Murawjew

[282] Murawjew, alte russ. Bojarenfamilie (Murawei bedeutet Ameise), stammt aus dem Fürstentum Nowgorod. Namhaft sind:

1) Nikolai Jerofejewitsch, diente im Geniekorps und gab 1752 das erste Werk über Algebra in russischer Sprache heraus. Er starb als Gouverneur von Livland auf einer Reise in Montpellier 1770.

2) Michail Nikititsch, Fürst, geb. 25. Okt. 1757 in Smolensk, gest. 29. Juli 1807, war Gouverneur der Großfürsten Alexander und Konstantin, seit 1796 Kurator der Universität Moskau, seit 1800 Senator und ward 1802 Rat im Ministerium der Volksaufklärung. Seine »Opyty«, historischen, moralischen und literarischen Inhalts, die in der russischen Literatur für klassisch gelten, wurden von Karamsin herausgegeben (Mosk. 1810, 11 Bde.); ein Nachtrag »Emiliewy pisma« erschien Petersburg 1815.

3) Nikolai Nikolajewitsch, Sohn von M. 1), geb. 1768 in Riga, gest. 1. Sept. 1840 in Moskau, studierte in Straßburg und wurde 1788 Leutnant bei der Ostseeflotte. Bei Rotschensalm gefangen und erst nach dem Frieden von Werelä wieder in Freiheit gesetzt, erhielt er das Kommando des sogen. goldenen Jachtschiffes der Kaiserin Katharina, ging aber 1796 in die Armee über und nahm 1797 als Oberstleutnant seinen Abschied. Er gründete auf einem Gute bei Moskau die »Schule der Kolonnenführer« für Offiziere des Generalstabs, machte die Feldzüge von 1812–14 als Oberst und Stabschef des Grafen Tolstoi mit, schloß mit dem französischen General Dumas die Kapitulation von Dresden ab und nahm an der Belagerung von Hamburg teil. Als Generalmajor kehrte er zu seiner Militärakademie zurück, die 1816 kaiserlich wurde, widmete sich aber seit 1823 ausschließlich der Landwirtschaft.

4) Alexander, ältester Sohn des vorigen, geb. 1792, gest. 1864 in Moskau, ward als Oberst, der Teilnahme an der Verschwörung von 1825 verdächtig, nach Sibirien verbannt, später jedoch zurückberufen. 1853 trat er wieder in aktiven Dienst, ward Generalmajor und 1856 Gouverneur von Nishnij Nowgorod. Mit großem Eifer wirkte er für Aufhebung der Leibeigenschaft.

5) Nikolai Nikolajewitsch, Fürst M. Karskij, Bruder des vorigen, geb. 1794, gest. 4. Nov. 1866 in Petersburg, trat 1810 in die Armee, ward Kapitän im Generalstab, diente im Kaukasus und ging 1819 im Auftrage General Jermolows nach Chiwa, über welches Land er durch seine »Puteschestwie w'Turkmeniju i Chiwu« (Petersb. 1822) schätzenswerte Aufschlüsse gab. Im persischen Kriege focht er mit Auszeichnung 1828 bei Kars und Achalzych, 1829 bei Kalila und Milli Djus und kommandierte 1830 im polnischen Feldzug die litauische Grenadierbrigade, mit der er den Sieg bei Kasimiersh entschied. 1831 befehligte er 6. und 7. Sept. beim Sturm auf Warschau den rechten Flügel und erstürmte die Verschanzungen von Rakoviec. Ende 1832 ging er als außerordentlicher Bevollmächtigter Rußlands nach Ägypten, um Mehemed Ali zum Einstellen der Feindseligkeiten zu bewegen, kommandierte dann die am Bosporus gelandeten russischen Truppen und ward 1835 Befehlshaher des 5. Infanteriekorps. Seit 1838 verabschiedet, trat er erst 1848 wieder in Dienst und ward Mitglied des Militärkonseils, im Dezember Chef des Grenadierkorps und 1855 an die Spitze der kaukasischen Armee gestellt, mit der er Kars nach mehr als halbjähriger ruhmreicher Belagerung Ende November eroberte. Dieser Erfolg gestattete Rußland trotz des Verlustes von Sebastopol den Frieden anzunehmen. M. ward hierauf in den Fürstenstand erhoben, zum Generaladjutanten des Kaisers und Mitglied des Reichsrats ernannt, war auch Mitglied der Kommission, welche die Mißbräuche während des Krimkriegs untersuchen sollte, lebte aber die nächsten Jahre teils zurückgezogen in Rußland, teils auf Reisen.

6) Michail Nikolajewitsch, Graf, Bruder des vorigen, geb. 1795, gest. 11. Sept. 1866 auf seinem Gut Syrez bei Luga, machte die Feldzüge von 1812–1813 mit, wurde Generalgouverneur von Grodno, dann von Kursk, 1842 Oberdirektor des Feldmesserkorps, 1850 Mitglied des Reichsrats und regte, zum Vizepräsidenten der Russischen Geographischen Gesellschaft gewählt, eine wissenschaftliche Expedition nach Sibirien an. 1857 wurde er Minister der Reichsdomänen und Präsident des Verwaltungsrats der kaiserlichen Apanagen. M. förderte die Landwirtschaft und stiftete die agronomische Akademie zu Petrowsk bei Moskau. Er war ein Gegner der Aufhebung der Leibeigenschaft. 1861 und 1862 trat M.[282] wegen seiner geringen Popularität von seinen Ämtern zurück. Als jedoch der polnische Aufstand sich bis nach Litauen verbreitete, schickte ihn der Kaiser 1863 als Generalgouverneur nach Wilna, wo er eine solche Grausamkeit entwickelte, daß er in ganz Europa verhaßt wurde. Aber die Unterdrückung des Aufstandes gelang ihm, und er erhielt den Grafentitel. Vgl. Kropotow, Leben des Grafen M. (Petersb. 1874); »Der Diktator von Wilna. Memoiren des Grafen M. N. M.« (a. d. Russ., Leipz. 1883). 1898 wurde M. in Wilna ein Standbild errichtet.

7) Andrei Nikolajewitsch, Reisender und Schriftsteller, Bruder des vorigen, geb. 1798 in Moskau, gest. 30. April 1874 in Kiew, bereiste 1830 Syrien und Palästina, später Südrußland und den Kaukasus nebst Armenien, endlich Italien so wie wiederholt den Orient. Unter seinen (in russischer Sprache geschriebenen) Reisewerken sind besonders namhaft zu machen: »Wallfahrt nach der Heiligen Stadt« (Petersb. 1830); »Schilderung Grusiens und Armeniens« (das. 1848) und »Eindrücke aus der Ukraine und Sebastopol« (das. 1859). Er betätigte auch schriftstellerisch seinen Eifer für die Orthodoxie und veröffentlichte einige dramatische Versuche, eine »Geschichte von Jerusalem« (Petersb. 1844), eine »Geschichte der russischen Kirche« (3. Aufl., das. 1845) u.a.

8) Michael Nikolajewitsch, Graf von, russ. Staatsmann, geb. 19. April 1845, gest. 21. Juni 1900, Sohn des Generals Nikolai M. und Enkel von M. 6), studierte in Heidelberg, trat 1864 in den diplomatischen Dienst, war Attaché, dann Legationssekretär, gab die Denkwürdigkeiten seines Großvaters heraus, ward 1885 Gesandtschaftsrat in Berlin und war seit 1873 russischer Gesandter in Kopenhagen, als er im Januar 1897 an Stelle Lobanows zuerst zum Verweser des auswärtigen Ministeriums, dann zum Minister des Äußern ernannt wurde. M. war ein echter Russe und Eiferer für die nationale Tradition.

Andern Zweigen der Familie gehören an:

9) Sergei M. Apostol, Sohn von Iwan Matwejewitsch M. Apostol (geb. 1769, gest. 24. März 1851 als Senator), war 1825 Oberstleutnant im Regiment Tschernigow und einer der Hauptleiter der Verschwörung der Dekabristen von 1825 gegen Nikolaus I. Nach der Entdeckung derselben ließ M. den zu seiner Verhaftung abgeschickten Obersten Gebel festnehmen, rief mit sechs Kompanien 5. Jan. 1826 den Großfürsten Konstantin zum Kaiser aus und bemächtigte sich der Stadt Wassilkow, wurde aber 15. Jan. geschlagen und schwer verwundet gefangen genommen. Er ward 25. Juli 1826 in Petersburg gehenkt. Sein Bruder Ma twei, verabschiedeter Oberstleutnant, ward zu 20jähriger Verbannung nach Sibirien verurteilt.

10) Nikolai Nikolajewitsch, Graf M. Amurskij, geb. 1810 in Petersburg, gest. 1. Dez. 1881, widmete sich dem Militärdienst, war aber 1836–40 Zivilgouverneur von Kursk, bis 1847 von Grodno und bis 1848 von Tula, seit diesem Jahre Gouverneur von Ostsibirien. M. legte 1850 unweit der Amurmündung Nikolajewsk als Stütze und Ausgangspunkt der beabsichtigten friedlichen Eroberung an, erforschte die Ufer des Amur und seiner Quellen und gründete zahlreiche russische Kolonien. Durch den Vertrag von Aigun vom 28. Mai 1858 wurde China gezwungen, das Amurgebiet an Rußland abzutreten. M. erhielt daher den Ehrentitel Amurskij. 1859 erzwang er von Japan außer den Vertragsbedingungen, die es den übrigen großen Seemächten bewilligt hatte, die Abtretung der an Kohlen reichen Insel Sachalin. Daneben sorgte M. für die Konsolidierung seiner Erwerbungen, unter anderm durch die Gründung der Handelsgesellschaft des Amur (1856). 1861 wurde er Mitglied des Reichsrats.

11) Nikolai Walerianowitsch, geb. 1850, studierte die Rechte, trat in den russischen Justizdienst, ward Staatsanwalt in Petersburg, dann in Moskau. 1892 Oberprokurator am Kriminalkassationshof, 1894 Justizminister und bei der Krönung des Kaisers Nikolaus II. 1896 Staatssekretär. 1903 fungierte er als Obmann des Haager Schiedsgerichts in der venezolanischen Angelegenheit und wurde 1905 zum russischen Botschafter beim Quirinal ernannt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 282-283.
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