Hugo [3]

[612] Hugo (spr. ūgo), Victor Marie, berühmter franz. Dichter, geb. 26. Febr. 1802 in Besançon, gest. 22. Mai 1885 in Paris, war der Sohn eines Offiziers, Sigisbert H., der sich in der Folge zum General und Grafen des Kaiserreichs emporschwang, und der royalistisch gesinnten Tochter eines Reeders von Nantes, Sophie Trébuchet. Für die militärische Laufbahn bestimmt, begleitete er den Vater auf dessen wechselvollen Zügen nach Italien und Spanien. Seine erste Gedichtsammlung, die »Odes et ballades« (1822–26, 3 Bde.), die ihn noch als königstreuen Katholiken zeigt, läßt noch häufig die hergebrachten Muster erkennen, aber der hinreißende Schwung der Sprache, die Kühnheit der Bilder und die ungewohnte Behandlung des Verses verkündigen bereits den künftigen poetischen Revolutionär. Vom König Ludwig XVIII. mit einer Pension von 1000 (später 2000) Frank bedacht, verheiratete sich H. 1822 mit Adéle Foucher (vgl. »Victor H., lettres à la fiancée, 1820–1822«, Par. 1901) und ließ zunächst zwei Romane: »Han d'Islande« (1823) und »Bug Jargal« (1825), erscheinen, worin er sich schon entschlossener von der klassischen Richtung losriß und, wenn zunächst auch nur durch die Vorliebe für das Schauerliche, Mißgeformte und Ungeheure, das Signal zu der großen romantischen Bewegung gab. deren oberster Vertreter er in den nächsten 20 Jahren sein sollte. Weiterhin folgten: das die Verhältnisse eines Bühnenabends weit überschreitende Trauerspiel »Cromwell« (1827), in dessen Vorrede (diese hrsg. von Souriau, 1897) er zugleich sein damaliges ästhetisch-philosophisches Glaubensbekenntnis ablegte; die »Orientales« (1828), Gedichte, welche die Erhebung Griechenlands feiern u. den Zauber des Orients in farbenglühenden Strophen preisen; und die Dramen: »Marion de Lorme« (1829), die Verherrlichung einer durch Liebe rein gewaschenen und verklärten Kurtisane, und »Hernani«, das 1830 zur ersten Ausführung kam und zu einer offenen Schlacht zwischen den Klassizisten und Romantikern Veranlassung gab. Das Stück ist der eigentliche Prototyp des Hugoschen Drama s mit all seinen Gebrechen und Absonderlichkeiten, aber auch mit seinem über alle Bedenken hinwegreißenden Schwung der Sprache und seinen grellen, jedoch durch die Form geadelten Effekten. Mit wechselndem Erfolg lösten sich in den nächsten Jahren auf dramatischem Gebiet ab: »Le roi s'amuse« (1832), nach der ersten Vorstellung verboten; »Marie Tudor« und »Lucrèce Borgia« (1833); »Angelo« (1835); »Ruy Blas« (1838) u. die Trilogie »Les Burgraves« (1843), welch letztere dem Dichter eine so empfindliche Niederlage bereitete, daß er dem Theater für lange Zeit den Rücken kehrte. Fast nur »Hernani« und »Ruy Blas« haben sich auf der Bühne gehalten Von sonstigen Werken fallen noch in diese Periode: der Roman »Notre Dame de Paris« (1831), ein zuweilen absonderliches, aber farbenreiches Kulturgemälde des mittelalterlichen Paris; sodann »Le dernier jour d'un condamné« (1829), ein ergreifendes Plaidoyer gegen die Todesstrafe, dem sich »Claude Gueux« (1834) mit gleicher Tendenz anschloß; die »Feuilles d'automne« (1831), eine Sammlung von Gedichten, in denen die politische und sogar die revolutionäre Saite schon ziemlich vernehmlich anklingt; die »Etudes sur Mirabeau« (1834); die »Chants du crépuscule« (1835) mit dem berühmten Liederzyklus an die VendômesäuleA la colonne«); ferner: »Les voix intérieures« (1837); »Les rayons et les ombres« (1840) und »Le Rhin«, Reiseerinnerungen (1842, 2 Bde.). Viele seiner Liebeslieder sind an die schöne Schauspielerin Juliette Gauvain (Frau Drouet) gerichtet, deren Gesichtszüge in dem Standbilde der Straßburg auf dem Concordeplatz verewigt sind, und die H. in der Prinzeß Negroni (in »Lucrèce Borgia«) zu schildern suchte. Das Liebesverhältnis, das von Frau H. geduldet wurde, hat lange Jahre bestanden. Inzwischen war H. 1841 zum Mitgliede der französischen Akademie erwählt worden, und im April 1845 ernannte ihn Ludwig Philipp zum Pair von Frankreich. In politischer Hinsicht war er mehr und mehr zum Liberalismus übergegangen und stand eine Zeitlang den Bonapartisten nahe. Als Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung von 1848 nahm er trotzdem anfangs seinen Sitz auf der Rechten, bis er mit einem kühnen Satz ins Lager der äußersten Linken übertrat. Nach dem Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 als einer der ersten proskribiert, zog sich H. mit seiner Familie nach der Insel Jersey, einige Zeit später nach Guernsey zurück und veröffentlichte von hier aus 1852 das Pamphlet »Napoléon le Petit« und 1853 die haßerfüllten Gedichte »Les Châtiments«. In der Verbannung nahm Hugos Lyrik vorwiegend philosophische Tendenzen an, denen er seitdem in zahlreichen, an Wert ungleichen Dichtungen Ausdruck gegeben hat. Dahin gehören: »Les Contemplations« (1856, 2 Bde.); »Chansons des rues et des bois« (1865); »La légende des siècles«, in tühnen, oft dunkeln Visionen alle Zeitalter und Formen der menschlichen Zivilisation umfassend (1859, zweite Serie 1877, letzte 1883); »Le Pape« (1878); »Religions et religion« (1879); »L'âne« (1880), sämtlich in den Jahren des Exils entstanden. Auf dem Felde des Romans kultivierte er um diese Zeit die sozialen Fragen in »Les Misérables« (1862, 10 Bde.), »Les travailleurs de la mer« (1866, 3 Bde.) und »L'homme qui rit« (1869, 4 Bde.). Außerdem entstand damals sein Buch »William Shakespeare« (1864). Gegen das Kaiserreich bis zuletzt unversöhnlich, kehrte er erst nach dessen Sturz 1870 nach Paris zurück, beschenkte die belagerte Stadt mit zwei Geschützen und wurde im Februar 1871 in die Nationalversammlung von Bordeaux gewählt, wo er gegen den Friedensschluß protestierte, jedoch bald darauf austrat. Bei einer zweiten Kandidatur 1872 in Paris unterlag er infolge seiner Sympathien für die Kommune, dagegen wurde er 1876 von den Vertretern der Hauptstadt in den Senat gewählt. Seit seiner Rückkehr publizierte er noch: »L'année terrible« (1872), voll von Rachedurst und den ausschweifendsten Zornergüssen gegen Napoleon III. und gegen die Deutschen; »Quatrevingt-treize«, einen in der Vendée spielenden Roman mit leider ganz falscher Lokalfarbe (1874); »Mes fils«, Gedenkblatt für seine früh verstorbenen Söhne (in Charles Hugos »Hommes de l'esprit«, 1874); »Actes et paroles, 1841–1876« (1875–76, 3 Bde.; deutsch, Berl. 1875–77, 3 Bde.); »L'histoire d'un crime«, die Geschichte des Staatsstreichs vom 2. Dez, nach persönlichen Erlebnissen erzählt (1877); »L'art d'être grand-père«, ein lyrisches Familienbild (1877), und »La pitié suprême«, ein Schlußplaidoyer für die Amnestie der Kommuneverbrecher (1879).[612]

H. ist in den Augen der Franzosen ihr größter und universellster Dichter. Was ihn insbes. über die besten seiner Zeitgenossen erhebt, ist die bei Dichtern so seltene Eigenschaft: Kraft. Gewaltig ist er in der Schilderung menschlicher Leidenschaft wie großer Naturerscheinungen, in der Behandlung der nationalen Sprache, die er nachgerade verjüngt hat, wie in der Struktur des spröden französischen Verses, den er um ungeahnte Modulationen bereichert hat. Auf der andern Seite kann H. den Hang des Romanen zum Überschwenglichen, Schwülstigen und Betäubenden, zum grob materiellen Effekt nie verleugnen. Humor ward ihm kaum verliehen, und witzig ist er nie gewesen. So versinnlicht H. in seiner öffentlichen wie in seiner schriftstellerischen Laufbahn die vollkommenste Form des Franzosen des 19. Jahrhunderts. Nach seinem Tod erschienen: »Théâtreen liberté« (1886) und »La fin de Satan« (1886). Seit 1837 war H. Offizier der Ehrenlegion. Eine Gesamtausgabe seiner Werke (»Ne varietur«) erschien 1880–89 in 48,1889 ff. in 70 Bänden. In deutscher Übersetzung hat man von ihm: »Sämtliche Werke, übersetzt von mehreren« (3. Aufl., Stuttg. 1858–62, 21 Bde.); »Poetische Werke«, übersetzt von L. Seeger (unvollendet; das. 1860–62, 3 Bde.), und eine Auswahl von Hugos Gedichten, übersetzt von Freiligrath (Frankf. a. M 1815). In »Victor H., raconté par un témoin de sa vie« (1863) hat der Dichter seiner eignen Frau die Feder geführt. Sein Briefwechsel erschien in 2 Bänden: »Correspondance 1815–1835« (Par. 1896) und »Correspondance 1836–1882« (das. 1898). Vgl. außerdem Rivet, Victor H. chez lui (1878); P. de Saint-Victor, Victor H. (1885); Barbou, V. H. et son temps (1881; deutsch von Weber, Leipz. 1881); Asseline, V. H. intime (1885); Ulbach, La vie de V. H. (1886); Biré, V. H. avant 1830 (1883), V. H. après 1830 (1891, 2 Bde.) und V. H. après 1852 (1894; Biré ist Reaktionär und ein heftiger Gegner Hugos); E. Dupuy, V. H., l'homme et le poète (3. Aufl. 1898) und La jeunesse de V. H. (1902); Mabilleau, V. H. (3. Aufl. 1902); Renouvier, V. H., le poète (1893) und V. H., le philosophe (1900); Theys, Métrique de V. H. (Lüttich 1895); Claretie, V. H., souvenirs intimes (1902); P. Stapfer, V. H. et la grande poésie satirique (1901); »Victor H., leçons faites à l'École normale« (hrsg. von Brunelière, 1902, 2 Bde.); Glachaut, Essai critique sur le théàtre de V. H. (1902); »Legay, V. H., jugé par son siècle« (1902); T. Gautier, V. H. (1902); Lesclide, V. H. intime (1902); Dannehl, Victor H. (Berl. 1886); Martin Hartmann, Chronologische Auswahl der Gedichte Hugos (Leipz. 1884) und Zeittafel zu Hugos Leben und Werken (Oppeln 1886); Möll, Entstehung der »Orientales« (Heidelb. 1901); Sleumer, Die Dramen V. Hugos (Berl. 1901); Barnett Smith, V. H., his life and works (Lond. 1885); Swinburne, A study of V. H. (das. 1886; Swinburne ist Hugos Hauptnachahmer in England); Nichol, V. H. (das. 1893); P. Ahlberg, V. H. och det nyare Frankrike (Stockh. 1879–80, 3 Bde.); Levin, V. H. (Kopenh. 1902, 2 Bde.).

Von Hugos Söhnen ist Charles (geb. 1826), der an der Seite seines Vaters publizistisch wirkte und auch einige jetzt vergessene Romane schrieb, 15. März 1871 in Bordeaux, der zweite, François (geb. 1828), Verfasser einer lobenswerten Übersetzung von Shakespeares sämtlichen Dramen und Sonetten, 25. Dez. 1873 in Paris gestorben. – Von seinen Töchtern starb Adele in einer Irrenanstalt; Leopoldine ertrank 1843 mit ihrem Gatten, einem Bruder des Schriftstellers Vacquerie, in der Seine. Die Witwe Charles Hugos hat sich 1877 mit dem Politiker Edouard Lockroy (s. d.) wieder verheiratet. Die Tochter Charles', Jeanne, die im »Art d'être grand-père« verherrlicht ist, ist mit dem Sohn A. Daudets vermählt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 612-613.
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