Napoleon I

[288] Napoleon I, Bonaparte, der berühmteste Mann der neuen Zeit, geb. d. 15. Aug. 1769 zu Ajaccio auf Corsica, 2. Sohn Karl Bonapartes, eines corsican. Patriciers u. der Lätitia Ramolino, einer hochgesinnten Frau, kam in seinem 11. Jahre in die Militärschule von Brienne, später nach Paris, studierte mit Vorliebe Mathematik und Geschichte und zeigte schon damals ungewöhnlichen Verstand u. Charakter. Er wurde 1785 Secondelieutenant im Regiment Lafère, 1786 Premierlieutenant im 4. Artillerieregiment, schloß sich der Revolution entschieden an, bekämpfte 1791 an der [288] Spitze eines Bataillons Demokraten die aristokratische Nationalgarde zu Ajaccio und als sich Paoli (s. d.) für England erklärte u. diesem die Insel in die Hände spielen wollte, leistete N. Widerstand, mußte aber mit seiner ganzen Familie nach Frankreich flüchten. Als Anhänger des Convents wurde dem jungen Bataillonschef das Commando der Artillerie bei der Belagerung Toulons übergeben; derselbe fand augenblicklich den richtigen Angriffspunkt und trug wesentlich zur Einnahme des wichtigen Platzes bei, was der Befehlshaber Dugommier in seinem Berichte auch öffentlich bezeugte. Am 6. Febr. 1794 wurde er Brigadegeneral u. Commandant der Artillerie der Armee von Italien, wo ein Feldzug nach seinem Plane ausgeführt werden sollte, was der 9. Thermidor vereitelte. Er selbst wurde als Jakobiner einige Tage verhaftet, schlug das Commando der Artillerie der Westarmee unter Hoche (gegen die Vendée) aus u. lebte zu Paris. Als der Convent einen General gegen die aufständischen Sectionen brauchte, übernahm N. den Befehl über die Conventstruppen und zerschmetterte am 17. Vendemiaire (5. Oct. 1795) den Aufstand. Zum Lohne wurde er Divisionsgeneral, erhielt bald darauf das Commando der italien. Armee und heirathete d. 9. März 1796 die Wittwe Josephine Beauharnais. Am 30. März eröffnete er den Feldzug mit 40000 Franzosen gegen 60000 Oesterreicher u. Sardinier, trennte durch die Schlachten bei Montenotte, Millesimo, Dego, Ceva, Mondovi (12.–17. April) das österr. u. piemontes. Heer u. zwang den Turiner Hof zu einem Frieden, der alle Hilfsquellen des Königreichs zu N.s Verfügung stellte. Die Aufstellung der Oesterreicher an der Adda durchbrach er durch die Erstürmung der Brücke bei Lodi (10. Mai), Parma und Modena erkauften den Frieden mit schweren Opfern; am 21. Mai ging N. über den Mincio u. bald hatte Oesterreich außer Mantua keinen Platz mehr in Oberitalien. Um Mantua drehte sich deßwegen der neue Kampf; Wurmser drang in 2 Colonnen anfangs siegreich aus den Thälern Tyrols gegen Mantua vor, allein durch die Treffen bei Lonato, Castiglione, Roveredo und Bassano wurde das österr. Heer zersprengt und theilweise unter Wurmser nach Mantua geworfen, dessen Belagerung jetzt wieder begann. Ein neues österr. Heer unter Alvinzi ward durch die Schlachten bei Caldiero, Arcole und Rivoli vernichtet und Mantua fiel am 2. Feb. 1797. Am 16. März siegte N. über den Erzherzog Karl am Tagliamento u. stürmte über Gradisca, Görz, durch Kärnthen und Krain gegen Wien vor, während Joubert mit 20000 Mann Tyrol occupirte. Oesterreich schloß die Friedenspräliminarien zu Leoben, denen am 17. October der Friede von Campo Formio folgte, durch den Frankreich das linke Rheinufer, die österr. Niederlande und die venetian. Inseln gewann, Oesterreich überdies die neugeschaffenen ital. Republiken anerkannte. N. hatte nämlich während seines Siegeslaufes den Großherzog von Florenz, den Papst u. den König von Neapel so erschreckt, daß sie um Frieden baten, u. zugleich aus der Lombardei und den dem Papste entrissenen Legationen eine cis- u. eine transpadanische Republik geschaffen, die er später zur cisalpinischen machte. Genua aber verwandelte er in eine ligurische u. ernannte wie in den andern die Directoren; der alten venetian. Republik dagegen machte er ein Ende u. trat sie im Frieden zu Campo Formio sammt Istrien und Dalmatien an Oesterreich ab. Die Unabhängigkeit Italiens herzustellen war er damals so wenig als später gesonnen, weil er Land u. Leute zu einer Einheitsverfassung untauglich fand, wohl aber dachte er schon zu jener Zeit daran, Italien für Frankreich dienstbar zu machen. Er kehrte über die Schweiz und Rastadt, wo der bekannte Congreß versammelt war, nach Frankreich zurück u. wurde mit Recht als der größte Held gefeiert. Dem Directorium ward seine Größe lästig; er selbst verachtete diese Regierung sowie das ganze republikanische Wesen, dessen Unhaltbarkeit er kannte, wollte aber einstweilen dessen Zerfall abwarten u. sich ein anderes Feld für seine Thätigkeit suchen. Mit genialem Blicke ersah er Aegypten; [289] gelang es. dasselbe zur franz. Colonie zu machen, so war Frankreich für alle an die Engländer verlorenen Colonien reichlich entschädigt, ihm die Herrschaft über das Mittelmeer gesichert u. England in Ostindien bedroht. Am 19. Mai 1798 schiffte N. sich mit 30000 Mann nach Aegypten ein. nahm Malta, Alexandrien, siegte bei den Pyramiden, scheiterte jedoch in Syrien vor St. Jean dʼAcre. Er zeigte in Aegypten sein beispielloses Organisationstalent und erschloß alle Hilfsquellen des Landes, aber die Seeschlacht von Abukir und der Zustand Frankreichs machten Aegypten unhaltbar, daher kehrte er nach Frankreich zurück, landete den 9. Octbr. 1799 bei Frejus und wurde von der Nation mit Jubel empfangen, denn von ihm allein erwartete sie die Rettung. Frankreich war nämlich in einen sehr unglücklichen Krieg mit Oesterreich, Rußland und England verwickelt und zudem drohte der Parteikampf der Republikaner u. Royalisten in einen Bürgerkrieg auszubrechen. Man hoffte von ihm eine Aenderung des Systems und der 18. Brumaire überraschte deßwegen niemanden, selbst die von dem Schlage Getroffenen nicht. N. wurde dadurch der Beherrscher Frankreichs, ließ sich zum Consul ernennen, unterordnete sich seine Collegen und gab Frankreich eine Verfassung, die unter republikanischen Formen eine förmliche Militärregierung war. Seine Herrschaft konnte aber allein dadurch befestigt werden, daß er Frankreich einen ehrenvollen Frieden verschaffte; deßwegen ging er im Mai in einem von dem Feinde nicht geahnten Marsch über den St. Bernhard u. erfocht am 14. Juni 1800 den Sieg bei Marengo. Der Sieg Moreaus bei Hohenlinden (Dezbr. 1800) zwang Oesterreich zum Frieden zu Luneville (1801), der Frankreich wieder zum Herrn über Italien und das ganze linke Rheinufer machte. Die anderen Staaten, selbst England, sahen sich zum Frieden genöthigt, den indessen N. selbst nur als Vorbereitungszeit zu einem neuen u. entscheidenderen Kampfe betrachtete; denn er hatte in die Verträge geflissentlich zweideutige u. zweifelhafte Bestimmungen aufgenommen. Die ruhige Frist benutzte N. trefflich; er ordnete die zerrütteten Finanzen, begründete die Bank, suchte den Handel auszudehnen und die Industrie zu befördern, schuf die centralisirte Verwaltung Frankreichs, veranlaßte die Abfassung eines allgemeinen Gesetzbuchs, schloß die Emigrantenlisten und machte den meisten Verbannten die Rückkehr möglich; gleichzeitig gab er durch ein Concordat mit Rom dem frz. Volke seinen Cultus wieder. In der Schweiz trat er als Vermittler auf und machte den dortigen Wirren ein Ende, die italien. Republiken aber formte er jeweilen nach seinem Gutdünken um. Einzelne Verschwörungen (Höllenmaschine 24. Dezbr. 1800; Pichegru und Cadoudal 1803) bedrohten sein Leben, dienten aber nur dazu. seine Gewalt noch mehr zu festigen; 1802 wurde er durch Volksabstimmung Consul auf Lebenszeit, am 18. Mai 1804 als Napoleon I. erblicher Kaiser der Franzosen und als solcher am 2. Dezember in Notre Dame von dem Papste gesalbt; den 26. Mai setzte er sich in Mailand die Krone des Königreichs Italien auf, das aus der italien., vorm als cisalpinischen Republik entstand, vereinigte Genua u. Parma mit Frankreich, was mit Piemont schon früher geschehen war, gab Lucca seiner Schwester Elisa, während die Fürsten des südwestlichen Deutschlands bereits von ihm abhängig waren und Spanien seiner Politik bereitwillig diente. Der Friede mit England hörte schon 1803 auf, weil beide Theile einander mit Recht nicht trauten u. deßwegen die Bedingungen des Friedens nicht erfüllten; N. bereitete von Boulogne aus eine Landung in England vor, wurde aber durch das Bündniß Oesterreichs und Rußlands nach Deutschland gerufen, wo sich ihm Baden, Württemberg u. Bayern anschlossen. Er vernichtete im Oct. 1805 ein österr. Heer in Ulm, war im Novbr. in Wien und gewann am 2. Dezbr. die entscheidende Schlacht bei Austerlitz, die zu dem Preßburger Frieden mit Oesterreich (26. Dezbr.) führte. N.s I. Uebermacht auf dem Festlande war jetzt gesichert und er traf alle Anstalten, um diese Uebermacht seinem Geschlechte u. Frankreich für die [290] Zukunft zu erhalten. Er löste durch den Rheinbund, welchen Bayern, Württemberg, Baden, Kurmainz, Darmstadt, Nassau, Hohenzollern etc. schlossen, das deutsche Reich auf u. wurde Protector des Bundes jener fürstlichen Vasallen, deren Gebiet er vergrößerte; seinen Stiefsohn Eugen vermählte er mit einer bayer. Prinzessin, seine Adoptivtochter Stephanie mit dem bad. Erbprinzen; sein Schwager und Reitergeneral Murat wurde Großherzog von Kleve u. Berg, sein Bruder Joseph König von Neapel, dessen bourbonische Dynastie er nach Sicilien vertrieb; seine Schwester Pauline erhielt Guastalla, sein Bruder Ludwig das Königreich Holland. Marschall Berthier das Fürstenthum Neuenburg; überdies gründete er einen neuen Erbadel, wie er schon als Consul den Orden der Ehrenlegion geschaffen hatte. Als hierauf Preußen, das seit 1794 allen Kämpfen ruhig zugesehen hatte, zu den Waffen griff, weil es sich von N. verachtet und betrogen sah, so vernichtete er an einem Tage, 14 Oct., durch die Schlachten bei Jena und Auerstädt die Macht dieser Monarchie, drang an die Weichsel vor, schlug das preuß.-russ. Heer bei Eylau und Friedland u. schloß zu Tilsit mit Rußland und Preußen Frieden (7. u. 9. Juli). Preußen verlor sein Gebiet bis an die Elbe sowie seine poln. Provinzen; Hessen-Kassel und Braunschweig hörten auf und dienten neben Hannover und preuß. Gebiete als Stoff zu dem neuen Königreich Westfalen, das N. seinem jüngsten Bruder Hieronymus gab, den er mit einer württemb. Prinzessin verheirathete. Wie wenig N. auf die Völker achtete, zeigte er am deutlichsten bei Polen; aus dem ehemaligen preuß. Polen schuf er zwar das Herzogthum Warschau, gab aber den Preußen abgenommenen Byalistocker Kreis an Rußland, den eigentlichen Erbfeind Polens. Hierauf traten außer Oesterreich und Preußen alle deutschen Fürsten in den Rheinbund u. wurden N.s Vasallen, der gleichzeitig in Frankreich die letzten Reste der republikanischen Freiheit vernichtete u. eine absolute Allgewalt übte. Gegen England hegte er den bittersten Haß; da seine Flotten. obwohl Holland und Spanien die Reste ihrer Seemacht zu seinem Dienste stellten, überall unterlagen, so bekämpfte er England auf eine neue Weise, indem er alle unterworfenen und verbündeten Staaten verpflichtete. jeden Handelsverkehr mit England abzubrechen, wodurch er die Industrie u. den Handel Englands, die Grundpfeiler der Macht desselben, zu stürzen hoffte (Continentalsystem), aber nur die Erbitterung der Völker steigerte, während England den ihm erwachsenden Schaden ertragen konnte, wozu der großartige Schmuggel beträchtlich mitwirkte. Der unbändige Haß N.s gegen England verleitete ihn zu seinem schicksalschweren Vorgehen auf der pyrenäischen Halbinsel. Die Weigerung Portugals das Continentalsystem seiner ganzen Strenge nach auszuführen (und dadurch das Land zu Grunde zu richten), gab den Vorwand zu einer Invasion Portugals, zu welcher der span. Minister Godoy mitwirkte, so daß N. eine starke Armee von den Pyrenäen bis an den Tajo aufstellen konnte. Nun benutzte er auf eine ebenso tückische als gewaltsame Weise den unheilvollen Streit der zerrütteten span. Königsfamilie, um die span. Krone seinem Bruder Joseph (1808) aufzusetzen u. Murat die neapolitan. zu geben. Er hoffte dadurch das große span. Colonialreich zum wirksamen Kampfe gegen England herbeizuziehen, allein das span. Volk vereitelte seine Rechnung und N., der weder in Deutschland noch in Italien, selbst nicht in Polen von den Rechten einer Nation etwas wissen wollte, mußte endlich für seine Despotie büßen. Die ganze span. Nation erhob sich gegen den Usurpator und selbst seine Siege (Nov. und Dez. 1808) nützten ihn nichts, da der zerstreute Feind sich immer neu sammelte oder im Guerillaskriege focht und durch eine engl. Armee unterstützt zuletzt das Feld behauptete; Spanien verschlang von 1808–1814 wenigstens 300000 Krieger, die in den späteren Kämpfen N.s wohl eine andere Entscheidung herbeigeführt hätten. Er selbst wurde 1809 auf einen anderen Kriegsschauplatz abberufen; Oesterreich bot noch einmal seine ganze Kraft auf und versuchte es, einen deutschen Nationalkrieg zu entzünden,[291] aber N. schlug vom 20.–23. Apr. 1809 die österr. Heere bei Abensberg, Landshut, Eckmühl, Regensburg. eroberte am 12. Mai Wien, verlor zwar 21. und 22. Mai die Schlacht bei Aspern, die Niederlage war aber nicht entscheidend u. bei Wagram erfocht er am 5. u. 6. Juli einen vollständigen Sieg. Oesterreich erkaufte den Frieden von Schönbrunn (14. Oct. 1809) mit der Abtretung von 2000 QM. und verlor seine Verbindung mit dem adriatischen Meere. Jetzt kannte N.s Gewaltthätigkeit keine Gränzen mehr; in den Jahren 1809 und 1810 vernichtete er den Kirchenstaat und führte den Papst in die Gefangenschaft; vereinigte er Holland, die Mündungen der Ems, Weser und Elbe und den Kanton Wallis mit Frankreich; errichtete er das Großherzogthum Frankfurt und vergrößerte Westfalen. Von der Weichsel bis Spanien und von der Eider bis an die sicil. Meerenge befahl er unumschränkt, u. ein beispiellos großes Heer, das alle wichtigen Punkte dieser Ländermasse besetzt hielt, gab seinen Befehlen Nachdruck; jedes Land wurde zu Gunsten Frankreichs ausgesogen, durch Contributionen fast erdrückt, durch die Conscription an wehrbarer Mannschaft erschöpft, während die Diener des Gewaltigen jeden Uebermuth straflos übten und eine wohlorganisirte geheime Polizei überall eindrang u. jeden Gedanken an Widerstand witterte und vereitelte. N. näherte seinen Hof den alten Formen, beseitigte so viel er konnte die Gleichheit, welche die Revolution in Frankreich geschaffen u. die er selbst durch sein Gesetzbuch befestigt hatte, endlich wollte er durch die Vermählung mit der Erzherzogin Marie Louise seine Dynastie mit der alten legitimen verschmelzen u. deren revolutionäre Abkunft verhüllen. Während er aber die Ueberwältigung Spaniens und Portugals vorbereitete, sagte sich Rußland von dem Continentalsysteme los, verbündete sich mit Schweden u. England u. veranlaßte so den russ. Krieg. Vom 22.–25. Juni 1812 führte N. fast 1/2 Mill. Krieger über den Niemen, antwortete jedoch der Aufforderung des poln. Reichstags, die von Rußland Polen entrissenen Provinzen (Lithauen, Volhynien, Podolien) demselben wieder zurückzugeben, mit Ausflüchten u. vereitelte dadurch eine allgemeine polnische Erhebung. Er folgte den weichenden Russen in das Innere, verlor durch Krankheiten wenigstens 1/3 seines Heeres, gewann zwar am 7. Septbr. die Schlacht von Borodino, verlor aber deren Früchte durch den Brand von Moskau. N. I. verweilte durch Unterhandlungen hingehalten 4 Wochen, ehe er sich zum Rückzuge entschließen konnte und büßte auf demselben den größten Theil seines Heeres ein. Er selbst eilte der vollen Kunde der Katastrophe voraus, rüstete in Frankreich und den deutschen Vasallenländern neue Heere aus, konnte aber der feindlichen Macht nicht widerstehen, als auch Oesterreich gegen ihn auftrat und sich das deutsche Volk überall erhob, wo keine franz. Uebermacht hindrücken konnte (s. Russisch-deutscher Krieg). In den ersten Tagen des J. 1814 drangen die feindlichen Heere in Frankreich selbst ein u. bis in das Herz desselben vor, ehe N. Mittel fand, denselben auch nur annähernd genügende Streitmassen entgegenzuwerfen. Er führte aber dann den Krieg mit jener genialen Ueberlegenheit, welche 1796 sein erstes Auftreten bezeichnet hatte, u. hätte Paris sich länger gehalten und die Treue mancher Marschälle sich besser bewährt, so wäre ohne Zweifel ein Rückzug der Verbündeten bis an den Rhein die Folge gewesen. Aber Frankreich selbst war des Krieges müde wie seiner militärischen Regierung, darum mußte N. am 11. April zu Fontainebleau dem Throne entsagen; er ging auf die Insel Elba. die er zu seinem Fürstenthume auserwählt hatte, um Frankreich u. Italien nahe genug zu sein. Die Unzufriedenheit der Franzosen mit den Bourbons (vergl. Frankreich) ermuthigte ihn, am 1. März 1815 bei Cannes mit 900 Mann zu landen; schon am 20. hielt er in Paris seinen Einzug, gerieth aber bald in eine schiefe Stellung zu den Liberalen, welche durch die Charte Ludwigs XVIII. sich zu einer starken Parteimacht hatten organisiren können. Der Congreß zu Wien ächtete ihn u. Frankreich[292] u. ganz Europa gegenüber konnte N. nur durch entscheidende Siege eine haltbare Stellung wieder gewinnen. Er brach mit einem herrlichen Heere in Belgien ein, siegte am 16. Juni bei Ligny über Blücher, griff am 18. Wellingtons engl.-deutsches Heer bei Waterloo an und erlitt durch Blüchers Angriff auf seine Flanke die entscheidende Niederlage. Der Widerstand der Deputirtenkammer machte es ihm unmöglich, die Vertheidigung Frankreichs zu leiten; er unterzeichnete am 22. seine Abdankung, verließ zögernd Paris, verlor an der Seeküste einige kostbare Tage u. sah sich endlich genöthigt den 15. Juli das vor Rochefort liegende engl. Linienschiff Bellerophon als Gefangener zu besteigen. Er appellirte an die engl. Großmuth ohne Erfolg; er selbst hatte England unzähligemal den unversöhnlichsten Haß erklärt, seine Freiheit wäre dem Weltfrieden allzu gefährlich gewesen, daher wurde er nach der Insel St. Helena eingeschifft, wo er d. 16. Oct. anlangte. Er zeigte während seiner Gefangenschaft eine heroische Seelenstärke, hielt aber seinen Blick immer auf Europa geheftet, daher er auch gegen den Gouverneur Hudson Lowe, der pedantisch aber keineswegs rücksichtslos verfuhr (vgl. Hudson Lowe), Anklagen aller Art verbreiten ließ. um auf Frankreichs und Europas Stimmung einzuwirken. Eben so wenig ist seinen Mittheilungen an Las Cases, Gourgaud u. Montholon zu trauen, sie sind eine Apologie, welche er in Europa verbreiten wollte. N. I. st. 5. Mai 1821 an einer Magenkrankheit; in seinen letzten Augenblicken, während ein Sturm die Insel umtobte, versetzte ihn seine Phantasie auf das Schlachtfeld; à la tête de lʼarmée war sein letztes Wort. Seine Schriften erschienen Paris 1821–22 in 5 Bdn., eine neue Ausgabe hat 1855 begonnen. N. hat bereits eine ganze Literatur in das Leben gerufen, so daß es unmöglich ist, einzelne Werke zu nennen; das bedeutendste möchte jedenfalls die »Histoire du consulat et de lʼempire« von Thiers sein, bis jetzt 11 Bde., aber wie alles, was die Franzosen über diese Periode geschrieben haben, mit großer Vorsicht u. nicht ohne Vergleichung mit deutschen u. engl. Quellen zu gebrauchen.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 288-293.
Lizenz:
Faksimiles:
288 | 289 | 290 | 291 | 292 | 293
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.

138 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon