Zeichenkunst

[864] Zeichenkunst, die Kunst, Gebilde der Natur, der künstlerischen Phantasie, der Technik etc. vermittelst des Stiftes wiederzugeben oder zu veranschaulichen. Die Zeichnung ist entwederaus freier Hand entworfen (freie Zeichnung, freies Zeichnen), oder unter Anwendung von Hilfsmitteln nach bestimmten Gesetzen gefertigt: technische Zeichnung. Das freie Zeichnen beschäftigt sich mit ebenen Gebilden und mit Körpern. Ebene Gebilde werden in wahrer Form und Größe oder in verändertem Maße gearbeitet, Körper zeichnet man perspektivisch, d. h. so, wie sie dem Beschauer von einem bestimmten Ort aus erscheinen. Die ebenen Gebilde sind vorwiegend ornamentaler Natur (Flächenornamente, Flächenmuster) und dienen hauptsächlich dem Kunsthandwerk: Tapeten, Decken- und Wanddekorationen, Stickereien aller Art, Gardinenmuster, Gewebemuster, Initialen, Kopfleisten, Vignetten, Einfassungen u. dgl. Die zu zeichnenden Körper sind plastische Ornamente oder Gefäße, architektonische Formen, Pflanzen, Tiere, menschliche Körper etc. Die freie Zeichnung ist die Grundlage der Malerei; man unterscheidet die Skizze, d. h. den flüchtigen, aber charakteristischen Entwurf zur Festhaltung oder bessern Beurteilung eines zeichnerischen Gedankens; die Studie, d. h. eine Zeichnung einzelner Teile einer Komposition, z. B. nackter oder bekleideter Körper oder Körperteile (Akte, Gewandstudien), die als Vorbereitung für ein größeres Werk dient; die ausgeführte Zeichnung, die alle Einzelheiten einschließlich der Beleuchtungserscheinungen enthält, und den Karton, d. h. eine große Zeichnung in Umrissen mit geringer Schattenangabe als Hilfsmittel zu Wand- oder Staffeleimalereien, Teppichen, Mosaik-, Glasmalereien etc. Eine große Rolle spielt die künstlerische Zeichnung besonders in der Renaissance, und heute werden die Zeichnungen der großen Meister (Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael, Dürer etc.) ebenso gesucht und geschätzt wie ihre Gemälde. Besondere Arten der Z. sind die Illustration und die Karikatur (s. diese Artikel). Die freie Zeichnung wird zumeist mit weichem Bleistift in breiten, weichen Strichen im Umriß ausgeführt (Konturzeichnung). Enthält sie die Schattenangabe oder die Tönung eines Teiles in parallelen Strichen, so heißt sie schattiert und schraffiert. Oft werden diese Striche mit dem Wischer (franz. estompe) verwischt oder die Töne auch unmittelbar mit dem in Wischkreide getauchten Wischer aufgetragen: gewischte (estompierte) Zeichnung. Gewandte Zeichner bedienen sich anstatt des Bleistifts der schwarzen Kreide (Kreidezeichnung) oder der Kohle, des Rötels und des Blaustifts. Andre benutzen verschiedene farbige Stift e und verwischen deren Töne mit dem Wischer (Pastellzeichnung, Pastellmalerei). Die Beleuchtungserscheinungen werden auch mit dem Pinsel und stark verdünnter schwarzer Tusche oder Sepia angelegt und verwaschen (Lavieren; Tuschzeichnung), oder man läßt die einzelnen Töne unvermittelt stehen, arbeitet mit abgesetzten Tönen. Zeitweise beliebt waren Federzeichnungen (Umriß- und Schattenlinien, mit der Feder ausgezogen) und Zeichnungen auf mehrfarbigem, präpariertem Papier (papier pelé), aus dem die Lichter herausgeschabt[864] werden. Beim Zeichnen auf einfarbigem Tonpapier setzt man die Lichter mit weißer Kreide oder mit Zinkweiß auf (Zeichnungen in zwei Kreiden, aux deux crayons).

Die technische Zeichnung erfordert Kenntnis der Planimetrie und der darstellenden Geometrie und will in stufenmäßiger, vom Einfachen zum Schwierigen fortschreitender Weise erlernt sein. Die erste Stufe bilden die Konstruktionen ebener Gebilde, die Darstellung z. B. von Parkettmustern, Ellipsen, Spiralen, Zykloiden u. dgl. Es folgen die Projektionen. Die meist angewandte Parallelprojektion ist die rechtwinklige, orthogonale, orthographische Projektion, bei der die projizierenden (parallelen) Strahlen rechtwinklig, senkrecht zur Projektionsebene stehen. Sie wird verwendet beim Zeichnen der Grundrisse, Aufrisse, Seitenrisse, Schnitte. Auf ihr zum größten Teil beruhen Planzeichnungen, kartographische Zeichnungen (Krokis der Offiziere), Maschinenzeichnungen, Bau- (architektonische) Zeichnungen, fortifikatorische Zeichnungen u. a. Während diese Projektion zum Verständnis des Objekts mehrerer Zeichnungen bedarf, hat die Axonometrie nur ein Bild nötig. Sie stellt die Projektionsebene so, daß alle drei Ausdehnungen des Körpers in gleichem Maß erscheinen (isometrische Zeichnungen, die in den Werkzeichnungen der Handwerker, Maurer, Steinmetzen, Zimmerer etc. die Details in wahrer Größe gibt), oder so, daß nur zwei Körperachsen gleiches Maß erhalten (dimetrische Zeichnung), oder so, daß alle drei Achsen nach verschiedenem Maßstab behandelt werden (trimetrische Zeichnung). Die letztere Art ähnelt der perspektivischen Zeichnung. Außerdem wendet man bei technischen Zeichnungen die schiefe (klinogonale, klinographische) Projektion an, bei der die projizierenden Parallelstrahlen nicht rechtwinklig zur Projektionsebene stehen. Auf ihr beruhen die Kavalier-, die Militär-, die Frosch-, die Vogelperspektive; sie konstruieren nach gleichem Prinzip, aber bei verschiedener Stellung der Projektionsebene. Die Zentralprojektion oder Perspektive gibt das Bild eines Körpers seiner Erscheinung am ähnlichsten wieder (perspektivische Zeichnung). Die projizierenden Strahlen gehen dabei sämtlich durch einen Punkt. Zur vollendeten Ausführung technischer Zeichnungen gehört endlich die Kenntnis der Schattenkonstruktion, die Ermittelung der Eigen- und Schlagschattengrenzen und die Anlage der Schatten in Tusche (verwaschen oder in abgesetzten Tönen, s. oben).

Das Kopieren einer Zeichnung im Maßstab des Originals geschieht: 1) indem man die Hauptpunkte mittels Kopiernadeln (s. unten) auf das unter dem Original liegende Blatt überträgt und dann verbindet; 2) indem man das Original auf der linken Seite mit Kohle oder Graphit schwärzt, auf das neue Blatt legt und mit einem spitzen Griffel (harten Stift) unter mäßigem Druck überfährt und darauf das Durchgepauste nachzieht; 3) indem man die Zeichnung auf Pauspapier, Pausleinwand (glasartig durchsichtige Stoffe) überträgt und diese auf weißes Papier klebt. In verändertem (kleinerm [verjüngtem] oder größerm) Maßstab kopiert man 1) mittels des Quadratnetzes: ein quadratisches Fadennetz wird über das Original gespannt, ein Quadratnetz mit gewünschter kleinerer oder größerer Seitenlänge wird mit Bleistift auf das Papier gezeichnet und dann der Inhalt jedes Quadrats sorgfältig übertragen; 2) mittels des Storchschnabels (Pantographen), eines seit der Mitte des 17. Jahrh. bekannten Instruments; 3) mit Hilfe der Reduktionszirkel, Zirkel mit doppeltem, der Länge nach verstellbarem Schenkelpaar.

Kurvenlineal.
Kurvenlineal.

Der Z. dienstbar sind: der Zeichentisch mit breiter, geneigter, oft verstellbarer Platte; das Zeichen- (Reiß-) brett, rechteckig, aus weichem, astlosem (Linden- oder Pappel-) Holz mit stützenden Schrägleisten; die Reißschiene, ein dünnes Lineal mit einer am Ende rechtwinklig befestigten Schiene, zuweilen mit einer zweiten beweglichen, in beliebigem Winkel festzuschranbenden Schiene; das Dreieck aus Holz oder Hartgummi mit 45°-Winkeln oder mit 30°- und 60°-Winkeln neben dem rechten Winkel; das Kurvenlineal (s. Abbildung), ebenfalls aus Holz oder Hartgummi, zum Zeichnen der verschiedensten Kurven, für die einzelne Punkte durch Konstruktion bestimmt sind; das Parallel- und das Schraffierlineal zum Ziehen von Parallellinien; der Storchschnabel (s. oben); das Reißzeug, eine Zusammenstellung von Zirkeln u. Reißfedern zum Ausziehen der Konstruktionen mit Tusche; die Punktierfeder zur Ausführung verschiedenartig punktierter Linien; der Winkelmesser (Transporteur) zum Messen und Auftragen beliebiger Winkel; Reißnägel (Heftzwecken) zur Befestigung des Papiers; Zentrizwecken mit einer Vertiefung in der Mitte zur Aufnahme der bei der Ausführung von Kreisen feststehenden Zirkelspitze; Kopiernadeln, seine Stahlnadeln mit großem Kopf (s. oben). Man zeichnet auf Holz, Stein, Pergament, am häufigsten auf weißem oder auf farbigem (Ton-) Papier. Die bessern Bütten- (Schöpf-) Papiere sind den Maschinenpapieren gewichen, von denen die rheinischen (Düren) den Vorzug verdienen. Zu feinern technischen Zeichnungen und Aquarellen bedient man sich immer noch der englischen Whatman-Papiere. Das Papier wird meist nur mit Heftzwecken befestigt; soll jedoch getuscht werden, so ist das Aufkleben (Ausspannen) nötig. Der an den Rändern mit Klebstoff (Gummi, Kleister, Leim) versehene Bogen wird vollständig angefeuchtet auf das Reißbrett geklebt und ist nach dem Trocknen völlig glatt, kann auch wiederholt abgewaschen und mit Farbe überzogen werden. Um dem Zeichner das Ausziehen des Papiers zu ersparen, hat man eine Anzahl Zeichenbogen gleicher Größe auf solide Pappunterläge gebracht und mit Leinenstreifen aneinander geklebt (Zeichenblock).

Die Uranfänge der Z., künstlerischer Unterweisung im Zeichnen, mögen wir suchen bei Ägyptern, Assyrern, Indern, Persern, Etruskern. Im Mittelalter waren die Klosterschulen und die Bauhütten Pflanz- und Pflegestätten der Z. Bei diesen wie bei jenen ist an den sogen. Meisterunterricht zu denken: der Schüler sah dem Meister seine Kunst ab. Versuche zur Verallgemeinerung der Z. finden wir bei den Griechen, die Grammatik, Gymnastik, Musik und Zeichnen als Hauptgegenstände der Jugenderziehung ansahen; die Bestrebungen aber, die Z. zum Gemeingut des ganzen Volkes durch einen pädagogisch geordneten Unterricht zu machen, gingen von den großen Pädagogen des 17. Jahrh. (Comenius, Locke, Francke) aus. Im 18. Jahrh. erstrebten vor allen Rousseau und die Philanthropen einen geordneten Zeichenunterricht, Pestalozzi folgte ihnen darin nach, aber erst der Neuzeit war es vorbehalten, das Schulzeichnen zu einem Geist und Gemüt, Auge und Hand bildenden[865] Unterrichtsfach zu gestalten. Eine nachhaltige Bewegung sucht neuerdings den Schulzeichenunterricht mehr als bisher dem Leben und der Kunst dienstbar zu machen. Sie hat zuerst in den 1890er Jahren in Nordamerika, dann in Deutschland zahlreiche Anhänger gefunden und hat auch in den Schulen schon vielfache Erfolge aufzuweisen. Zur Förderung der Z. und des Zeichenunterrichts bestehen in Deutschland und der Schweiz zahlreiche Vereine, deren bedeutendster der Verein deutscher Zeichenlehrer ist. Vgl. Flinzer, Lehrbuch des Zeichenunterrichts (6. Aufl., Leipz. 1903); Ehrenberg, Die Kunst des Zeichnens (4. Ausg., das. 1898); Grau, Maßvolle Verwertung des Zeichnens im Unterrichte (Stade 1892); Hirth, Ideen über Zeichenunterricht und künstlerische Berufsbildung (4. Aufl., Münch. 1894); Konr. Lange, Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend (Darmst. 1893); Hirt, Die Volksschule im Dienste der künstlerischen Erziehung des deutschen Volkes (Leipz. 1897); »Educational pamphlets: Art education in the public schools, etc.« (Boston 1896); Muthesius, Der Zeichenunterricht in den Londoner Volksschulen (Gotha 1900); Wunderlich, Der moderne Zeichen- und Kunstunterricht (Stuttg. 1902); Kuhlmann, Neue Wege des Zeichenunterrichts (4. Aufl., das. 1905); Götze, Methodik des Zeichenunterrichts in der Volksschule (Hannov. 1903); Bürckner, Der Zeichenunterricht als Träger der Volksbildung (Stade 1904); Kerschensteiner, Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung (Münch. 1905); »Schauen und Schaffen. Zeitschrift des Vereins deutscher Zeichenlehrer« (Stade); »Deutsche Blätter für Zeichen- und Kunstunterricht« (Bochum); »Jahrbuch für den Zeichen- und Kunstunterricht« (hrsg. von Friese, Hannov. 1905 ff.); »Zeitschrift des Vereins österreichischer Zeichenlehrer« (Wien); »Monatsblatt für den Zeichenunterricht« (Stade); »Blätter für den Zeichen- und gewerblichen Berufsunterricht« (St. Gallen).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 864-866.
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