Hebbel

[22] Hebbel, Friedrich, hervorragender Dichter, geb. 18. März 1813 zu Wesselburen in Dithmarschen, gest. 13. Dez. 1863 in Wien, verlebte seine Jugend in den Marschen und Meeresumgebungen seiner Heimat, nährte eine früh erwachte gestaltenreiche Phantasie an wenigen Büchern, wurde mit 14 Jahren Schreiber des Kirchspielvogts Mohr in Wesselburen und erhielt 1834 durch Gönner die Mittel, sich nach Hamburg zu begeben, um die Lücken seiner Bildung auszufüllen. Hier rang sich sein Genius in heftiger, schmerzenreicher Gärung empor und seinem leidenschaftlichen Liebesbedürfnis begegnete die aufopfernde Treue seiner hingebenden Freundin Elise Lensing. Die innern Kämpfe setzten sich in den eindrucksreichen, aber oft durch bitterste Notgetrübten Universitätsjahren fort. H. studierte im Sommer 1836 in Heidelberg, von da an bis Ostern 1839 in München, gewann hier namentlich durch Schelling tiefe Eindrücke und erkannte seine unzweifelhafte Bestimmung zum Dichter. 1839 nach Hamburg zurückgekehrt, dichtete er hier seine Erstlingstragödie: »Judith« (Hamb. 1841, 2. Aufl. 1873), der wenig später »Genoveva« (das. 1843) folgte. In beiden Tragödien zeigte sich eine ungewöhnliche dramatische Dichterkraft, namentlich eine Gewalt der Charakteristik, eine Unmittelbarkeit und Glut der Leidenschaft, die H. auf der Stelle als ein Talent ersten Ranges erkennen ließen. Daneben mußte freilich die Neigung des Dichters zum Krassen und Bizarren und mehr noch die dicht neben seiner natürlichen Leidenschaft stehende Neigung zu einer zersetzenden Reflexion erschrecken. Eine Sammlung seiner »Gedichte« (Hamb. 1842; »Neue Gedichte«, Leipz. 1848; vervollständigte Gesamtausgabe, Stuttg. 1857) bewies indes, daß dem Dichter auch die zarten und innigen Töne der Lyrik zu Gebote standen. 1843 kam er nach Kopenhagen, wurde hier vom König-Herzog seines Heimatlandes Holstein mit einem mehrjährigen Reisestipendium bedacht, ging zuerst nach Paris, wo er das bürgerliche Trauerspiel »Maria Magdalene« (Hamb. 1844) dichtete, mit Heine und Ruge bekannt wurde und in Bamberg einen treuergebenen Freund für das Leben gewann. »Maria Magdalene«, obwohl schroff, herb und in der Voraussetzung peinlich, wirkte dennoch durch meisterhafte Charakteristik und Entwickelung und war das reifste Produkt der ersten Periode Hebbels. Tiefen Schmerz bereitete ihm die Nachricht von dem Tode seines Söhnchens Max; im Mai 1844 schenkte Elise Lensing, die vergeblich um eheliche Sanktionierung des Liebesbundes bat, einem zweiten Knaben das Leben. Vom September 1844 bis Oktober 1845 weilte H. in Italien, kehrte auf der Rückreise in Wien ein und ließ sich durch das Entgegenkommen begeisterter Verehrer bewegen, hier dauernd seinen Wohnsitz zu nehmen. Insbesondere fesselte ihn die geistvolle Schauspielerin des Burgtheaters Christine Enghaus, der H. 26. Mai 1846 die Hand am Altar reichte, ein Schritt, der zugleich das Lebensglück seiner treuen Jugendfreundin Elise Lensing vernichtete. Äußern Sorgen nunmehr enthoben, fand H. an der Seite seiner ebenso edlen wie gebildeten Gattin, die mit den Jahren immer tiefer auf ihn einwirkte, den Frieden der Seele, den er zuvor vergebens erstrebt hatte, wenn auch bereits in den lyrischen Dichtungen seiner italienischen Wandertage eine gewisse Lösung von der dunkelpessimistischen Weltanschauung seiner Jugend zu bemerken war. Eine schmerzliche Reaktion erlebte er jedoch wieder durch die Eindrücke der Revolution von 1848 und der nächstfolgenden Jahre. Die dramatischen Dichtungen dieser zweiten Periode: »Der Diamant«, Komödie (Hamb. 1847), »Herodes und Mariamne« (Wien 1850), »Julia«, Trauerspiel (Leipz. 1851), »Der Rubin«, Märchenlustspiel (das. 1851), »Ein Trauerspiel in Sizilien«, Tragikomödie (das. 1851), zeigten wohl im Ausdruck weniger Überschwenglichkeit, waren aber dafür bizarrer, herber, kälter als die Werke der Jugendzeit Hebbels; sie konnten die Bühne nicht zum Aufgeben ihres spröden Widerstandes gegen Hebbels starre Originalität veranlassen. Im Verlauf der 1850er Jahre begann sich dann der Dichter in bemerkenswerter Weise zu läutern und neben der Erhabenheit auch Schönheit der Darstellung zu erstreben. Diese dritte Periode begann mit dem kleinen Drama »Michel Angelo« (Wien 1855), einer anmutigen poetischen Selbstverteidigung, und mit der Tragödie »Agnes Bernauer« (das. 1855), bis auf die menschlich widerstrebende Staatsidee ein Werk voll Frische, Kraft und anmutigen Reizes; sie setzte sich fort in dem formell schönen, aber im Konflikt unversöhnlich herben Trauerspiel »Gyges und sein Ring« (das. 1856) und gipfelte in den lyrischen Dichtungen dieser Jahre, in der prächtigen epischen Dichtung »Mutter und Kind« (Hamb. 1859) und im Meisterwerk des Dichters, der dramatischen Trilogie »Die Nibelungen« (das. 1862, 3. Aufl. 1874), in der H. den gewaltigen epischen Stoff als den großen Konflikt zwischen der heidnischen und christlichen Weltanschauung vollständig dramatisierte. Die Früchte seines endlichen Erfolgs zu pflücken, war aber dem Dichter so wenig beschieden wie die Beendigung seiner letzten bedeutenden Tragödie »Demetrius« (Hamb. 1864). Nach seinem Tod erschienen seine »Sämtlichen Werke« (hrsg. von Emil Kuh und A. Glaser, Hamb. 1866–68, 12 Bde.); eine andre Ausgabe besorgte Krumm (das. 1892, 12 Bde.), die beste Gesamtausgabe R. M. Werner (Berl. 1901–03, 12 Bde.); eine gut kommentierte Auswahl K. Zeiß für Meyers Klassiker-Bibliothek (Leipz. 1899, 4 Bde.), eine andre R. Specht (Stuttg. 1903, 6 Bde.). Seine gedankenreichen »Tagebücher« gab zuerst Felix Bamberg heraus (Berl. 1885–86, 2 Bde.), neuerdings[22] besser (als 2. Abteilung der »Sämtlichen Werke«) R. M. Werner (das. 1903, 4 Bde.; 3. Aufl. 1904), den »Briefwechsel mit Freunden und berühmten Zeitgenossen« (das. 1890–92, 2 Bde.) ebenfalls Bamberg und dazu eine »Nachlese« R. M. Werner (das. 1900, 2 Bde.). Vgl. E. Kuh, Biographie F. Hebbels (Wien 1877, 2 Bde.); Kulke, Erinnerungen an Fr. H. (Wien 1878); Ad. Stern, Zur Literatur der Gegenwart (Leipz. 1880); A. Bartels, Friedrich H. (in Reclams Universal-Bibliothek); A. Neumann, Aus Friedrich Hebbels Werdezeit (Zitt. 1899); J. Krumm, Friedrich H. (Flensb. 1899); K. Böhrig, Die Probleme der Hebbelschen Tragödie (Leipz. 1899); Th. Popp, Friedrich H. und sein Drama (Berl. 1899); R. Graf von Schwerin, Hebbels tragische Theorie (Rost. 1903); A. Scheunert, Der Pantragismus als System der Weltanschauung und Ästhetik F. Hebbels (Hamb. 1903); W. Waetzoldt, H. und die Philosophie seiner Zeit (Berl. 1903); E. A. Georgy, Die Tragödie F. Hebbels nach ihrem Ideengehalt (Leipz. 1904); F. Zinkernagel, Die Grundlagen der Hebbelschen Tragödie (Berl. 1904); R. M. Werner, H., ein Lebensbild (das. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 22-23.
Lizenz:
Faksimiles:
22 | 23
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika