Chirurgīe

[69] Chirurgīe (griech., »das Arbeiten mit der Hand, Handwerk«; übertragen: die mit den Händen wirkende ärztliche Kunst), ein Teil der Medizin, der sich im allgemeinen mit der Behandlung der sogen. äußern Krankheiten beschäftigt und auch Wundarzneikunst genannt wird, weil als äußerlich sichtbare Schäden zunächst die Wunden in Betracht kommen. Sowenig aber eine scharfe Grenze zwischen innern und äußern Krankheiten zu ziehen ist, sowenig läßt sich zwischen C. und innerer Medizin eine strenge Unterscheidung aufstellen. Beide Zweige der praktischen Medizin schließen sich nicht gegenseitig aus, ergänzen vielmehr einander. Früher (in Deutschland bis 1848) wurden allerdings auf den Universitäten innere Ärzte (medici pu ri) und Chirurgen (Wundärzte) ausgebildet. Heute aber verlangt man gleichmäßig von jedem Arzte die Ablegung des alle Zweige der Medizin umfassenden Examens zum »praktischen Arzt«.

Die C. wendet teils nur Manipulationen (Mechanurgie) an, wie bei der Reponierung von Brüchen, der Einrichtung von Verrenkungen, der Massage etc., teils macht sie operative Eingriffe, bei denen in der Regel Blut fließt (blutige Operationen; Operationslehre, Akiurgie). Einen besondern Teil der C. bildet die Lehre von den Instrumenten und die Verbandlehre. Die Kriegschirurgie lehrt die Anwendung allgemem chirurgischer Grundsätze auf die[69] im Kriege vorzugsweise vorkommenden chirurgischen Krankheiten. Zur niedern C., im Gegensatze zur höhern C., rechnet man das Aderlassen, Ansetzen von Schröpfköpfen und Blutegeln, Zahnausziehen etc.

Geschichte. Die Anfänge der C. sind wahrscheinlich bei den Ägyptern zu suchen; ihre Ärzte begleiteten das Heer in den Feldzug und führten Amputationen, Steinschnitt und andre große Operationen aus. Für viel vollkommener würde die C. der alten Indier gelten müssen, wenn ihr berühmtes medizinisches Werk »Ayurveda oder Buch der Lebenskunde«, von Susrutas, wirklich aus der Zeit von 1400–1000 v. Chr. stammte. Bei den Griechen erfreute sich die C. schon zu Hippokrates' Zeiten (460–377) einer großen Blüte; wegen der mangelhaften Ausbildung der Anatomie und Physiologie konnten aber größere blutige Operationen nicht in Aufnahme kommen. Dagegen leisteten griechische Ärzte z. B. auf dem Gebiete der Knochenbrüche und Verrenkungen schon Ausgezeichnetes, besonders in der Zeit nach Hippokrates in Alexandria. Zu den Römern wurde die C. von Griechenland aus gebracht. Aulus Cornelius Celsus (1. Jahrh. n. Chr.) spricht schon von plastischen Operationen, von den Unterleibsbrüchen; auch gibt er eine Amputationsmethode an, die noch heute geübt wird. Die spätern römischen Ärzte, selbst Galenus (gest. 201), haben die C. nicht wesentlich gefördert; doch versuchte Galenus der C. wieder Heilkunde überhaupt eine anatomische Grundlage zu geben. Der Zusammenhang zwischen der römischen und der spätern westeuropäischen Kultur wurde durch die Araber vermittelt, die auch die Führung in der medizinischen Wissenschaft übernommen hatten. Allein bei ihrer auf religiösen Vorurteilen beruhenden Scheu vor blutigen Operationen brachten sie es nur zu größerer Sicherheit in Unterscheidung und Erkennung chirurgischer Krankheiten, und an Stelle des Messers bedienten sie sich des Glüheisens, das sie in der größten Ausdehnung anwendeten. Hauptrepräsentanten der arabischen C. waren Rhazes (850–932), Avicenna (980–1037), Abulkasem (gest. 1106) und Avenzoar (gest. 1162). Nach der Zeit der Araber blühte die Medizin in der Schule zu Salerno in Unteritalien. Der berühmteste Wundarzt dieser Schule ist Roger von Parma (um 1200). Zu neuer Blüte erwachte das Studium der C. im 13. Jahrh. auf den Universitäten Neapel, Bologna und Padua. Von Italien aus wurde dann die C. vorzugsweise durch die Bemühung Lanfranchis (1295) nach Frankreich verpflanzt, wo bereits 1271 das Kollegium der Chirurgen in Paris gegründet worden war, und wo die C. von nun an eine bleibende Pflegstätte fand. Der berühmteste unter den ältern französischen Chirurgen ist Guy de Chauliac, der auch 1363 ein lange in Ansehen stehendes Lehrbuch der C. geschrieben hat. Eine neue Zeit brach für die C. an, als im Laufe des 16. Jahrh. die Anatomie neu begründet und wissenschaftlich ausgebildet wurde. An der Spitze dieser Reformation stand der Niederländer Vesalius. Dazu kam, daß nach Erfindung des Schießpulvers der C. ein ganz neues Gebiet, nämlich das der Schußwunden, zufiel, die als erster Schriftsteller Hieronymus Braunschweig, demnächst der Straßburger Chirurg Gersdorff behandelte; diesem folgten L. Botallo u. a. In dem Buche des letztern (s. unten, S. 71) sind die noch heute gebräuchlichen Trepanationsinstrumente in vollkommenster Weise ausgebildet. – Die Schrift des französischen Chirurgen Ambroise Paré (1517–96) über die Schußwunden und die von ihm eingeführte Arterienunterbindung bildete den Ausgangspunkt für die Umgestaltung der gesamten C. Epochemachend in der Geschichte der C. ist die Gründung der Akademie der C. in Paris 1731, die in jeder Beziehung der medizinischen Fakultät daselbst gleichgestellt wurde und fast ein Jahrhundert lang für die C. in ganz Europa tonangebend blieb. An der Spitze der chirurgischen Akademie standen Männer wie Petit, Desault, Percy u. a., die zusammen mit hervorragenden englischen Wundärzten als die Gründer der modernen C. betrachtet werden müssen. Unter den berühmtesten Chirurgen dieser Periode zählen wir Männer wie Pott, William und John Hunter (1728–93), Benjamin Bell (1749 bis 1806), Cheselden, Alex. Monro u. a. Hinter diesen Männern stehen die deutschen Chirurgen des 18. Jahrh. weit zurück. Der bedeutendste von ihnen ist wohl Lorenz Heister (1683–1758). Mehr Aufschwung kam in die deutsche C. erst mit dem Anfang des 19. Jahrh., besonders durch v. Siebold (gest. 1807) und August Gottlob Richter (gest. 1812). Von jetzt an traten, in Deutschland wenigstens, die Professoren der C. wieder in den Vordergrund und behaupteten fortan diese Stellung, weil sie, anstatt wie früher nur der Theorie nachzugehen, jetzt die C. auch praktisch ausübten. Doch nahmen noch im Anfang des 19. Jahrh. die französischen Chirurgen den ersten Rang ein; Männer wie Boyer, Delpech, Dupuytren, Larrey, der unter anderm auch die beweglichen oder fliegenden Lazarette (Feldlazarette) in die Kriegschirurgie einführte, übten auf die Ausbildung der C. den wohltätigsten Einfluß aus. Neben ihnen erhob sich in England als Autorität Astley Cooper (1768 bis 1841). Die Schriften der genannten Wundärzte regten zunächst auch in Deutschland das Interesse für die C. an. Bald aber trat auch hier eine selbständige Arbeit auf diesem Feld, und zwar in der nachhaltigsten und gediegensten Weise ein. Zu dem Aufschwung der C. in Deutschland, das mit England die geistige Führerschaft an sich gerissen hat und noch festhält, haben zunächst österreichische Ärzte, namentlich Vinzenz v. Kern in Wien, den Anstoß gegeben. Aus seiner Schule stammen Männer wie Ruft, v. Gräfe, der Wiedererwecker der plastischen C. (Anaplastik), Langenbeck der ältere u. a. In der ersten Hälfte des 19. Jahrh. übte den größten Einfluß auf die gegenwärtige Gestalt der C. in Deutschland Dieffenbach (gest. 1847) aus, einer der genialsten und kühnsten Operateure, die es bis dahin gegeben hatte. Je mehr die C. unsrer Tage auf dem Boden anatomischer und physiologischer Studien hervorgewachsen ist, um so bestimmter konnte sie ihre Aufgaben und die Grenzen ihrer Wirksamkeit feststellen. Sie hat ihre wichtigste und schönste Aufgabe nicht im Zerstören und Schneiden, sondern in der Erhaltung der erkrankten Teile erkannt. Auf jedem ihrer Gebiete sind unter dem Einfluß von Stromeyer und Langenbeck die Grundsätze der konservativen C. zur Herrschaft gelangt. Gefördert wurde diese Richtung durch die Entdeckung der schmerzstillenden Wirkungen der Einatmung von Äther und Chloroform. Durch das Chloroform hat das chirurgische Verfahren unendlich an Sicherheit gewonnen, und die operativen Aufgaben selbst konnten dadurch beträchtlich erweitert werden. Einen Glanzpunkt in der konservativen C. bildet die Behandlung verletzter oder durch schwere Krankheitszustände veränderter Gelenke durch die Resektion v. Langenbecks sowie die ausgedehnte Anwendung der unbeweglichen (Gips-) Verbände, namentlich in der Kriegschirurgie. Auf dem Gebiete der plastischen Operationen,[70] durch die fehlende Teile, z. B. Defekte der Lippen, der Nase, der Augenlider, der Wangen etc., ersetzt werden, stehen in unerreichter Meisterschaft Dieffenbach und sein Nachfolger v. Langenbeck. Die Überhäutung schwer oder gar nicht heilender Wunden wurde erreicht durch die Überpflanzung gesunder Haut (Transplantation), um die sich besonders Reverdin (Genf) und Thiersch (Leipzig) Verdienste erwarben. Ein wesentlicher Fortschritt war auch die Einführung der Galvanokaustik in die C. durch Middeldorpff, durch die es gelingt, größere Operationen ohne Blutverlust auszuführen, ein gleicher die subkutane Muskel- und Sehnendurchschneidung zum Zweck der Beseitigung von Verkrümmungen der Glieder, des Schielens etc.; die Zertrümmerung der Harnsteine in der Blase oder die Lithotripsie, um die sich die französischen Wundärzte Civiale, Henrteloup und Leroy d'Etiolles, in neuester Zeit Bigelow (1875) durch Einführung der Litholapaxie (Zertrümmerung des Steines in einer Sitzung), unsterbliche Verdienste erworben haben; die Anwendung des Kehlkopfspiegels zum Zweck operativer Eingriffe am Kehlkopf ohne blutige Eröffnung desselben (v. Bruns) etc. Die jüngste Ära in der C. hat vielleicht den Anspruch auf die Krone aller Verdienste, da sie den gefährlichsten Feind aller blutigen Operationen, die Wundinfektionskrankheiten, mit einem Erfolg bekämpft, der die Sterblichkeitsziffer selbst bei den größten Operationen auf ein früher für unmöglich gehaltenes Minimum herabsetzt. Sie datiert vom Ende der 1860er Jahre, seit Erforschung der pflanzlichen Krankheitserreger, seit der Einführung des antiseptischen Listerschen Verbandes. Um die systematische Anwendung dieser Methode machten sich in Deutschland v. Volkmann, v. Nußbaum, Hueter, Billroth u. a. verdient. Sie wurde im Laufe der Jahre in manchen Punkten verändert, ihre Bedeutung aber dadurch lediglich erhöht. Der von Lister benutzte Spray kam in Wegfall, die antiseptische Methode wurde für viele Fälle, so besonders für Operationen in der Bauchhöhle, in die aseptische umgewandelt etc. Mit dem nunmehr gebräuchlichen Verfahren ist es möglich, früher äußerst gefährliche Eingriffe ohne große Verluste an Menschenleben durchzuführen, so die Operationen in der Bauchhöhle, die sich auf alle Organe derselben erstrecken, die Operationen an den Gelenken, in der Schädelhöhle etc. – Die niedere C. (s. oben) darf in Deutschland von Heilgehilfen ausgeübt werden. Die wissenschaftlichen Chirurgen sind zunächst auch praktische Ärzte und werden nur auf den Universitäten ausgebildet. Nur in England besteht noch eine ziemlich strenge Grenze zwischen Chirurgen (surgeons) und Ärzten (physicians). Auf Anregung v. Langenbecks traten 1872 die deutschen Chirurgen zu der Deutschen Gesellschaft für C. zusammen, die alljährlich in Berlin einen Chirurgenkongreß abhält und über diesen in den »Verhandlungen« berichtet. Seit 1892 tagt die Gesellschaft in einem eignen Hause, dem Langenbeckhaus.

Vgl. »A. Corn. Celsi de medicina libri octo« (Zweibrücken 1786); »De Sclopetorum vulneribus curandis, autore Leonardo Botallo« (Vened. 1597); Stromeyer, Handbuch der C. (Freiburg 1844–68, 2 Bde.); Pitha und Billroth, Handbuch der allgemeinen und speziellen C. (Stuttg. 1865–82, 4 Bde.); Bardeleben, Lehrbuch der C. und Operationslehre (8. Aufl., Berl. 1879–82, 4 Bde.); Roser, Handbuch der anatomischen C. (8. Aufl., Tübing. 1883); Billroth, Allgemeine chirurgische Pathologie u. Therapie (15. Aufl. von Winiwarter, Berl. 1893); König, Lehrbuch der allgemeinen (das. 1883–89, 3 Tle.) und Lehrbuch der speziellen C. (7. Aufl., das. 1898–1900, 3 Bde.); Albert, Lehrbuch der speziellen C. (5. Aufl., Wien 1897–98, 2 Bde.); Mosetig-Moorhof, Handbuch der chirurgischen Technik (4. Aufl., das. 1898); »Deutsche C.« (Sammelwerk, begründet von Billroth und Lücke, fortgesetzt von Bergmann und Bruns, Stuttg. 1879ff., noch nicht abgeschlossen); Bergmann, Bruns und Mikulicz, Handbuch der praktischen C. (mit andern; 2. Aufl., das. 1901, 4 Bde.); Till mann s, Lehrbuch der allgemeinen und speziellen C. (8. Aufl., Leipz. 1901, 2 Bde.); Lossen, Lehrbuch der allgemeinen und speziellen C. (7. Aufl. von Hueters »Grundriß«, das. 1896ff.); Landerer. Handbuch der allgemeinen chirurgischen Pathologie und Therapie (2. Aufl., Wien 1898); Leser, Die spezielle C. (5. Aufl., Jena 1902); »Enzyklopädie der gesamten C.« (hrsg. von Kocher u. Quervain, Leipz, seit 1901ff.); Seydel, Lehrbuch der Kriegschirurgie (Stuttg. 1893); Sprengel, Geschichte der C. (Halle 1805–19, 2 Bde.); Häser, Übersicht der Geschichte der C. und des chirurgischen Standes (1. Lief. von Billroths u. Lückes »Deutscher C.«, Stuttg. 1879); Gurlt, Geschichte der C. und ihrer Ausübung (Berl. 1898, 3 Bde.); Tillmanns, Hundert Jahre C. (Leipz. 1898); Ullmann, Die Fortschritte der C. in den letzten Jahren (Wien 1902). – Zeitschriften: »Archiv für klinische C.«, begründet von v. Langenbeck (Berl., seit 1860); »Deutsche Zeitschrift für C.« (redig. von Rose u. Helferich, Leipz., seit 1872); »Zentralblatt für C.« (hrsg. von Bergmann, König, Richter; das., seit 1874).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 69-71.
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