[523] Medizinalwesen (Sanitätswesen, Medizinalordnung), der Inbegriff aller Einrichtungen zur Förderung der Gesundheit der Staatsangehörigen. Anfänge staatlicher Organisation des öffentlichen Gesundheitswesens finden sich schon im Altertum: in Rom überwachten archiatri populares die Medizinalverwaltung. Später legten Roger I. von Sizilien und Kaiser Friedrich II. den Grund zu einer geläuterten Medizinalverfassung. In Preußen begann die Regelung des Medizinalwesens unter Kurfürst Johann Georg 1573, der Große Kurfürst schuf 1685 ein Collegium medicum als Zentralmedizinalbehörde, und 1808 trat die Wissenschaftliche Deputation für das M. in Preußen ins Leben. Gegenwärtig ruht die Leitung der verschiedenen Zweige des Staatsmedizinalwesens in den Händen zentraler Behörden, denen fast in allen Kulturstaaten auch das Recht und die Pflicht der Legislative zufällt. Für das Deutsche Reich ist als beratendes und begutachtendes Organ das dem Reichskanzleramt unterstellte kaiserliche Gesundheitsamt und der Reichsgesundheitsrat geschaffen worden. Für Preußen ist die oberste Medizinalbehörde durch die Kabinettsorder vom 22. Juni 1849 das Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, nur das Militärsanitätswesen ressortiert vom Kriegsministerium und das Veterinärwesen laut Order vom 27. April 1872 vom Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten. Die Medizinalabteilung des Kultusministeriums besteht aus einem Direktor und teils technischen, teils für die Verwaltung qualifizierten vortragenden Räten. Der Geschäftskreis dieser Zentralbehörde umfaßt: a) Die oberste Leitung der gesamten Medizinal- und Sanitätspolizei. b) Die Aussicht über die Qualifikation des Medizinalpersonals, die Verwendung desselben im Staatsdienst und die Handhabung der Disziplinargewalt. c) Die Oberaufsicht über alle öffentlichen und Privatkrankenanstalten. Unmittelbar unter dem Minister stehen folgende Behörden: 1) Die wissenschaftliche Deputation für das M. in Berlin, deren Geschäftskreis, durch Instruktion vom 22. Sept. 1888 bestimmt, wesentlich in Begutachtung medizinisch wichtiger Fragen auf dem Gebiete der Rechtspflege oder der Verwaltung oder des Prüfungswesens besteht. Die Deputation ist aus einem Direktor, aus ordentlichen und außerordentlichen Mitgliedern zusammengesetzt und ist oberste Instanz über alle durch die technischen Provinzialbehörden oder durch nicht beamtete Ärzte abgegebenen Gutachten. 2) Die technische Kommission für pharmazeutische Angelegenheiten (für den täglichen Geschäftsgang bestimmt). 3) Der Apothekerrat, seit 1896 bestehend und als Beirat für Organisations- und Verwaltungsfragen des Apothekerwesens bestimmt.
Die mittlere Medizinalbehörde besteht aus zwei Instanzen, nämlich dem Oberpräsidenten der Provinz, dem das Provinzial-Medizinalkollegium unterstellt ist, und dem Regierungspräsidenten, dem der Regierungs- und Medizinalrat beigegeben ist. Die untere Instanz wird durch den Landrat und den diesem koordinierten Kreisarzt (s. d.) gebildet. Als Lokalbehörden kommen noch die Sanitätskommissionen in Betracht. In Bayern fungiert unter dem Ministerium des Innern als beratende und begutachtende Behörde (auch für Pharmazie und Veterinärwesen) der Obermedizinalausschuß, bestehend aus dem Medizinalreferenten des Ministeriums (Obermedizinalrat) und einer unbestimmten Zahl von Professoren, Apothekern und Tierarzneischulprofessoren. Der Behörde steht die Anwendung der jeweiligen wissenschaftlichen Grundsätze auf die praktische Medizinalverwaltung[523] und die Stellung von Anträgen auf sanitäre Verbesserungen aus eigner Initiative zu. Sachsen besitzt einen Medizinalreferenten und ein Landesmedizinalkollegium, bestehend aus zwölf ordentlichen, vom König ernannten und acht seitens der Bezirksvereine zu wählenden außerordentlichen Mitgliedern. Aufgaben der Behörde sind: Abgaben von Gutachten in Verwaltungs-, bez. Obergutachten in Rechtssachen, staatsärztliche Prüfungen und Prüfungen der Hebammen. In Württemberg steht unmittelbar unter dem Ministerium das Medizinalkollegium (ordentliche, administrative und technische Mitglieder und außerordentliche, auf vier Jahre einberufene Mitglieder) als beratende, verwaltende, Aussicht führende und verfügende Behörde. Eine aus dem Vorstand und mindestens vier vom Ministerium berufenen Mitgliedern bestehende Abteilung bearbeitet die die Staatskrankenanstalten, die Landeshebammenschule und das Irrenwesen betreffenden Geschäfte. In Baden besorgt das Ministerium des Innern die obere Leitung des Medizinalwesens, für die ihm vier technische Medizinalreferenten (ein Tierarzt) beigegeben sind. Ihm sind direkt die Bezirksärzte der Amtsbezirke unterstellt. Der Landesgesundheitsrat zur Begutachtung von Gesetzentwürfen besteht aus den vier Medizinalreferenten, zwei Professoren, dem Obmann des Ärzteausschusses und einer Anzahl vom Minister ernannter Mitglieder. In Elsaß-Lothringen leitet die obere Verwaltung des Medizinalwesens der Unterstaatssekretär der innern Abteilung im Ministerium, dem ein Ministerialrat als Referent beigegeben ist. Beim Bezirkspräsidium des Oberelsaß fungiert als Referent ein Medizinalrat. Die Kreisgesundheitsräte, die ihr Amt als unbesoldetes Ehrenamt verwalten, sollen aus der Zahl angesehener Ärzte, Schulinspektoren, Kreisbaumeister, Fabrikanten etc. genommen werden.
In Österreich ist für jede Regierung ein Landessanitätsrat vorgesehen. Derselbe besteht aus dem Landessanitätsreferenten, 36 ordentlichen und andern ad hoc vom Landeschef berufenen Mitgliedern, die unentgeltlich funktionieren. Die Funktionen bestehen in der technischen Begutachtung aller von der Landesstelle vorgelegten Sanitätsangelegenheiten. Er ist anzuhören bei Besetzung von Stellen im öffentlichen Sanitätsdienst des Landes, er prüft das gesamte statistische Material, publiziert es in einem Jahresbericht und stellt Anträge auf Verbesserung der sanitären Verhältnisse und Durchführung der bezüglichen Maßnahmen. Dieselben Verpflichtungen und Befugnisse hat für das ganze im Reichsrat vertretene Österreich der Oberste Sanitätsrat, der aus dem Medizinalreferenten bei der Staatsverwaltung, mindestens sechs ordentlichen Mitgliedern und aus außerordentlichen Mitgliedern in unbestimmter Zahl besteht. In England regelt die Local Government Act (1871) die öffentliche Gesundheitspflege und die Public Health Act (1872) und Public Health Amendement Act (1890) die Organisation der staatlichen Sanitäts- und Medizinalbehörden. Während die öffentliche Gesundheitspflege innerhalb der Sanitätsbezirke ausschließlich und völlig obligatorisch den Local Boards of Health anvertraut ist, steht die Aussicht und Kontrolle über das beteiligte Medizinalpersonal einer einzigen staatlichen Behörde zu, dem Local Government Board (»einem zweiten Ministerium des Innern«), in dem auch das Zentralarmenamt seit 1871 ganz ausgegangen ist. Diese Behörde besteht aus einem Präsidenten, dem Staatsratspräses, dem Lord-Siegelbewahrer, dem Lord-Schatzkanzler und sämtlichen Ministern, sie gliedert sich in neun Abteilungen und erläßt Vorschriften über Qualifikation, Ernennung, Entlassung und die Pflichten der bei einer Gesundheitsbehörde anzustellenden Medical officers, Inspectors of nuisance, Distriktsarmenärzte, chemischen Sachverständigen etc. Ihre Informationen bezieht die oberste Gesundheitsbehörde aus den Berichten des Registrar general, aus den Rapporten ihrer eignen Übelstandsinspektoren u. a. Nach diesen Berichten stellt das Local Government Board den allgemeinen und besondern Gesundheitszustand fest, prüft es die Ortsregulative und begrenzt es die Pflichten des Sanitätspersonals, zunächst allerdings nur, um den Ortsgesundheitsbehörden belehrend und ratend an die Hand zu gehen. Nur wenn letztere ihre Pflicht nicht tun, schreitet das Medizinalamt direkt ein. In Rußland ist dem Staatsministerium ein besonderes Medizinaldepartement und eine beratende Behörde, der Medizinalrat, beigegeben; die Errichtung eines eignen Ministeriums für Volksgesundheit steht in Erwägung. Den Gouvernementsverwaltungen ist je ein Medizinalinspektor und ein Adjunkt beigegeben, ebenso den Kreisverwaltungen ein Kreis-, den Bezirksverwaltungen ein Bezirksarzt. In Italien besteht eine vollkommen einheitliche Zentralverwaltung, selbst das Gesundheitswesen des Heeres und der Marine ressortieren vom Minister des Innern, dem als beratende und begutachtende Behörde das Consiglio superiore di sanità zur Seite steht. Es setzt sich zusammen aus einem Präsidenten, dem Generalprokurator des Appellhofes Roms, einem höhern Militär-, einem Marinearzt, mehreren Ärzten, Juristen oder Verwaltungsbeamten, einem Tierarzt etc. Die Medizinalabteilung des Ministeriums besteht aus ärztlichen Mitgliedern und einem ärztlichen Direktor. Die Provinzial- und Bezirksgesundheitsräte werden vom Minister des Innern ernannt. Der Ortsgesundheitsbeamte wird aus der Zahl der an einem Ort ansässigen Ärzte auf drei Jahre gewählt. Seit 1896 bestehen auch Hafenärzte. In Frankreich ist eine Unterstellung der Medizinalpersonen und ihrer Tätigkeit unter das Ministerium des Innern nicht vorgesehen. Doch auch die andern Ministerien verfügen (wie in den nachgeordneten Instanzen die Präfekten und Maires) für die in ihrem Ressort sich ereignenden Medizinal- und Sanitätsangelegenheiten aus eigner Entschließung. Begutachtend steht dem Minister des Innern das Comité consultatif d'hygiène de France und das Conseil supérieur de l'assistance publique zur Seite; berühmt ist die Académie de medecine, eine gelehrte Körperschaft, aus 100 Mitgliedern bestehend, die auch Gutachten zu erstatten hat; für einzelne besonders wichtige und dringliche Wirkungskreise bestehen spezielle Kommissionen. In den großen Städten entfalten oft die Commissions de santé eine selbständige Tätigkeit. Vgl. Wernich, Zusammenstellung der gültigen Medizinalgesetze Preußens etc. (3. Aufl., Berl. 1894); Gunstadt u. Schill, Das deutsche M. (Leipz. 1887); Rapmund u. Dietrich, Ärztliche Rechts- und Gesetzeskunde (mit Schwalbe, das. 1899); Wehmer, Die neuen Medizinalgesetze Preußens (Berl. 1902); Rapmund, Das öffentliche Gesundheitswesen (Leipz. 1901); »Kalender« und »Zeitschrift für Medizinalbeamte« (beide hrsg. von Raptmund, Berl.).
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro