Betäubende Mittel

[764] Betäubende Mittel (an ästhetische, narkotische, schmerzstillende Mittel), Heilmittel, die lähmend auf die Empfindungsnerven und das Bewußtsein wirken. Mit Ausnahme der Kälte, die zur Betäubung örtlicher Schmerzen vorzügliche Dienste leistet, sind fast alle betäubenden Mittel Pflanzenstoffe, wie Opium und das aus demselben gewonnene Morphium und Codeïn u. a., der indische Hanf, Belladonna, Stechapfel, Bilsenkraut, Schierling etc., dazu kommen Äther, Chloroform, Chloralhydrat, Äthylbromid, Stickstoffoxydul. Alle diese Arzneien setzet i die Nerventätigkeit herab, wenn sie in die Blutbahn oder unter die Haut eingespritzt werden, oder wenn ihre Aufnahme durch den Darmkanal, durch Einatmung oder Einreibung geschieht. Geringe Mengen mindern zunächst die Empfindlichkeit herab, besonders unterliegen krankhaft gereizte Nervengebiete dieser leicht betäubenden Kraft, und hierauf beruht der Wert dieser Mittel zur Stillung vorhandenen Schmerzes. Bei größern Gaben werden auch solche Nerven gelähmt, welche die willkürlichen, später diejenigen, welche die unwillkürlichen Muskelbewegungen, wie Herz und Atemmuskeln, beherrschen, bei ganz großen Metigen meist sofort der Zentralapparat, das Gehirn und Rückenmark selbst. Die Wirkung der betäubenden Mittel bei verschiedener Körperanlage verschieden und unterliegt auch bei derselben Person vielfachen Schwankungen, die von allmählicher Gewöhnung und von größerer oder geringerer Aufnahmefähigkeit dea Magens oder der Haut abhängig sind. Im allgemeinen sind bei allen Schmerzen lindernde Mittel am Platz, ihre Auswahl wechselt aber je nach der Stärke und Dauer, die man beabsichtigt, und je nach den Nebenwirkungen, die etwa mit dem einzelnen Narkotikum herbeigeführt werden. Für die meisten Leiden, Zahnschmerz, Gesichtsschmerz, Schmerzen nach Wunden und Operationen, bei Rückenmarksleiden etc., ist das Morphium anwendbar und auch am wirksamsten. Geht die Absicht über die Bekämpfung von Schmerzen hinaus, beabsichtigt man tiefe Betäubung des Bewußtseins (Narkose), vollständige Gefühllosigkeit (Anästhesie) und Erschlaffung der willkürlichen Muskelbewegungen, so kommen Äther, Chloroform und Lachgas in Anwendung. Diese eigentlichen Anästhetika bilden den notwendigen Hilfsapparat bei schmerzhaften Operationen oder Untersuchungen, ihnen verdankt die Chirurgie die Ausführbarkeit vieler großartiger Leistungen, und auch die außerordentliche Popularität gegenüber der Scheu, die früher Laien und gefühlvolle Ärzte von manchem rechtzeitigen Messerschnitt abgehalten hat.

Vereinzelte Nachrichten über Anwendung betäubender Mittel datieren aus früher Zeit. Bischof Theodor von Cervia wandte im 13. Jahrh. Opium mit Bilsenkraut als Betäubungsmittel an, und Chauliac erwähnt um 1360 narkotische Einatmungen (Dämpfe aus Schierling und dem Safte der Mandragorablätter) bei schmerzhaften Operationen. Jackson in Boston verfiel bei zufälliger reichlicher Einatmung von Äther in Bewußtlosigkeit und tiefen Schlaf und verfolgte diese Erscheinung weiter. Der Zahnarzt Morton bediente sich dann des Äthers beim Zahnausziehen, und Warren in Boston veröffentlichte die Anwendungsweise des Äthers 1846, nachdem ihm gelungen war, sie bei einer größern chirurgischen Operation zu erproben.[764] 1874 benutzte Simpson in Edinburg das Chloroform als anästhetisches Mittel, das den Äther alsbald stark zurückdrängte. Äther wirkt im allgemeinen wie Chloroform, aber langsamer, auch ist er flüchtiger und daher schwerer anzuwenden. Der nach dem Erwachen aus der Äthernarkose bestehende Rausch dauert stets länger als der nach dem Gebrauch des Chloroforms, und in Bezug auf Gefährlichkeit stehen Äther und Chloroform vielleicht auf gleicher Linie. In neuerer Zeit wird Äther wieder häufiger angewendet. Die Ausführung des Chloroformierens geschieht durch einen Arzt, damit der Operateur die Sicherheit hat, daß die Betäubung ohne Zwischenfall verlaufen wird. Bei Anwendung eines reinen Präparats ist das Chloroformieren meist ohne Gefahr, nur vermeidet man es bei Personen mit Herzfehlern. Der zu narkotisierende Kranke darf mindestens die 3–4 letzten Stunden vorher keine Nahrung aufnehmen, da sonst Erbrechen eintritt und den ruhigen Fortgang der Narkose stört, eventuell sogar durch Aspiration der entleerten Massen den Tod zur Folge haben kann. Der gefüllte Magen erschwert weiter die Bewegungen des Zwerchfells und dadurch die freie Atmung. Der zu Narkotisierende muß alle beengende Kleidung ablegen, falsche Zähne, Gebisse aus dem Munde nehmen. Die gewöhnliche Lage ist die horizontale Rückenlage mit etwas erhobenem Kopfe. Die Operationen am Munde, Rachen, Gesicht werden in sitzender Stellung ausgeführt oder am hängenden Kopf, um das Hinabfließendes Blutes in die Lunge zu verhindern. Das Chloroform wird tropfenweise, je nach Bedarf und möglichst sparsam, auf eine kleine mit luftdurchlässigem Mull bezogene, Mund und Nase bedeckende Maske aufgeträufelt, so daß sich der Chloroformdampf mit der Einatmungsluft mischt. Bei der Äthernarkose werden reichlichere Mengen Äther auf einen in einer größern, nicht luftdurchlässigen Maske befestigten Schwamm oder Gazebausch gebracht und der Dampf in stärkerer Konzentration mit weitergehendem Abschluß der Luft eingeatmet. Verschiedene Apparate zur Einatmung bestimmt konzentrierter Gemische von Chloroform, bez. Äther mit Luft haben sich wenig eingebürgert. Bei der Narkose unterscheidet man drei, nicht immer scharf voneinander getrennte Stadien: das Stadium der Willkür, das der Erregung und das des vollständig erloschenen Bewußtseins; besonders das zweite ist wegen der mit ihm verbundenen Gefahr zu beachten: die Kranken sind äußerst erregt, arbeiten mit Händen und Füßen, gebärden sich wie Tobsüchtige; bei Trinkern ist dies Stadium am ausgesprochensten, bei Kindern und Frauen meist nur eben angedeutet, oder es fehlt sogar. Auf dieses Stadium folgt dann die Lähmung aller willkürlichen und reflektorischen Muskelbewegungen. Jetzt ist es Zeit zum Operieren, Zeit aber auch, die Narkose mit Aufmerksamkeit zu überwachen, damit nicht Herz und Atemmuskeln gelähmt werden. Sobald röchelndes Atmen oder verlangsamte Atmung bemerkbar, das Gesicht bläulich (cyanotisch) wird, sobald der Puls aussetzt, entfernt man sofort das Chloroform und zieht die Zunge vor; meist genügt diese Maßnahme, um bald wieder regelmäßige Atembewegungen herzustellen, wenn nicht, so muß augenblicklich künstliche Atmung durch rhythmische Bewegungen des Brustkorbes eingeleitet werden, die durch die sogen. Herzmassage (kräftige Stöße gegen das Herz) unterstützt werden. Auch für die erlöschende Herzaktion ist die künstliche Respiration das wichtigste Gegenmittel. Das Vorziehen des Unterkiefers, der Zunge mit dem Kehldeckel dient zur Freimachung der Luftpassage. Die Wiederbelebungsversuche, die durch Darreichung von Exitantien (Äther, Moschus, Kampfer), subkutan injiziert, unterstützt werden, müssen mindestens 20–30 Minuten fortgesetzt werden. Die Mortalitätsstatistik der deutschen Gesellschaft für Chirurgie ergab nach der Zusammenstellung von Gurlt (Chirurgischer Kongreß 1895) auf 2909 Chloroformnarkosen einen Todesfall; bei Äther erfolgte der Tod erst auf 6004 Narkosen einmal. Der hieraus sich ergebende Vorzug der Äthernarkose wird jedoch durch andre mit der Darreichung von Äther verbundene Schädlichkeiten vielleicht vollständig kompensiert: es stellen sich sehr oft bedenkliche Störungen seitens der Respirationsorgane ein, Luftröhrenkatarrh, Lungenentzündungen. Bei Lungenkranken ist deshalb die Äthernarkose nicht anzuwenden, dagegen immer bei Herzkranken. Für kurzdauernde Operationen (z. B. beim Zahnausziehen) benutzt man Lachgas (Stickstoffoxydul), Bromäthyl u. a. m. Auch ist hierzu das Anfangsstadium der Chloroform- oder Äthernarkose sehr geeignet, wenn das Bewußtsein, auch die Berührungsempfindung noch nicht geschwunden ist, jedoch kein Schmerzgefühl mehr besteht, so daß z. B. das Erfassen des kranken Zahnes wahrgenommen wird, das Ausziehen aber schmerzlos verläuft (Operation im »Ätherrausch«). Vgl. Weber, Über die Anwendung der schmerzstillenden Mittel (Berl. 1867); Tauber, Die Anästhetika (das. 1881); Overton, Studien über die Narkose (Jena 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 764-765.
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