[350] Leibeigenschaft (Halseigenschaft, Grundhörigkeit, Hörigkeit), ein Zustand geminderter Freiheit. Schon in den ältesten Zeiten finden wir bei den germanischen Völkerschaften den Unterschied zwischen Freien und Unfreien ausgeprägt. Die Entstehungsgründe der Unfreiheit waren Kriegsgefangenschaft, Abstammung von unfreien Eltern, Verheiratung mit einem Unfreien und gerichtliche Überweisung zahlungsunfähiger Schuldner oder Verbrecher an den Gläubiger oder an die Verletzten, endlich freiwillige Unterwerfung. Neben diesen vollständig Unfreien (Knechten, mancipia, ancillae, servi) finden sich schon in ältester Zeit Halbfreie, die Aldien oder Liten (s. d.). Unter dem Einfluß des Christentums entwickelte sich aus der L. seit dem 13. Jahrh. die sogen. Erbuntertänigkeit. Es gibt jetzt nur noch eine Klasse, die sogen. eignen Leute (Hauseigne, Blutseigne, Gutseigne, Dienstleute, Hörige, scaramanni, scararii, Kurmedige, Wachszinsige, Koter, Kossäten, Sonnenkinder, auch Lassen, Laten, Erbuntertänige). Diese Erbuntertanen sind gewissermaßen Pertinenz des betr. Gutes, sie sind in ihrer Bewegungsfreiheit völlig von der Gutsherrschaft abhängig. Der Pflicht, auf dem Gute zu bleiben, entspricht ihr Recht, dort bleiben zu dürfen. Ihr Abhängigkeitsverhältnis zeigte sich namentlich darin, daß der Herr gewisse Teile ihres[350] Nachlasses, namentlich die besten Viehstücke u. dgl. (Besthaupt, Mortuarium, Sterbfall, Butteil), für sich beanspruchen konnte, daß unfreie Frauenspersonen bei ihrer Verheiratung eine gewisse Abgabe (Bumede, Bauzins, Frauenzins, Hemdschilling, Busengeld, Busenhuhn, Nadelgeld, Schürzenzins, Maritagium) entrichten, und der Leibeigne zu seiner Verheiratung die Erlaubnis des Gutsherrn einholen mußte. Außerdem mußten sie außer persönlichen Dienstleistungen Zinsen und Abgaben in Gestalt von Zehnten, Gülten und Grundzinsen, von Herdgeldern, Gartenhühnern, Rauchhühnern, Ostereiern, Pfingstlämmern, Martinsgänsen, und Fastnachtshühnern von den Höfen, die sie in Erbpacht hatten, entrichten. Erst zu Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrh. wurde die Aufhebung der L. in Deutschland allenthalben durchgeführt. Zwar hatten sich schon zu Anfang des 18. Jahrh. einzelne Versuche zur Aufhebung der L. gezeigt, z. B. in der preußischen Dorfordnung von 1702 für die königlichen Domänen; aber erst Joseph II. von Österreich war es, der die L. vollständig aufhob, und zwar 1781 für Böhmen und Mähren, 1782 für die deutschen Erblande. Auch das preußische Landrecht von 1794 bezeichnete die L. als unzulässig; doch erst durch das Steinsche Edikt vom 9. Okt. 1807 erfolgte die gänzliche Aufhebung derselben für die preußische Monarchie, ebenso in Württemberg durch Gesetz vom 18. Nov. 1817 und für Bayern durch die Verfassungsurkunde vom 26. Mai 1818. Die letzten Reste wurden 1832 in der sächsischen Oberlausitz getilgt.
Auf weit größere Schwierigkeiten stieß dagegen die Abschaffung der L. in Rußland, wo es gar keinen freien Bauernstand gab und wo die L. mit dem Volksleben viel inniger verwachsen war als in Deutschland. In älterer Zeit sind in Rußland nur freie Bauern und wirkliche Sklaven bekannt. Die Bauern aber, soweit sie nicht auf eignen Stellen saßen, erscheinen als Pächter auf den Domänen, den Gütern der Kirche und denen des Adels. 1460 wurde nun Klöstern und Gutsbesitzern das Recht verliehen, den Pächtern die Kündigung zu versagen und sie mithin zum Bleiben zu zwingen. Auch das 1492 abgefaßte Gesetzbuch (Ssudebnik) erschwerte das Verziehen der Bauern durch starke Abstandszahlungen, und so bereitete sich allmählich die Schollenpflichtigkeit der Landleute vor. Durch Ukas vom 21. Nov. 1597 (ein älterer von 1592, wie ihn die russische Literatur vielfach noch annimmt, läßt sich nicht nachweisen) wurde diese dann zum Gesetz. Man ordnete an, daß auf fünf Jahre zurück alle Bauern, die von den Dienst- und Erbgütern der Bojaren und andrer Gutsbesitzer weggelaufen waren, mit Weib und Kind zurückgebracht werden sollten. Später wurde 1604 bei Ausbruch einer Hungersnot jedem Bauer das Verlassen seines Dorfes verboten und jeder Flüchtling, den der Gutsbesitzer in seinem Walde fand, ihm zu eigen gegeben. Jedenfalls sind seit der Mitte des 17. Jahrh. die Bauern völlig an die Scholle gebunden. Unter Peter d. Gr. wurde sodann die persönliche L. aller Bauern zum Gesetz erhoben, dem Grundadel ein freies Verfügungsrecht über seine Bauern eingeräumt, aber auch umgekehrt ihm die Verpflichtung zum Unterhalt und zur Ernährung der Leibeignen im Fall eignen Unvermögens auferlegt. Dabei hatte aber das ganze Verhältnis einen gewissen patriarchalischen Charakter. Der Leibeigne redete seinen Herrn »Väterchen« an und fühlte sich ihm gegenüber nicht gerade als Knecht. Vor allen Dingen aber war er nicht völlig landlos. Denn die zu einem Dorfe gehörenden Bauern besaßen eine gewisse Fläche als Gemeindeland zu Eigentum, in das allerdings der Gutsherr Leute einzuweisen oder aus ihr fortzunehmen berechtigt war. Ihren patriarchalischen Charakter aber büßte die L. allmählich vollständig ein. Der russische Adel lebte von seinen Gütern fern, im Ausland oder in den Residenzen, und entfremdete sich seinen Bauern. Die Verwalter verfuhren mit den Leibeignen willkürlich und grausam. Zahlreiche Leibeigne strebten vom Gute fort, der gewerblichen Arbeit zu. Vermietungen von Leibeignen in die neu aufkommenden Fabriken waren keine Seltenheit. Gegen die Zahlung einer jährlichen Abgabe, des sogen. obrok, wurde den Leibeignen der Aufenthalt außerhalb des Gutes gestattet und so kam es vor, daß in den Städten Kapitalisten, Bankiers, Künstler etc. lebten, die noch in ihren Gemeinden als »leibeigen« eingeschrieben waren. Solchen unwürdigen, mit dem modernen Staats- und Völkerleben unvereinbaren Zuständen ein Ende zu machen, war schon das Bestreben Alexanders I., doch gelang damals die Reform nur in den von deutschen Gutsbesitzern bewohnten baltischen Provinzen. In Livland ordnete, nachdem bereits einige Landtagsbeschlüsse aus dem Ende des 18. Jahrh. den Bauern geschützt hatten, die Bauernverordnung vom 20. Febr. 1804 die bäuerlichen Verhältnisse in zweckmäßiger Weise und verwandelte für den freilich geringern Teil der bäuerlichen Bevölkerung die L. in eine gesetzlich geordnete Schollenpflichtigkeit. Die L. der auf dem herrschaftlichen Hofe oder im bäuerlichen Gesinde dienenden Knechte aber wurde gemildert. In Esthland wurde 1802 den Bauern das erbliche Nutzungsrecht von den Ländereien zugesichert und 23. Mai 1816 allen die persönliche Freiheit gewährt. In Kurland wurde 25. Aug. 1817 die Freilassung der Bauern unter den gleichen Bedingungen wie in Esthland ausgeschrieben, und diesen Beispielen folgte die livländische Ritterschaft mit der Verordnung vom 26. Juli 1819. Alexanders Nachfolger, Kaiser Nikolaus, erließ dann verschiedene Ukase, welche die materielle Lage der Leibeignen, indem sie ihnen das Recht zum selbständigen Vermögenserwerb einräumten, erleichterten. Die eigentliche Emanzipation aber gelang erst Alexander 11. Man muß bei ihr unterscheiden: die Domänebauern, Apanagebauern und gutsherrlichen Bauern. Die erstern galten staatsrechtlich nicht als leibeigen, sondern nur als schollenpflichtig; eine Reihe von Verordnungen regelte ihre Verhältnisse, bis das Gesetz vom 12. Juni 1886 sie mit den frühern gutsherrlichen Bauern gleichstellte. Die Apanagebauern erhielten ihre persönliche Freiheit durch Gesetz vom 20. Juni 1858 und 26. Juli 1859; ihre agrarrechtliche Auseinandersetzung erfolgte durch Gesetz vom 26. Juni 1863. Die gutsherrlichen Bauern endlich wurden durch Gesetz vom 19. Febr. 1861 frei, das die Aufhebung der L. für den ganzen Umfang des russischen Reiches auf den 17. März 1863 feststellte. Als Vorbereitungen waren vorausgegangen der Ukas vom 2. Dez. 1857, der dem Adel den kaiserlichen Wunsch kundtat, er möge darüber beraten, »wie die Lage der Bauern gegenüber den Eigentümern der adligen Güter durch genaue Bestimmung ihrer wechselseitigen Verpflichtungen und Beziehungen zu verbessern und zu sichern sei«. So trat 1858 ein »großes Leibeigenschaftskomitee« von zwölf Mitgliedern unter dem Vorsitz des Kaisers selbst zusammen, dem dann in den einzelnen Gouvernements besondere Komitees unterstellt wurden, welche die Emanzipation der Leibeignen vorzubereiten hatten. Das neue Gesetz erteilte den russischen Leibeignen die persönliche Freiheit, behielt aber die bisherigen Gemeindeverhältnisse,[351] namentlich den Gemeindebesitz, bei, um die Bauern allmählich erst an die Freiheit zu gewöhnen. Den Gemeinden wurde den Gutsherren gegenüber die Verpflichtung auferlegt, ihre Mark von diesen entweder eigentümlich zu erwerben, oder in Erbpacht zu nehmen, indem die Gemeinde als solche für die dem Herrn dagegen zu entrichtenden Leistungen an Geld oder Arbeit einzustehen hatte (sogen. Gemeinbürgschaft). Übrigens stand der Staat dabei den Gemeinden durch die Gewährung von Vorschüssen helfend zur Seite. Diese »Loskaufsoperation« wurde wesentlich gefördert durch die Gesetze vom 1. März, 30. Juli und 2. Sept. 1863, welche die Zwangsablösung des Bauernlandes in den westlichen Gouvernements verfügten. Diese wurde durch spätere Verordnungen vervollständigt, so namentlich 28. Dez. 1881 in betreff des Bauernlandes der Bauern, die am 1. Jan. 1883 noch in zeitweilig verpflichtenden Beziehungen zum Gutsherrn standen. Endlich wurde am 18. Mai 1882 die staatliche Bauernagrarbank errichtet, die dazu bestimmt ist, durch Darlehen die käufliche Erwerbung von Land den Bauern zu erleichtern. Auf diese Weise ist das große Emanzipationswerk als in der Tat gelungen zu bezeichnen, und wie berechtigt auch immer im einzelnen die Klagen sein mögen, so läßt sich nicht leugnen, daß die Aufhebung der L. die Landwirtschaft und den Wohlstand in Rußland bedeutend gehoben haben (vgl. Art. »Bauer«, S. 458 u. 459). Vgl. Kindlinger, Geschichte der deutschen Hörigkeit, insbesondere der sogen. L. (Berl. 1819); J. Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer (3. Ausg., Götting. 1881); Sugenheim, Geschichte der Aufhebung der L. in Europa bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Petersb. 1861); Eckardt, Rußlands ländliche Zustände (Leipz. 1870); Keußler, Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Rußland (Riga 187687, 3 Tle.); J. Engelmann, Die L. in Rußland (Leipz. 1884); Semenow, Die Befreiung der Bauern unter der Regierung Kaiser Alexanders II. (russ., Petersb. 188993); H. v. Samson, Die Verlumpung der Bauern in Rußland (das. 1892); Knapp, Über L. in Deutschland seit Ausgang des Mittelalters (»Zeitschrift für Rechtsgeschichte«, Bd. 19, S. 16 ff.); Jordan-Rozwadowski, Die Bauern des 18. Jahrhunderts und ihre Herrn (»Jahrbücher für Nationalökonomie«, 3. Folge, Bd. 20, 1900). Vgl. auch den Artikel »Bauernbefreiung« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«.
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