Kirchengesang

[43] Kirchengesang und Kirchenlied. Wie schon im religiösen Kultus des Altertums, bei Griechen, Juden etc., der Gesang, meist von Instrumenten begleitet, eine hervorragende Rolle spielte, so kam auch in der christlichen Kirche die Gesangsmusik schon frühzeitig in Anwendung und gelangte hier im Laufe der Zeit zu hoher und kunstvoller Ausbildung (s. Kirchenmusik). Diese geistlichen Gesänge des Mittelalters bestanden zumeist in Psalmen und Hymnen, zum Teil von ergreifender Schönheit, wie z. B. das »Stabat mater« des Jacopone da Todi, das »Dies irae« des Thomas von Celano u. a. bezeugen; aber in lateinischer Sprache abgefaßt (wie der ganze Gottesdienst in ihr gehalten wurde) und von Sängerchören vorgetragen, blieben sie dem Volke selbst fremd. Das einzige, was man diesem jahrhundertelang in der Kirche zu singen gestattete, war der Ruf »Kyrie eleïson« (»Herr, erbarme dich!«), den es nach der Predigt und bei der Vesper im Chor erschallen ließ. Von den Minnesingern im 12. und 13. Jahrh. (z. B. Walter von der Vogelweide) wurden wohl zahlreiche religiöse Lieder verfaßt; allein sie waren von zu subjektiv-individuellem Charakter, als daß sie zu Kirchengefängen oder zu geistlichen Volksliedern hätten werden können. Daß aber das Volk gleichwohl schon in früher Zeit geistliche Lieder besaß und sang, dafür liegen mehrfach Zeugnisse vor. Als das älteste ist ein altdeutscher Lobgesang auf den heil. Petrus aus dem 9. Jahrh. erhalten, aus drei Strophen bestehend, deren jede mit dem Refrain »Kyrie eleïson« endigt. Man sang dergleichen Lieder jedoch nur bei außerkirchlichen Anlässen, an Festtagen und bei Begräbnissen, bei Wallfahrten, bei Bitt- und Bußgängen, auf den Kreuzzügen, im Kriege vor und nach der Schlacht sowie auf der See. Diese ältesten deutschen geistlichen Lieder wurden Leisen (abgekürzt von dem gewöhnlichen Refrain »Kyrie eleïson«) genannt, und diese Benennung erhielt sich bis ins 15. Jahrh. Am verbreitetsten waren von ihnen der Osterleis (»Krist ist erstanden«), der Himmelfahrtsleis (»Krist fur gen himel«) und der Pfingstleis (»Nu bitten wir den heiligen geist«), die später auch beim Gottesdienst Anwendung fanden. Im 14. und 15. Jahrh. kam der deutsche religiöse Gesang mehr und mehr in Schwung, so namentlich durch die weichen und innigen Lieder der Mystiker, die Bußgesänge der Geißelbrüder, durch Übersetzungen alter lateinischer Kirchenhymnen, auf welchem Gebiete der Benediktiner Hermann von Salzburg und nach ihm der Priester Heinrich von Laufenberg vor andern tätig waren, endlich durch Umdichtung weltlicher Gesänge zu geistlichen Liedern.

Das eigentliche Kirchenlied, d. h. das geistliche Lied, das in der Kirche von der versammelten Gemeinde zu ihrer Erbauung gesungen wird und einen wesentlichen Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes ausmacht, ist das eigenste Erzeugnis der Reformation. Als sein Begründer ist Martin Luther selbst zu bezeichnen, der die Bedeutung dieses Erbauungsmittels erkannte, und bereits 1524 eine kleine, in den spätern Auflagen immer wachsende Sammlung solcher Lieder (darunter 37 von ihm selbst gedichtete) herausgab. Die namhaftesten andern Kirchenliederdichter jener Zeit waren: Paulus Speratus, Nikol. Decius, Erasmus Alberus, Burkard Waldis, Just. Jonas, Nikol. Herman, Wolfg. Musculus, Joh. Matthesius, Markgraf Albrecht von Brandenburg-Kulmbach, Paul Eber, Nikol. Selnecker, Joh. Fischart, Barthol. Ringwaldt, Phil. Nicolai, Val. Andreä, Hans Sachs u. a. Die ältern dieser evangelischen Lieder, die sich zunächst an das Vorbild Luthers hielten, sind von der reinsten religiosen Begeisterung und Glaubensgewißheit erfüllt und in einer Sprache abgefaßt, die in ihrer schlichten Hoheit und volkstümlichen Kraft nie wieder erreicht worden ist. Gegen Ende des 16. und im 17. Jahrh. tritt im Kirchenlied des Dogma und konfessioneller Eifer schärfer hervor; doch erhielt es durch die Drangsale des Dreißigjährigen Krieges einen neuen Aufschwung, der eine edle Subjektivität des religiösen Gefühls zum Ausdruck brachte und dabei dem Schwulst und der gelehrten Unnatur der schlesischen Dichterschulen gegenüber an den ältern volkstümlichen Formen zunächst noch festhielt. Doch wurden die Opitzschen Grundsätze der [43] Verskunst durch Johannes Heermann in das Kirchenlied eingeführt. Seinen Höhepunkt erreichte es in dieser Zeit durch Paul Fleming und namentlich durch den fast unerreicht dastehenden Paul Gerhard, denen zunächst Simon Dach, Heinr. Albert, Luise Henriette von Brandenburg (Gemahlin des Großen Kurfürsten) und Georg Neumark an die Seite zu stellen sind. Außerdem sind erwähnenswert: Joh. Rist, Martin Rinckart (der Dichter des Liedes »Nun danket alle Gott«), Just. Gesenius, der pessimistisch-tiefsinnige Andr. Gryphius, M. Schirmer, Joh. Franck, die Gräfin Amalia Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt, die Landgräfin Anna Sophie von Hessen u. a. Mit dem Ende des 17. Jahrh. wird dann die Form gekünstelt und spielend, und eine süßliche und tändelnde, in subjektivstem Gefühl sich verlierende Richtung greift unter dem Einfluß des herrschenden Pietismus Platz, zu der die trockne Verständigkeit und orthodoxe Lehrhaftigkeit andrer Liederdichter in seltsamem Kontrast steht. Aber wenn sich die Lieder aus dem Beginn dieser Periode, wie die von Löscher, Phil. Spener, E. Neumeister, B. Schmolck, Kasp. Schad, Tersteegen, noch durch wahre, wenn auch oft überschwenglich und sentimental ausgedrückte Herzensfrömmigkeit auszeichnen, so verfallen die der Spätern, wie Joach. Lang, Anast. Freylinghausen, Bogatzky u. a., ihrem ganzen Wesen nach in Tändelei und Geschmacklosigkeit. In der Aufklärungsperiode des 18. Jahrh. treten uns zunächst Klopstock und Gellert als hervorragende Dichter geistlicher Lieder entgegen. Beide halten im wesentlichen noch an den alten Glaubenslehren fest, doch Klopstocks lebhafte Phantasie weiß nur selten die Schranken des volkstümlichen Liedes einzuhalten. Ein lehrhafter Zug tritt, wie schon in vielen von Gellerts Liedern, so in denen von J. A. Schlegel, Cramer, Dietrich und Lavater hervor. Einen Aufschwung erfuhr das geistliche Lied wieder durch die Belebung des religiösen Gefühls, die sich unter dem Einfluß der Romantik und infolge der Befreiungskriege im deutschen Volke kundgab. Hier verdienen zunächst die Lieder von Novalis, E. M. Arndt, v. Schenkendorf, Giesebrecht etc. Erwähnung, die den Übergang zur geistlichen Lyrik der Neuzeit bilden, als deren Hauptvertreter wir A. Knapp, Phil. Spitta, Luise Hensel, Viktor v. Strauß, Karl Gerok und Julius Sturm namhaft machen. Das Charakteristische dieser modernen geistlichen Lyrik liegt in dem Streben, die dem Lutherschen Kirchenlied eigentümlichen Vorzüge der Glaubensfreudigkeit und objektiven Heilsgewißheit mit der subjektivern Frömmigkeit und höhern ästhetischen Forderungen in Einklang zu bringen. Hiermit steht auch das Bestreben im Zusammenhang, die alten, im Laufe der Zeit vielfach veränderten und entstellten Kirchenlieder, soweit tunlich, in der ursprünglichen Gestalt wieder einzubürgern, in welcher Richtung besonders Bunsen, Raumer, Stier, Knapp u. a. mit Maß und Geschmack tätig waren, während die Anhänger der kirchlichen Reaktion für das Alte ohne jegliche Veränderung eintraten (vgl. Gesangbuch).

Weniger günstig für das Kirchenlied entwickelte sich der Gottesdienst bei den Reformierten, bei denen lange Zeit in der Kirche nur alttestamentliche Psalmen gesungen werden durften: in Frankreich und der französischen Schweiz die von Goudimel in Musik gesetzten Psalmen Marots und Bezas, in Deutschland ebendieselben nach der Übersetzung von Lobwasser (gest. 1583). Letztere blieben lange Zeit das einzige Gesangbuch der deutschen reformierten Gemeinden. Doch hat im 17. Jahrh. auch ein hervorragender Dichter reformierten Bekenntnisses, Joachim Neander, zum Aufschwung der kirchlichen Liederdichtung beigetragen. – Auch die Katholiken beteiligten sich an der auf dem Gebiete des Kirchenliedes entstandenen Bewegung. Um den Wirkungen des reformatorischen Gesanges zu begegnen, wurden auch von ihnen geistliche Liedersammlungen veranstaltet, in denen teils ältere Lieder mitgeteilt, teils ältere Strophen durch neu hinzugedichtete erweitert wurden, teils auch ganz neue Lieder Aufnahme fanden; sogar rein lutherische Gesänge gingen in diese Bücher über. Der erste, welcher in dieser Richtung wirkte, war Michael Vehe (1537). Spätere und umfangreichere Sammlungen sind die von G. Witzel (1541) und von Johann Leistentrit (1567). Als Liederdichter der katholischen Kirche sind besonders der edle Jesuit Fr. v. Spee, der die geistliche Bukolik pflegte, und der ursprünglich von pantheistischer Mystik begeisterte Konvertit Angelus Silesius (Joh. Scheffler, s. d.), aus neuerer Zeit J. H. v. Wessenberg, Smets, Beda Weber und besonders M. v. Diepenbrock zu erwähnen.

Vgl. Hoffmann (von Fallersleben), Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf Luthers Zeit (Berl. 1832; 3. Ausg., Hannov. 1861); Phil. Wackernagel, Bibliographie zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im 16. Jahrhundert (Frankf. 1855) und Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts (Leipz. 1864–77, 5 Bde.); Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche (3. Aufl., Stuttg. 1866–76, 8 Bde.); Fischer, Kirchenlieder-Lexikon (Gotha 1878–79, 2 Bde.; Nachtrag 1886) und Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts (vollendet und hrsg. von W. Tümpel, Gütersl. 1902 ff.); Dietz, Die Restauration des evangelischen Kirchenliedes (Marburg 1903); Beck, Geschichte des katholischen Kirchenliedes (Köln 1878); Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied (Freiburg 1883–91, 3 Bde.); weitere Literatur beim Artikel »Choral«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 43-44.
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