Nordische Kultur und Kunst

[761] Nordische Kultur und Kunst (hierzu Tafel »Nordische Kultur und Kunst I und II«), im allgemeinen ein Sammelname für alle Erzeugnisse der Kunstübung u. der Handfertigkeiten, die sich aus der Vorzeit der skandinavischen Halbinsel und Dänemarks erhalten und ihren Einfluß bis jetzt in der dortigen Kunst und Industrie und im häuslichen Gewerbfleiß behauptet haben (vgl. Nordische Altertümer). Im engern Sinne versteht man darunter die Kultur in Schweden und Norwegen, die sich in diesen Ländern reiner und ursprünglicher erhalten hat als in dem mit dem Festland enger zusammenhängenden Dänemark. Die n. K. u. K. hat sich in erster Linie nach dem von der Natur gebotenen Material gestaltet, nach dem Holz, das die Wälder in ungemessener Fülle bieten, und nach den aus dem Innern der Berge zutage geförderten Erzen. So entwickelte sich einerseits der Holzbau, anderseits eine lebhafte Metallindustrie, die auch die Werkzeuge zur Bearbeitung des Holzes lieferte. Aus Holz baute sich die seefahrende Bevölkerung ihre Blockhäuser und ihre Schiffe, und als ihnen durch irische und angelsächsische Mönche im 10. Jahrh. das Christentum gebracht wurde, ihre Kirchen, deren in langgestreckten Drachenhälfen auslaufende Giebelbalken an die Schiffe der Wikinger erinnern (Tafel I, Fig. 2), während der freistehende Glockenturm wohl auf die Überlieferungen zurückzuführen ist, die die christlichen Glaubensboten aus Italien mitgebracht hatten. Solcher Holzkirchen, die auch im Innern eine reine Holzkonstruktion zeigen (Tafel I, Fig. 3), haben sich in Schweden und Norwegen noch etwa 80 erhalten. Im Wohnhausbau beschränkte man sich auf Balken zur Konstruktion und Bretter zur Verkleidung (Tafel I, Fig. 4). Farbiger Anstrich, seltener ornamentales Schnitzwerk bildeten den Schmuck. Nur bei Kirchen war der Schmuck an Schnitzwerk reicher. Hier entwickelte sich allmählich ein eigenartiger ornamentaler Stil (Band- und Rankenverschlingungen mit phantastischen Tierfiguren), der in seinen Anfängen wohl auf die Bilderhandschriften der irischen Mönche zurückzuführen ist (Tafel II, Fig. 25). In neuester Zeit ist der altnordische Holzbaustil wieder aufgenommen worden (Tafel I, Fig. 5), namentlich für ländliche Wohnhäuser, und hat auch auf dem Kontinent, besonders in Deutschland durch Kaiser Wilhelm II., Nachahmung gefunden. Auch für transportable Bauwerke, für Hausgeräte jeglicher Art war das Holz das wohlfeilste und bequemste Material, an dem sich die Handfertigkeit der Skandinavier bis zur höchsten Virtuosität entwickelte, wobei der Ornamentik meist noch durch Bemalung nachgeholfen wurde (Tafel II, Fig. 1–3, 5–7, 10, 15–19). Der Metallreichtum des Landes rief daneben eine nicht minder lebhafte Industrie in Schmucksachen und Eßgeräten hervor, in deren Ornamentik ebenfalls eine selbständige Technik (besonders in Filigran) und Formensprache zur Geltung kam (Tafel II, Fig. 8, 9, 11–14; s. Tafel »Schmucksachen«, Fig. 20 u. 25). Noch mehr als in den Holzbauten und Holzschnitzereien machte sich die Farbenlust der Skandinavier in der Tracht geltend, in den Stickereien auf Wolle, Leinwand, Leder etc., die sich meist in linearen Mustern, in Wellenlinien und Rankenwindungen nach Art der Holzornamentik bewegten (Tafel I, Fig. 1 u. 6, und Tafel II, Fig. 4; vgl. auch Nordische Kunstweberei). Wie die Isländer waren auch die Lappländer zu ihrer Kleidung und zur Anfertigung ihrer Hausgeräte auf ihre Haustiere und ihre Jagdbeute angewiesen. Insbesondere lieferte ihnen das Renntier nicht nur die Felle zu ihrer Kleidung, sondern mit seinen Knochen auch das Material, aus dem Eßgeräte u. dgl. geschnitzt wurden (Tafel II, Fig. 20 bis 24). Nordischer Gold- und Silberschmuck wird in neuerer Zeit auch fabrikmäßig in Christiania, Stockholm, Kopenhagen u.a. O. nach alten Mustern hergestellt. Vgl. Dietrichson und Munthe, Die Holzbaukunst Norwegens (Berl. 1893); Mohrmann u. Eichwede, Germanische Frühkunst (Leipz. 1905ff.); Mühlke, Von nordischer Volkskunst (Berl. 1906); ferner Artikel »Holzbau«, S. 500, »Lappland«, S. 193, und Tafel »Volkstrachten I«, Fig. 1–5.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 761.
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