Reichsstädte

[742] Reichsstädte, im ehemaligen Deutschen Reich die Städte, die unmittelbar unter dem König (Kaiser) standen. Die ältesten R. waren die königlichen Pfalzstädte, die im Anschluß an Königspfalzen entstanden waren. Da die Zahl der Krongüter in Norddeutschland von jeher gering war, so gab es hier auch nur eine kleine Zahl »königliche Städte« oder R. (Aachen, Dortmund, Goslar, Nordhausen, Mühlhausen), während Süddeutschland deren recht viele besaß, um 1248 etwa 70. Der verfassungsrechtliche Begriff der »Reichsstadt« konnte erst entstehen, nachdem die Mehrzahl der Städte der fürstlichen Landeshoheit (s. Landstadt) unterworfen war; da aber von einer ausgebildeten Landeshoheit der Fürsten erst seit etwa 1225 die Rede sein kann, gibt es auch erst seitdem den Gegensatz zwischen Reichsstadt (civitas imperii) und Landstadt. Reichsunmittelbarkeit erlangten seit dem 13. Jahrh. tatsächlich auch andre als alte Pfalzstädte, teils durch königliche Verleihung (z. B. Lübeck 1226), teils durch Loskauf von dem Territorialherrn, teils durch Aussterben fürstlicher Geschlechter (z. B. der Zähringer und Staufer), wodurch deren Reichslehen dem König heimfielen, teils endlich durch Usurpation, besonders während des Interregnums. Eine besondere Gruppe bilden die alten Bischofsstädte Basel, Straßburg, Speyer, Worms, Mainz, Köln und die teils bischöfliche, teils königliche Stadt Regensburg, deren Bürger sich vom bischöflichen Stadtregiment im Kampfe frei machten, als »Freistädte« bezeichnet und im wesentlichen den Reichsstädten gleichgeachtet wurden. Indem man staatsrechtlich »Freie Städte« und »R.« als Gesamtheit in einem Ausdruck zusammenfaßte, entstand die Bezeichnung »Freie R.« (genauer: »Freie und R.«); aus der Mehrzahl ist dann ungenau die Einzahl »Freie Reichsstadt« abgeleitet worden, eine Bezeichnung, die nur den genann len sieben Städten mit Recht zukommt, aber in späterer Zeit oft irrtümlich mit Bezug auf andre R. verwendet worden ist. In ihrer rechtlichen Lage unterschieden sich die ehemaligen Bischofsstädte von den Reichsstädten nicht; nur war die Ausübung der Hoheitsrechte in ihnen stets zwischen Bischof und König irgendwie geteilt, und z. B. in Köln hat der Erzbischof bis zuletzt die hohe Gerichtsbarkeit besessen. Die R. standen von vornherein unter königlichen Beamten, Reichsvögten, Landvögten oder Reichsschultheißen, welche die oberste Gerichtsbarkeit und die übrigen Hoheitsrechte des Reiches in der Stadt handhabten. In manchen Städten (Köln, Mainz, Würzburg. Magdeburg, Straßburg, Meißen, Nürnberg) führte dieser oberste Reichsbeamte den Titel Burggraf (s. d.). Seit der Mitte des 13. Jahrh. erlangten die R. eine immer größere Selbständigkeit, indem sie die meisten Hoheitsrechte in ihren Besitz brachten, und dies war um so leichter, als die Könige in den Städten eine Stütze gegen die Fürsten erblickten. Sie verfügten dann über die bewaffnete Macht, besaßen das alleinige Besatzungsrecht innerhalb der Mauern, Münz-, Zoll-, Geleitsrecht etc. und waren dem König zur Huldigung, Heerfolge und einer Jahressteuer verpflichtet sowie zur Verpflegung des königlichen Hofes bei Aufenthalt in der Stadt. Einige besaßen auch ein größeres Landgebiet (z. B. Ulm und Nürnberg), in dem der Rat die landesherrlichen Rechte ausübte. Im 13. und 14. Jahrh. schlossen die R. besonders in Süddeutschland und am Rhein öfter Städtebünde (s. d.), um den öffentlichen Frieden aufrecht zu erhalten und sich gemeinsam gegen die Angriffe der Fürsten auf ihre Selbständigkeit zu verteidigen. Seit Wilhelm von Holland fanden die R. auch Zutritt zu den Reichstagen, doch wurden sie nur bei gewissen, sie besonders angehenden Sachen, regelmäßig erst seit 1489, herangezogen, erhielten dieses Recht auch in der Reichsregimentsordnung von 1500 verbrieft, aber gesetzlich als gleichberechtigte Reichsstände anerkannt wurden die R. erst durch den Westfälischen Frieden (1648). Die R. bildeten das dritte Kollegium im Reichstag, das in die rheinische und schwäbische Städtebank zerfiel. Die innere Verfassung der R. war verschieden und näherte sich bald der demokratischen, bald der aristokratischen Form, je nach dem Ergebnis der Zunftkämpfe des 13. und 14. Jahrh. Den Zusammenbruch reichsstädtischen Wesens führte die Verknöcherung der althergebrachten Gebräuche und die künstliche wirtschaftliche und politische Absperrung gegen außen herbei, diese selbst aber hatten ihren Grund im wirtschaftlichen Verfall der Städte und in deren naturgemäß[742] immer mehr sinkenden Bedeutung, je mehr die Macht der Territorialfürsten stieg. Schon früher hatten manche R. ihre Unmittelbarkeit durch verschiedene Umstände verloren; einige wurden von den Fürsten, die als Reichsbeamte (Landvögte, Schultheißen, Burggrafen) über sie gesetzt waren, unterdrückt, andre begaben sich freiwillig unter fürstliche Herrschaft, besonders die der geistlichen Fürsten; manche wurden durch Waffengewalt unterworfen (z. B. Mainz 1462), andre vom Deutschen Reich losgerissen (z. B. Besançon fiel 1648 förmlich an Spanien), noch andre gerieten (z. B. Donauwörth 1607) in die Reichsacht oder wurden an Fürsten verpfändet (z. B. Düren) oder verschenkt. Demgemäß ist die Zahl der R. in verschiedenen Zeiten verschieden (vgl. die Zusammenstellungen für 1378 auf dem Registerblatt zur »Geschichtskarte von Deutschland II« [Bd. 4, S. 804] und zur Karte III für 1648, ebenda, S. 810). Um 1800 gab es noch 51; zur rheinischen Bank gehörten; Köln, Aachen, Lübeck, Worms, Speyer, Frankfurt, Goslar, Bremen, Hamburg, Mühlhausen, Nordhausen, Dortmund, Friedberg, Wetzlar; zu der schwäbischen: Regensburg, Augsburg, Nürnberg, Ulm, Eßlingen, Reutlingen, Nördlingen, Rotenburg a. d. Tauber, Schwäbisch Dall, Rott weil, Überlingen, Heilbronn, Gmünd, Memmingen, Lindau, Dinkelsbühl, Biberach, Ravensburg, Schweinfurt, Kempten, Windsheim, Kaufbeuren, Weil, Wangen, Isny, Pfullendorf, Offenburg, Leutkirch, Wimpfen, Giengen, Weißenburg im Nordgau, Gengenbach, Zell am Hammerbach, Buchhorn, Aalen, Buchau, Böpsingen. Durch den Frieden von Lüneville (9. Febr. 1801) sieten Köln, Aachen. Worms und Speyer an Frankreich; durch den Reichsdeputationshauptschluß (25. Febr. 1803) schmolz die Zahl der R. auf sechs zusammen: Hamburg, Augsburg, Nürnberg, Lübeck, Bremen und Frankfurt a. M.; mit den übrigen wurden die Landesherren für Abtretung des linken Rheinufers entschädigt. Nach dem Preßburger Frieden (4. Mai 1806) verlor Augsburg die Reichsunmittelbarkeit, und infolge der Errichtung des Rheinbundes auch Frankfurt und Nürnberg. Am 13. Dez. 1810 wurden Bremen, Hamburg und Lübeck ihrer Selbständigkeit beraubt, durch die Bundesakte 1815 aber nebst Frankfurt a. M. wiederhergestellt und als »Freie Städte« in den Deutschen Bund aufgenommen; von diesen verlor Frankfurt 21. Sept. 1866 seine Unabhängigkeit an Preußen. Vgl. v. Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland (Erlang. 1869–71, 4 Bde.); Arnold, Verfassungsgeschichte der deutschen Freistädte (Gotha 1854, 2 Bde.); Nitzsch, Ministerialität und Bürgertum im 11. und 12. Jahrhundert (Leipz. 1859); G. V. Schmid, Die mediatisierten freien R. Teutschlands (Frankf. 1861); Brülcke, Die Entwickelung der Reichsstandschaft der Städte (Hamb. 1881); Keussen, Die politische Stellung der R. (Bonn 1885); Lorenz, Unterschiede von Reichs- und Landstädten (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Bd. 89); Ehrentraut, Untersuchungen über die Frage der Frei- und Reichsstädte (Leipz. 1902); Rietschel, Das Burggrafenamt und die hohe Gerichtsbarkeit in den deutschen Bischofsstädten (das. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 742-743.
Lizenz:
Faksimiles:
742 | 743
Kategorien: