftigt sich mit dem Lehrvertrag, so in § 196 (Verjährung der Ansprüche), in den § 113, 1822, 1827 (Lehrvertrag, den der Vormund abschließt). Über die Bedeutung der Innungen für das Lehrlingswesen s. unter Innungen. Über die Lehrlingsprüfung s. d. Über Krankenkassen u. Invaliditätsversicherung s. diese Artikel. Nach Gewerbeordnung, § 810, Nr. 4, ist die Entscheidung von Streitigkeiten aus dem Lehrlingsverhältnis Aufgabe der Innungen, die auch eigne Schiedsgerichte errichten können (§ 81 b, Nr. 4, 91–91b); nach dem Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890, in der Fassung vom 29. Sept. 1901 können für solche Streitigkeiten Gewerbegerichte gebildet werden (die aber hinter den Innungen und Innungsschiedsgerichten zurückzutreten haben, vgl. Gewerbegerichtsgesetz, § 84), und durch Gesetz, betreffend die Kaufmannsgerichte vom 6. Juli 1904 (mit Wirkung vom 1. Jan. 1905 ab) können für die Entscheidung von Streitigkeiten aus dem kaufmännischen Lehrlingsverhältnis Kaufmannsgerichte errichtet werden, welche die ordentliche Gerichtsbarkeit ausschließen.

Auch Österreich hat dem Lehrlingswesen Beachtung geschenkt. Das Gesetz vom 15. März 1883 enthält Vorschriften über das Recht zum Halten von Lehrlingen, die Lehrzeit, den Lehrvertrag, die Pflichten des Lehrlings und des Lehrherrn, das Lehrzeugnis etc.; das Gesetz vom 8. März 1885 überweist die Vorsorge für ein geordnetes Lehrlingswesen den gewerblichen Genossenschaften. Die Novelle vom 23. Febr. 1897 hat einige Bestimmungen über das Lehrlingswesen und das Genossenschaftswesen abgeändert. Doch haben diese Gesetze bis jetzt noch keine gründliche[347] Besserung des Lehrlingswesens gebracht. – In Frankreich hatte die Gesetzgebung von 1791 jede, Regelung des Lehrlingswesens beseitigt. Aber schon ein Gesetz vom 22. Germinal XI schränkte die unbedingte Freiheit ein, insofern durch dasselbe bestimmt wurde, in welchen Fällen allein der Lehrvertrag von der einen oder andern Seite aufgelöst werden dürfe, ferner, daß der Meister dem Lehrling nach Beendigung der Lehrzeit ein Entlassungszeugnis zu geben habe und kein Meister den Lehrling eines andern ohne ein Entlassungszeugnis annehmen dürfe. Eine weitere eingehende Regelung erfolgte durch das Gesetz vom 22. Febr. 1851. Es machte nicht die Schriftlichkeit des Lehrvertrags obligatorisch, erschwerte aber den Beweis nur mündlich abgeschlossener Verträge. Dagegen verbot es unter anderm gewissen Personen, Lehrlinge zu halten, setzte eine Maximalarbeitszeit für Lehrlinge unter 16 Jahren fest, verbot für diese die Sonntags- und Nachtarbeit, regelte die Rechte und Pflichten beider Teile, führte eine Probezeit von zwei Monaten ein, bestimmte neu die Fälle, in denen der Lehrvertrag teils ipso jure aufgelöst sei, teils einseitig aufgelöst werden könne, machte Arbeitgeber, die Lehrlinge ihrem Meister abwendig machen, um sie zu beschäftigen, für die dem verlassenen Meister zuerkannte Entschädigung haftbar etc. Ein Gesetz vom 11. Dez. 1880 schuf Lehrlingsschulen. Private Lehrlingsschutzgesellschaften suchen den bestehenden Schäden entgegenzuarbeiten, doch ist der Zustand des Lehrlingswesens in Frankreich ein wenig befriedigender. – In England, wo die Gewerkvereine großen Einfluß auf das Lehrlingswesen ausüben, ist aus der frühern weitgehenden obrigkeitlichen Regelung des Lehrlingswesens nur noch eine polizeiliche Jurisdiktion über das Lehrlingsverhältnis übriggeblieben. Der Lehrvertragsbruch ist strafbar. Vgl. »Schriften des Vereins für Sozialpolitik«, Bd. 10 u. 11, 14 u. 15 (Leipz. 1875, 1878, 1879); Garbe, Der zeitgemäße Ausbau des gesamten Lehrlingswesens (Berl. 1888); Dannenberg, Das deutsche Handwerk (Leipz. 1872); Bücher, Die gewerbliche Bildungsfrage und der industrielle Rückgang (Eisenach 1877); Stieda, Lehrlingswesen (im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, 2. Aufl., Bd. 5, Jena 1900); Post, Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern (Berl. 1889); Schönberg, Artikel »Gewerbe« (im »Handbuch der politischen Ökonomie«, Bd. 2, 4. Aufl. 1896); F. Hoffmann, Organisation des Handwerks und Regelung des Lehrlingswesens auf Grund des Reichsgesetzes vom 26. Juli 1897 (3. Aufl., Berl. 1902); Mataja, Gewerberecht (im »Österreichischen Staatswörterbuch«, Wien 1895) und Grundriß des Gewerberechts (Leipz. 1899); Block, Apprentissage (im »Dictionnaire de l'administration française«); Furrer, Artikel »Gewerbliches Bildungswesen« (im »Volkswirtschaftslexikon der Schweiz«, 1886). Für England vgl. »Record of technical and secondary education« (Lond. 1890). S. auch den Artikel »Gewerbegesetzgebung« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaft en«, Bd. 4, S. 410 ff., und die dort ausgeführte Literatur.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 346-348.
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