Hungersnot

[656] Hungersnot. Mißwachs, verursacht durch Dürre, übergroßen Regenfall, Insektenfraß, Pflanzenkrankheiten etc., hatte früher unter beschränkten Wirtschafts-[656] und Verkehrsverhältnissen und bei der Schwierigkeit, Getreidevorräte aufzuspeichern oder rasch für genügende Zufuhren zu sorgen, leicht verheerende Hungersnöte zur Folge. Die großen Gefahren derselben führten in den griechischen Städterepubliken zu außerordentlicher Strenge der Gesetzgebung über den Kornhandel; ebenso ist bekannt, daß die Römer zur Zeit ihrer höchsten Macht von den Getreidezufuhren aus Sizilien und Ägypten so abhängig waren, daß das Ausbleiben der Getreideschiffe stets örtliche H. brachte. Besonders heftig und mit entsetzlichen sozialen Erscheinungen traten Hungersnöte im Mittelalter in jenen Teilen Europas auf, wo die Bevölkerung rasch zugenommen hatte und die Landwirtschaft noch ungenügend entwickelt war; solche werden z. B. 795, dann in den »Annales Fuldenses« für die Jahre 850, 868, 873, 874, 880, 889 beschrieben; sie wiederholten sich 990, 1100, 1187 etc. mit solchen begleitenden Erscheinungen, die den grellsten Barbarismus (Töten und Verzehren von Menschen) hervortreten lassen. Die H. von 1125 verminderte Deutschlands Bewohner angeblich um die Hälfte. Allgemein galt es im Mittelalter als eine durch die Sitte nicht verurteilte Hilfe der Stadtverwaltungen, beim Ausbruch einer H. ihre Armen vor die Stadttore zu treiben. Noch um die Mitte des 17. Jahrh. war in Deutschland die H. eine sehr häufige Erscheinung, selbst im 18. Jahrh. tritt sie noch in der größten Ausdehnung auf; so starben 1772 in Kursachsen 150,000 Menschen aus Mangel an Nahrung. 1817 trat in Deutschland die letzte Mißernte ein, die örtlich noch mit dem Namen H. bezeichnet wird, während diejenige von 1846 in manchen Teilen Deutschlands Folgen hatte, die an die alte H. erinnern. Auch in Irland, wo die Getreidemißernte mit der Kartoffelkrankheit zusammenfiel, sollen 1847 noch mehr als 1 Mill. Menschen der H. und den ihr folgenden Epidemien erlegen sein. Seit der Mitte des 19. Jahrh. sind wir jedoch vor Hungersnöten geschützt durch Änderung im Betrieb der Landwirtschaft und in der Zusammensetzung unsrer täglichen Nahrung, noch mehr durch die Verbesserung und Mehrung der Transportmittel und die damit im Zusammenhang stehende Regelung der Getreide- und Fleischzufuhr, die eine rasche Ausgleichung von Vorrat und Bedarf sowie der Preise sichern. Anders liegen auch heute noch die Verhältnisse in Asien. Der Verkehr mit dem Innern ist nur in einigen Teilen durch schiffbare Flüsse erleichtert, Kanäle und Straßen bilden keine genügende Ergänzung; größere Eisenbahnlinien haben nur Ostindien und Japan. Im Innern und im hohen Norden finden sich ungeheure Strecken Wüsteneien oder Steppen, gute Ernten werden nur längs der Flüsse oder durch künstliche Bewässerung erzielt. Im Süden hängen reiche Ernten vom rechtzeitigen Eintreten der Regenzeit ab. Klima und Religionsvorurteile bedingen eigentümliche Lebensgewohnheiten: Millionen enthalten sich der Fleischnahrung oder genießen nur Getreide bestimmter Art, z. B. Reis. Infolgedessen wird die in verschiedenen Gebieten ungemein dichte Bevölkerung um so stärker von jedem Mißwachs berührt, als für einen Ausgleich mit dem Überschuß andrer Gegenden alle Bedingungen fehlen. Noch im 19. Jahrh. wurden Indien, Persien, Türkisch-Armenien und China wiederholt von H. im strengsten Sinne heimgesucht. Die H. von 1866 soll in Ostindien nahezu 7.5 Mill. Menschen als Opfer gefordert haben. Einen Wendepunkt für die Lebensmittelversorgung Ostindiens bilden die Maßregeln, die gegenüber der drohenden H. des Mißjahres 1873/74 in Bengalen ergriffen wurden. Für eine Bevölkerung von 15 Mill. Menschen mußten Lebensmittel herbeigeschafft werden. Es gelang der britischen Regierung, durch Einleitung von Zufuhren, durch einen gut organisierten Kornhandel den Ausbruch einer wirklichen H. zu verhüten. Allerdings wiederholte sich bald die Gefahr viel dringender im südlichen Indien; Ende 1876 war im Dekhan unter 23 Mill. Einw. der Präsidentschaften Bombay und Madras, dann der Provinz Maisur nur ein Sechzehntel einer Durchschnittsernte erzielt worden. Die Verkehrsverhältnisse lagen zwar günstiger: statt genötigt zu sein, Getreide selbst einzuführen, konnte die Regierung dies dem Privathandel überlassen und hatte nur durch Arbeits- und Almosenverteilung einzugreifen; allein das Mißverhältnis zwischen Volkszahl und Lebensmittelvorrat war viel größer, die Sterblichkeit war bedeutend, und bis zum Ende der H. (Januar 1878) erlagen 1,300,000 Menschen den Entbehrungen. Seitdem haben sich zwar Hungersnöte in kleinerm Umfang noch wiederholt eingestellt, es ist aber zu hoffen, daß die Verwaltungsmaßregeln, die von der Famine Commission für Hebung des Verkehrs und der Bodenkultur eingeleitet wurden, Ostindien bald vor der häufigen Wiederkehr eigentlicher H. bewahren. Persien verlor durch die H. von 1870–72, die sich über das ganze Land verbreitete, etwa 11/2 Mill. Menschen, d. h. ein Viertel seiner Einwohner. Kopflosigkeit und Habgier der Behörden trugen wesentlich die Schuld an dieser Größe des Elends. In Kleinasien wurden 1873–75 die innern Provinzen Angora und das südlich daran anschließende Konia (Ikonion) schwer heimgesucht. In China war in den Nordprovinzen Schensi, Schansi und Honan mit ihren unzureichenden Verkehrswegen eine Bevölkerung von 56 Mill. infolge anhaltender Dürre und Mißernte seit 1877 einem fürchterlichen Notstand jahrelang preisgegeben. In ihrer Verzweiflung griffen die niedern Volksklassen zu unmenschlichen Mitteln, wie Kindermord und -Verkauf, plündernde Banden verwüsteten das Land. Man schätzte die Zahl der Opfer auf 4–6 Mill. Menschen. Vgl. besonders Roscher, Kornhandel und Teuerungspolitik (3 Aufl., Stuttg. 1852); die Berichte der Indian Famine Commission, die »Minutes« von R. Temple; Digby, The famine campaign in Southern India 1876–1878 (Lond. 1878, 2 Bde.); Dutt, Famines and land-assessments in India (das. 1900); Curschmann, Hungersnöte im Mittelalter (Leipz. 1900), und die Literatur bei Artikel »Getreidehandel«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 656-657.
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