Gleichgewicht

[400] Gleichgewicht, 1) (Aequilibrium), der durch zwei od. mehrere auf einen Punkt od. ein System mehrer mit einander verbundener Punkte wirkende Kräfte hervorgebrachte Zustand der Ruhe. Die beiden Sätze, auf welchen alle Gesetze des G-s beruhen, sind: der Grundsatz, daß ein Punkt in Ruhe bleibt, wenn zwar gleiche Kräfte nach gerade entgegengesetzten Richtungen gleichzeitig auf ihn einwirken; u. das Gesetz, daß zwei nach verschiedenen Richtungen auf einen Punkt wirkenden Kräften durch eine dritte Kraft das G. gehalten wird, welche der Resultante der beiden ersteren gleich u. entgegengesetzt ist, u. zwar findet man jene Resultante, wenn man die beiden Kräfte nach Größe u. Richtung durch gerade Linien darstellt, dieselben zu einem Parallelogramm ergänzt u. durch den Angriffspunkt die Diagonale zieht. Hieraus folgen die Gesetze des G-s an der schiefen Ebene, am Hebel u.s.f. Ein fester Körper befindet sich im Zustande des G-s, wenn er in seinem Schwerpunkte so unterstützt ist, daß ein geringes hinzukommendes Kraftmoment eine Bewegung erzeugt, ohne dieses aber der Zustand der Ruhe fortdauert. Ein Beispiel dieser Art ist eine in ihrem Mittelpunkte unterstützte Scheibe von überall gleicher Masse u. Dicke. Der Zustand des G-s bei flüssigen Körpern tritt dann ein, wenn gleich schwere Säulen derselben sich wechselseitig zu bewegen streben, dieses aber wegen der einander entgegenwirkenden gleichen Kräfte wirklich zu erreichen nicht vermögen (vgl. Communicirende Röhren, s. auch unt. Druck); od. wenn sowohl feste, als auch flüssige Körper in letzteren vermöge ihres Gewichtes herabzusinken streben, ohne daß dieses wegen des Gegendruckes der Flüssigkeiten wirklich geschehen kann (vgl. Statik, Hydrostatik u. Aërostatik). Ein Körper befindet sich im labilen G., wenn er, nachdem man ihn ein wenig aus seiner Ruhelage verrückt hat, nicht wieder in dieselbe zurückkehrt, sondern eine davon ganz verschiedene anzunehmen sucht, z.B. ein um eine Achse drehbarer Körper, dessen Schwerpunkt gerade senkrecht über dem Drehungspunkt sich befindet; dagegen in stabilem G., wenn er nach einer Drehung wieder in die vorige Ruhelage zurückzukehren strebt, z.B. ein um eine Achse drehbarer Körper, dessen Schwerpunkt senkrecht unter dem Drehungspunkt ist od. auch ein schwerer Körper, der auf einer oberen Unterlage steht; endlich in indifferentem G., wenn er so um eine Achse drehbar ist, daß er in jeder Lage in Ruhe bleibt, z.B. ein um seinen Schwerpunkt drehbarer Körper. Hiernach erklärt man sich den Festigkeitszustand od. die Stabilität der Körper, indem man annimmt, daß jedes Element derselben durch entgegenwirkende Anziehungs- u. Abstoßungskräfte in beharrlicher Ruhe erhalten wird, aus welcher er nur durch das Hinzukommen neuer bewegender Kräfte od. eine Vermehrung der Wirksamkeit der bestehenden gebracht werden kann, wodurch dann eben der stattgefundene Zustand des G-s aufhört. 2) G. der Staaten (lat. Bilanx s. Trutina gentium, franz. Balance du pouvoir, Equilibre politique, Système de contre-poids), das Bestreben der Staaten, die schwankenden äußeren Verhältnisse gegen einander dadurch zu befestigen u. sich einem rechtlichen ruhigen Besitzstande in so weit zu nähern, daß mindestens alle größeren Staaten hinsichtlich ihrer Nationalkraft in einem möglichst gleichen Verhältniß zu einander stehen u. daher die nach außen strebende Macht, von den übrigen gemäßigt, für keinen Theil Bedrückung od. Beschränkung herbeizuführen im Stande ist. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein solches G. wesentlich zum Schutze der Nationen gegen eine verderbliche Üniversalherrschaft u. zur Ausbildung eines geordneten völkerrechtlichen Verhältnisses der Staaten unter einander dienen kann. Insofern hat die Idee eines solchen G-es nicht blos eine praktische Bedeutung, sondern auch eine durch die Staatsklugheit gebotene Berechtigung. Allein oft genug ist das G. d. St., welches überhaupt sich seiner Natur nach nie vollständig u. bei der verschiedenen Entwickelungsfähigkeit der Nationalkräfte nie mit sicherer Aussicht auf längere Zeit herstellen lassen wird, auch benutzt worden, um unter dem Vorwand der Wiederherstellung desselben die begründetsten Rechtsverhältnisse über den Haufen zu werfen. Zum System wurde die Idee des politischen G-s in neuerer Zeit zuerst im 15. Jahrh. in Italien gebildet, als Frankreich seine Ansprüche auf Neapel geltend machte, wodurch in allen Staaten das Gefühl der Nothwendigkeit entstand, sich dieser Übermacht entgegen zu stellen. Allmälig verbreitete sich das G. d. St. im 16. Jahrh. über die südeuropäischen Staaten u. war im 17. Jahrh. der Beweggrund welcher die Fürsten Europas gegen Österreich bewaffnete. Es trat hier zum ersten Male der Fall ein, daß, ungeachtet dieses allgemeinen Hauptzwecks, keine Einigkeit unter den Fürsten selbst war, in ihrer Mitte kein an innerer u. äußerer Kraft ausgezeichneter Mann aufstand u. Schweden der Vereinigungspunkt aller Kräfte werden mußte. Durch diesen Kampf begründete sich in Deutschland der Mittelpunkt des Gleichgewichtssystems u. verbreitete sich von hier aus im. 18. Jahrh. über ganz Europa. Bes. war es eine Hauptmaßregel der Politik Friedrichs d. Gr., es zu bewahren. In neuerer Zeit wurde durch die Fortschritte Frankreichs zur Zeit der Revolution u. unter Napoleon das G. d. St. fast ganz aufgehoben; doch suchte es der Pariser Friede 1814 wieder herzustellen. Doch ist dies nur bei den Landmächten, weniger zur See gelungen, woher sich erklärt, einestheils daß gerade das Völker-Seerecht noch die schwächste Seite des internationalen Rechtes ist, anderntheils, daß in neuerer Zeit gerade in dieser Richtung hin ein entschiedenes Streben der Mächte, sich auf einen gleicheren Fuß zu setzen, hervortritt. Vgl. Vogt, System des G-s u. der Gerechtigkeit, Frkf. 1802; v. Schmettow, Gedanken über stehende Heere, politisches G. etc., Alt. 1793; Theopluton, Vom Götzendienst unserer Zeit: Erster Götze, politisches G., Berl. 1818; Justi, Chimäre des G-s von Europa, Alt. 1758 f., 2 Thle.; Gaspari, Über das politische G. der europäischen Staaten, Hamb. 1793; Hendrich, Versuch über das G. der Macht bei den alten u. neuen Staaten, Lpz. 1796; Gentz, Fragmente aus der Geschichte des politischen G-s in Europa, Lpz. 1804 f.; Butté, Ideen über das politische G. von Europa, Lpz. 1813.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 400.
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