Kunst; Künstlich

[625] Kunst; Künstlich.

Man braucht diese Wörter ofte, um in den Werken des Geschmaks dasjenige auszudrüken, was blos von der Ausübung der Kunst abhängt, das ist, was zur Darstellung des Werks gehöret. An verschiedenen Orten dieses Werks ist angemerkt worden, daß jedes Werk des Geschmaks aus einem Urstoff bestehe, der einen von der Bearbeitung der Kunst unabhänglichen Werth habe, und daß dieser Urstoff durch das, was die Kunst daran thut, desto tüchtiger werde die Einbildungskraft lebhaft zu rühren, und dadurch die Würkung zu thun, die der Künstler zur Absicht hatte. Darum unterscheidet man sowol in dem Künstler, als in seinem Werke die Natur von der Kunst. Daß ein Mensch in seinem Kopfe Vorstellungen bilde, die werth sind andern mitgetheilt zu werden, ist eine Würkung der Natur, oder des Genies; daß er aber diese Vorstellungen durch Worte, oder andere Zeichen so an den Tag lege, wie es seyn muß, um andre am stärksten zu rühren, ist die Würkung der Kunst.

Im Grund ist sie nichts anders, als eine durch Uebung erlangte Fertigkeit, dasjenige, was man sich vorstellt, oder empfindet, auch andern Menschen zu erkennen zu geben, oder es sie empfinden zu lassen.[625] Man kann ohne ein Mahler zu seyn, die fürtreflichsten Bilder in der Phantasie entwerfen, und sie im schönsten Licht und in den reizendsten Farben sehen; aber nur die Kunst kann solche Bilder äusserlich darstellen. Darum werden zur Bildung eines Künstlers zweyerley Dinge erfordert; Natur, oder welches hier gleichbedeutend ist, Genie, das den Urstoff des Werks innerlich bildet, und Kunst, um denselben an den Tag zu bringen.

Aber auch zu dem, was blos der Kunst zugehört, werden gewisse Naturgaben erfodert. Nicht jeder, der sich eine gehörige Zeitlang in Darstellung der Dinge geübet, und die Regeln der Kunst erlernt hat, wird ein guter Künstler. Um es zu werden, muß er auch das besondere Kunstgenie, das ist die Tüchtigkeit besitzen, das was zur Ausübung gehört, leicht und gründlich zu lernen. Ein Mensch hat vor dem andern natürliche Fähigkeit gewisse Dinge, die von Regeln und von der Uebung abhangen, leicht auszuüben. Dieser hat alsdann ein Kunstgenie.

Horaz sagt: man habe die Frag aufgeworfen, ob ein Gedicht (man kann die Frag auf jedes andre Werk der Kunst anwenden) durch Natur, oder durch Kunst schätzbar werde:


Natura fieret laudabile carmen an arte

Quæsitum est.


Er antwortet darauf, daß beydes zusammen kommen müsse; eine Entscheidung die nicht kann in Zweifel gezogen werden.

Man trift oft Werke der Kunst an, wo nur Kunst, andre, wo nur Natur herrscht; aber solche Werke sind nie vollkommen. Man kann eine Menge holländischer Mahler nennen, die die Kunst in einem hohen Grad der Vollkommenheit besessen haben, denen aber die Natur, das Genie große Vorstellungen in der Phantasie zu bilden, versagt hat. Ihre Werke find als bloße Kunstsachen vollkommen; dienen aber weiter zu nichts, als zur Bewunderung der Kunst. Im Gegentheil sieht man auch ofte Dichter und Tonsetzer, die das Genie haben, fürtrefliche Gedanken zu bilden, ob es ihnen gleich an der Kunst fehlet, sie vollkommen auszudrüken; ihr Ausdruk ist unharmonisch und hart.

Werke an denen sich die Kunst in einem beträchtlichen Grad zeiget, darin man aber die Natur vermißt, werden blos künstliche Werke genannt. Sie können gefallen; denn es ist doch allemal eine Art der Vollkommenheit, genau nach Kunstregeln zu handeln. So hat man Ursache ein Blumen- oder Fruchtstük, das der Mahler blos nach der Natur copirt hat, zu bewundern, wenn es das Urbild vollkommen ausdrükt. Zu dieser vollkommenen Darstellung eines in der Natur vorhandenes Gegenstandes gelanget doch kein Künstler blos durch Befolgung der Kunstregeln; er muß nothwendig das Genie seiner Kunst besitzen.

Es giebt auch Werke die so blos Kunst sind, daß auch nicht einmal das besondere Künstlergenie dazu erfordert wird; die blos durch Ausübung deutlicher Regeln, die jeder Mensch lernen kann, ihre Würklichkeit erlangen. So ist eine nach allen Regeln der Perspektiv gemachte Zeichnung, darin nichts, als gerade Linien vorkommen. Diese kann jeder Mensch machen, der sich die Mühe giebt die Regeln genau zu lernen, und zu befolgen. Dergleichen Werke machen ohne Zweifel die unterste Classe der Kunstwerke aus; oder vielmehr gehören sie gar nicht mehr zu den Werken der schönen Künste, weil sie blos mechanisch sind. Die schönen Künste erkennen eigentlich nur die Werke für die ihrigen, deren bloße Darstellung oder Bearbeitung, Genie und Geschmak erfodert, weil sie nicht nach bestimmten Regeln kann verrichtet werden. So kann z.B. kein Mahler ohne Genie und Geschmak ein guter Coloriste werden.

Bey Vergleichung der Natur und der Kunst kann man bemerken, daß dasjenige, was man blos der Natur zuschreibt, sich in einem Werke findet, ohne daß der Grund, warum es da ist, erkennt wird; die Kunst aber handelt aus Ueberlegung, und erkennet die Gründe nach denen sie handelt. Der Künstler, der in dem Feuer der Begeisterung seine Arbeit entwirft, findet jeden einzelen Theil des Werks, ohne ihn lange zu suchen; die Gedanken drängen sich in seinem Kopf und biethen sich an Ort und Stelle von selbst dar;1 der Entwurf wird fertig und ist ofte fürtreflich, ohne daß der Künstler die Gründe kennt, aus denen er gehandelt hat. Dies ist Natur.

Wenn er nun aber hernach mit kalter Ueberlegung seinen Entwurff wieder betrachtet; wenn er die Beschaffenheit des Ganzen und der einzelen Theile überlegt und dabey findet, daß dieses oder jenes aus ihm bewußten Gründen anders seyn müste, um dem Werk eine grössere Vollkommenheit zu geben, und diesem zufolge die Aenderung macht; [626] so ist dieses Kunst. Je mehr Erfahrung und Uebung der Künstler mit seinem Genie verbindet, je leichter entdeket er die Mängel des blos durch Genie entworfenen Werks. Also giebt die Kunst ihm die wahre Vollkommenheit, auch schon ohne Rüksicht auf seine äusserliche Darstellung. Das Gemähld das nur noch in der Phantasie des Mahlers liegt, hat schon die Würkungen der Kunst erfahren, wenn Theile darin sind, die er aus Ueberlegung und Bewußtseyn gewisser Regeln hineingebracht hat.

Ueber dieses Verfahren der Kunst giebt man die Regel, daß es so viel wie möglich müsse verstekt werden. Dies heist so viel, als: daß die durch Kunst in das Werk gebrachten Sachen, wie die andern den Charakter und das Ansehen der Natur haben müssen. Diejenigen, welche das Werk betrachten müssen das, was die Kunst darin gethan hat, von dem andern nicht unterscheiden können, sie müssen nirgend den Künstler erbliken, damit die Aufmerksamkeit allein auf das Werk gerichtet werde; denn nur in diesem Falle thut es seine volle Würkung. Wir bewundern einen Laocoon, weil wir blos seine Gestalt, seine Stellung, sein Leiden und die äusserste Bestrebung seiner Kräfte erbliken. Sollten wir bey dem Anblik dieses Werks nur etwas von den vielfältigen Bemühungen des Künstlers, seine mühesamen Veranstaltungen, jeden Theil dieses wunderbaren Werks im Marmor darzustellen, gewahr werden; so würde die Aufmerksamkeit von dem Werk abgezogen, und der reine Genuß desselben durch Nebenvorstellungen gestöhrt werden. Horaz sagt von den Erdichtungen, sie müssen der Wahrheit so nahe kommen, als möglich: ficta sint proxima veris; und so muß man von dem, was die Kunst thut, sagen, daß es der Natur völlig gleiche.

Die Franzosen nennen gewisse Wörter in gekünstelten Versen, die nicht nothwendig zum Sinne gehören, sondern blos da sind, um dem Vers seine mechanische Vollkommenheit zu geben, des cheuilles; Nägel um den Vers zusammen zu halten. Dergleichen Nägel und andere zum Gerüste des Kunstgebäudes gehörigen Dinge hat zwar jeder Künstler zu seiner Arbeit nöthig; aber in dem vollendeten Werke, muß alle Spuhr derselben ausgelöscht seyn. Dieses ist ofte sehr schweer: Darum sagt man, es sey die größte Kunst, die Kunst zu verbergen. Dieses hat selbst Virgil in der Aeneis nicht überall zu thun vermocht. Aber in der ganzen Ilias wird man schweerlich irgendwo die Kunst des Dichters entdeken. Ueberall sieht man nur die Gegenstände, die er mahlt und hört nur die Personen die er redend einführt. So wird man selten in dem wunderbaren Colorit eines Titians oder van Dyks die Spuhr der Kunst gewahr, die man in Rembrandts Stüken fast überall entdekt.

Nirgend ist es wichtiger die Kunst zu verbergen, als im Drama und besonders in der Vorstellung desselben; und doch wird auch von sehr guten Dichtern und Schauspielern nur gar zu ofte gegen eine so wesentliche Regel gefehlet. Doch hiervon wird an einem andern Orte ausführlicher gesprochen werden.2

Bisweilen trift man Werke der Kunst an, die so ganz Kunst sind, daß man die Natur darin vermißt. Man fühlt die Mühe und (wenn dieses zu sagen erlaubt ist) riecht beynahe den Schweiß, den es dem Künstler ausgetrieben hat. Man sieht gleichsam das Recept, das er vor sich gehabt hat, um einen Theil nach dem audern mit Mühe zusammen zu setzen. Dieses begegnet den Künstlern ohne Genie, die blos die Regeln studirt haben, und die in der Arbeit von keinem innerlichen Trieb unterstützt werden. Anstatt der Begeisterung, die alles leicht und fließend macht, fühlt man bey ihren Werken die Marter die sie ausgestanden, die Theile des Werks zusammen zu bringen.

Der beste Rath, den man dem Künstler geben kann, den Zwang der Kunst zu versteken ist dieser: daß er zum Entwurff seines Werks die Stunde der Begeisterung erwarte, und zur Ausarbeitung desselben sich hinlängliche Zeit nehme. Denn gar ofte macht die Eil, daß man sich mit der Kunst aus der Noth hilft, da man bey längerem Nachdenken natürliche Auswege würde gefunden haben.

1S. Begeisterung
2Im Art. Natur.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 625-627.
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