[633] Appenzell, Kanton der nordöstlichen Schweiz, ganz vom Kanton St. Gallen umgeben, ist ein wald- und wiesengrünes, mit hübschen Dörfern und zahllosen Häuschen übersätes, von tiefen Flußtobeln (s. Sitter) durchfurchtes und vom Säntisgebirge (2504 m hoch) überragtes Voralpenland, das gegen den Bodensee abdacht.
Der Kanton zerfällt seit 1597 infolge der Reformation in zwei selbständige Hälften: das äußere Gebiet (Außer-Rhoden) und das innere Gebiet (Inner-Rhoden). Wappen: in Silber ein schwarzer Bär (s. Abbild.), Landesfarben: Weiß, Schwarz. A. Außer-Rhoden, mit 260,6 qkm Bodenfläche, hat (1900) 55,380 vorherrschend prot. Einwohner (212 auf 1 qkm). Der Muttersprache nach waren 1888: 53,757 Deutsche, 71 Franzosen und 240 Italiener. A.-Außer-Rhoden zerfällt durch die Flüsse Sitter und Goldach in drei natürliche, nicht administrative Bezirke: Hinterland (um Herisau), Mittelland (um Teufen) und Vorderland (um Heiden). Die unproduktive Fläche beträgt nur 7, der Wald 47 qkm. Der Ackerbau ist unbedeutend, um so ausgedehnter bei dem Reichtum an Wiesen die Viehzucht; man zählte 1901: 878 Pferde, 21,065 Stück Rindvieh, 605 Schafe, 3502 Ziegen und 10,055 Schweine. Zwei Drittel der Bevölkerung leben von der Industrie, am bedeutendsten sind Baumwollweberei, mechanische Stickerei, Zwirnerei und Bleicherei nebst Appretur. Hauptverkehrsort ist St. Gallen. Die reine, staubfreie Luft und die vorzügliche Milchwirtschaft machen das Land zu Luft- und Molkenkuren geeignet; alljährlich strömen Tausende dahin, insbes. nach Heiden, Gais und Heinrichsbad. Der Halbkanton A.-Außer-Rhoden bildet nach der Verfassung vom 25. April 1880 einen Freistaat mit rein demokratischer Verfassung und ausgesprochener Autonomie der 20 politischen Gemeinden. Die »Landsgemeinde« (s. d.), die alle Jahre abwechselnd in Trogen und Hundwil gehalten wird, besitzt die gesetzgebende Gewalt, bestimmt die Verfassung, wählt den Regierungsrat (7 Mitglieder) und aus dessen Mitte den Präsidenten oder Landammann und das Obergericht sowie das Mitglied des Schweizer Ständerats, bewilligt die Ausgaben etc. Der Kantonsrat, der in Herisau seine Sitzungen hält, besteht aus den Abgeordneten der Gemeinden (je 1 auf 1000 Seelen). Das Obergericht besteht aus 11 Mitgliedern und hat seinen Sitz in Trogen. Das Armenwesen, ferner Schul- und Kirchenwesen sind wesentlich Gemeindesache. 1897 gab es 72 Primärschulen, 10 Sekundär- oder Realschulen und die Kantonsschule zu Trogen. Die Jahresrechnung der »Landeskassa« für 1899 ergab 790,372 Frank Einnahmen und 760,782 Fr. Ausgaben. Das Staatsvermögen betrug Ende 1899: 1,127,849 Fr.
Der Halbkanton A. Außer-Rhoden, mit 159 qkm Bodenfläche, zählt (1900) 13,469 überwiegend katholische und deutsch redende Einwohner (84 auf 1 qkm). A.-Inner-Rhoden besteht nur aus einem Bezirk mit 6 politischen Gemeinden. 1901 zählte man 9497 Stuck Rindvieh, 3282 Ziegen und 9652 Schweine. Hauptindustriezweig ist die Stickerei; sie beschäftigt 1890: 3812 Einw. oder 28 Proz. der Bevölkerung. Weltbekannt sind die feinen, stilvollen Fabrikate der Handstickerinnen. Die Verfassung vom 24. Okt. 1872, revidiert 1883 und 1895, ist demokratisch. Die Staatsgewalt wird durch die Landsgemeinde, die aus der Gesamtheit der Kantons- und ansässigen Schweizerbürger besteht, ausgeübt. Die Landsgemeinde gibt sich Verfassung und Gesetze und wählt die obersten Landesbehörden: Standeskommission, d.h. Regierung (9 Mitglieder), und Kantonsgericht. Inner-Rhoden hat (1897) 15 Primärschulen und eine Sekundärschule. Die katholische Bevölkerung steht unter der Administration des Bischofs von St. Gallen. Die Staatsrechnung für 1899 ergab 173,400 Frank Einnahmen und 123,174 Fr. Ausgaben; das Vermögen zeigte an Aktiven ohne Spezialfonds 212,658 Fr., an Passiven 314,129 Fr.-Hauptort ist der Flecken A., 778 m ü. M., an der Sitter, Endpunkt der Schmalspurbahn Winkeln-Herisau-A., belebter Touristen- und Kurort mit einem Kapuzinerkloster und (1900) 4553 Einw. In der Nähe die beiden Kurorte Weißbad und Gonten, ferner das Wildkirchli, die Ebenalp, der Säntis etc.[633]
[Geschichte.] Seit dem 8. Jahrh. hatte das Kloster St. Gallen durch Kauf und Schenkung die Grundherrschaft fast über den ganzen jetzigen Kanton A. erworben, und 1061 weihte Abt Norbert eine Kirche in dem neugerodeten Ort Abbacella ein, der später der ganzen Gegend den Namen gab. 1345 erwarb das Kloster mit der hohen Gerichtsbarkeit die eigentliche Landeshoheit; aber schon 1377 erhielten die vier Gemeinden A., Hundwil, Urnäschen und Teufen von Abt Georg das Zugeständnis, daß sie in ein Bündnis mit den schwäbischen Städten treten und sich einen Landrat von 13 Mitgliedern geben durften, dessen Wahl wohl die Entstehung der Landsgemeinde veranlaßte. So bildete sich innerhalb des äbtischen Fürstentums das demokratische Gemeinwesen, das schon 1379 als »A. das Land« bezeichnet wird. Als der neue Abt Kuno von Stoffeln (13791411) seine herrschaftlichen Rechte hart geltend machte, erhoben sich die Appenzeller, denen sich nunmehr auch die übrigen Gemeinden des Berglandes anschlossen, gegen ihn (1401). Sie zerstörten seine Burgen, traten in ein »Landrecht« mit den Schwyzern und brachten mit ihrer Hilfe dem Heer des Abtes und der mit ihm verbündeten Reichsstädte am Bodensee 15. Mai 1403 bei Vögelinseck eine schimpfliche Niederlage bei; nicht besser erging es einer österreichischen Kriegsmacht am Stoß 17. Juni 1405. Hierauf streiften die Appenzeller in den Thurgau, über den Rhein, überall die Burgen der Herren brechend und die Bauern zum Aufstand ermunternd, und bildeten einen »Bund ob dem See«, der sich rasch über die Nordostschweiz und das Vorarlberg bis nach Tirol hinein verbreitete. Eine Niederlage, die sie 1408 bei Bregenz durch die schwäbische Ritterschaft erlitten, löste diesen Bund zwar wieder ebenso schnell auf, ihre Freiheit aber blieb gesichert. 1411 sagten ihnen die sieben Orte der Eidgenossen (ohne Bern) durch ein »Burg- und Landrecht« ihren Schutz zu und suchten ihre Pflichten gegen das Kloster in billiger Weise zu regeln. 1429 kam ein Vergleich zu stande, wonach die Appenzeller die Entrichtung oder Ablösung der Zinsen und Gefälle verbürgten, während der Abt sich anheischig machte, ihnen den Blutbann und damit die politische Selbständigkeit zu verschaffen, was 1442 auch geschah. 1452 erlangte A. infolge seiner Teilnahme am alten Zürichkrieg eine höhere Stellung in der Eidgenossenschaft, und nach den Mailänder Feldzügen wurde es 17. Dez. 1513 zum vollberechtigten 13. Orte derselben erhoben. Die Reformation erregte anfänglich in A. keine heftigen Stürme; schon 1522 entschieden sich einzelne Gemeinden dafür, während andre, namentlich der Hauptflecken, beim alten Glauben beharrten. Erst die Einführung des neuen Kalenders, die Aufnahme der Kapuziner im Hauptort und die Absicht der Katholiken, den Sonderbünden der katholischen Kantone unter sich und mit Spanien beizutreten, entzündeten den Religionshaß so, daß nach zehnjährigen Wirren durch ein eidgenössisches Schiedsgericht 8. Sept. 1597 die Teilung des Landes in zwei selbständige Halbkantone vollzogen wurde, die jedoch in der Eidgenossenschaft nur als Ein Ort galten. Die Reformierten zogen nach den äußern Rhoden (Bezirken), wo sie schon die Mehrheit hatten, und die Katholiken nach den innern, die sofort dem Borromeischen und Spanischen Bund beitraten. Anfang des 18. Jahrh. fand die Musselinfabrikation und -Stickerei in Außer-Rhoden Eingang, während Inner-Rhoden seiner Hirtenbeschäftigung treu blieb. Durch die helvetische Verfassung wurden die beiden A. 1798 mit St. Gallen, Untertoggenburg und Rheinthal zu einem Kanton Säntis verschmolzen, durch die Mediationsakte aber 1803 mit ihren Landsgemeinden wiederhergestellt. 1829 brachte Inner-Rhoden, 1834 Außer-Rhoden die alte Landsgemeindeverfassung in ein systematisches Grundgesetz. Letzteres trennte 1858 durch eine Verfassungsrevision die Justiz von der Verwaltung und verbesserte durch ein neues Grundgesetz vom 15. Okt. 1876, das 1880 und 1892 teilweise revidiert wurde, den Organismus der Behörden und das Steuerwesen. Inner-Rhoden gab sich eine neue Verfassung 24. Okt. 1872, an der 1880,1883 und 1895 Abänderungen vorgenommen wurden. Vgl. Rüsch, Der Kanton A. historisch, geographisch und statistisch (neue Ausg., St. Gallen 1859); Zellweger, Geschichte des appenzellischen Volkes, mit Urkunden (Trogen 183048, 6 Bde.); Derselbe, Der Kanton A., Land und Volk und dessen Geschichte (das. 1867); Ritter, Die Teilung des Landes A. (das. 1897); Kobelt, Die Alpwirtschaft des Kantons A. (Soloth. 1899); »Appenzellische Jahrbücher« (hrsg. von der Gemeinnützigen Gesellschaft, Trogen 1854 ff.).
Buchempfehlung
Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro