Berufung [2]

[741] Berufung (Appellation) hat in der Rechtssprache verschiedene Bedeutungen. B. heißt unter anderm die der Übernahme eines Amtes, z. B. der Vormundschaft (s. d.) vorausgegangene Aufforderung, ferner der Anfall einer Erbschaft (s. d.). Im Prozeß nennt man B. dasjenige Rechtsmittel (s. d.), durch das eine Nachprüfung und Abänderung der angefochtenen Entscheidung in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht durch ein höheres Gericht verlangt werden kann. Die B. ist wie die Revision (s. d.) nur gegen Urteile zulässig; aber sie unterscheidet sich von diesem Rechtsmittel dadurch, daß sie nicht nur eine Nachprüfung des angefochtenen Urteils im Rechtspunkt gewährt, sondern auch darauf gestützt werden darf, daß das angefochtene Urteil auf unrichtiger Auffassung des Tatbestandes beruhe. Die B. stammt aus dem römischen Recht. Sie war im frühern deutschen Zivilprozeß, als man noch an dem sogen. Grundsatz der drei Instanzen (s. Instanz) festhielt, unter dem Namen Oberappellation auch gegen Urteile der zweiten Instanz zulässig, jedoch meistens durch das Vorhandensein der sogen. Appellationssumme (summa appellabilis), d. h. eines bestimmten Wertbetrages des Streitgegenstandes, bedingt. Eine solche Oberappellation kennt die Reichsgesetzgebung nicht mehr. Dagegen ist die B. im Zivilprozeß sowohl gegen die Urteile der Amtsgerichte als gegen diejenigen der Landgerichte zulässig. Im ersten Falle steht die Entscheidung darüber dem Landgericht, im letztern dem Oberlandesgericht zu. Eine B. im Strafprozeß ist nur gegen die Urteile der Schöffengerichte gestattet. Über sie entscheiden die Strafkammern des Landgerichts. Der B. im Zivilprozeß nachgebildet, aber durch besondere Gesetze geregelt, sind manche Rechtsmittel, die nicht gegen Entscheidungen der gewöhnlichen Gerichte, sondern gegen solche andrer Behörden, z. B. des Patentamtes, der Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichte etc., zugelassen wurden.

[Berufung im Zivilprozeß.] Nach der deutschen Zivilprozeßordnung (§ 511–541) gelten für dieses Rechtsmittel folgende Grundsätze: 1) die B. findet (nach § 511) nur gegen die in erster Instanz erlassenen Endurteile (s. d.) und die ihnen gleichgestellten Urteile, nicht auch gegen gewöhnliche Zwischenurteile (s. d.) statt. Dabei wird, damit die B. zulässig ist, vorausgesetzt, daß die sie einlegende Partei (der Berufungskläger) durch die angefochtene Entscheidung beschwert ist, und daß es sich nicht um ein Versäumnisurteil (s. d.) handelt. Ein derartiges Urteil darf (nach § 513) regelmäßig nur durch Einspruch (s. d.) angefochten werden. 2) Die V. gibt Anspruch auf Erneuerung und Wiederholung des Rechtsstreites vor dem Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil darf nur insoweit abgeändert werden, als dies beantragt worden ist; auch bilden den Gegenstand der Verhandlung und Entscheidung nur die einen zuerkannten oder aberkannten Anspruch betreffenden Streitpunkte (§ 525, 536, 537). Der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegen aber (nach § 512) auch die dem angefochtenen Endurteil vorausgegangenen Entscheidungen, die nicht für unanfechtbar erklärt wurden oder der Beschwerde unterliegen, also insbesondere Zwischenurteile und Beweisbeschlüsse (s. d.). 3) Das Verfahren in der Berufungsinstanz ist in folgender Weise geregelt: a) die Einlegung der B. ist (nach § 516) an eine Notfrist (s. d.) von einem Monat geknüpft, die mit Zustellung des anzufechtenden Urteils beginnt und Berufungsfrist genannt wird. Sie erfolgt nach § 518 durch Zustellung des Schriftsatzes (der Berufungsschrift), dessen wesentlicher Inhalt in der Erklärung besteht, daß man gegen das Urteil B. einlege und den Gegner (den Berufungsbeklagten) zur mündlichen Verhandlung darüber vor das Berufungsgericht lade. Die Berufungsanträge dürfen noch bei der mündlichen Verhandlung gestellt und nachträglich erweitert werden. Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie neue Beweismittel sind zulässig, neue Ansprüche und Klageänderungen nur mit Einwilligung des Gegners (§ 527 und 529). b) Der Berufungsbeklagte darf sich der vom Gegner erhobenen B. anschließen (s. Anschließung), d. h. auch seinerseits Abänderungen des angefochtenen Urteils beantragen. c) Im Termin zur mündlichen Verhandlung stellen die Parteien zunächst ihre Berufungsanträge. Innerhalb der durch diese Anträge bestimmten Grenzen wird dann der Rechtsstreit von neuem verhandelt. Auf das Verfahren finden nach § 523, soweit nichts andres bestimmt ist, die für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften entsprechende Anwendung. Besonderheiten gelten nach § 542 insbes. im Fall einer Versäumung des Berufungsbeklagten. d) Das Berufungsgericht hat nach § 535 von Amts wegen zu prüfen, ob die B. an sich statthaft ist, und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt wurde. Ist dies nicht der Fall, so ist die B. als unzulässig zu verwerfen. Andernfalls ist in der Sache zu entscheiden. Zum Nachteil des Berufungsklägers darf das angefochtene Urteil nicht (durch sogen. reformatio in pejus) abgeändert werden, sofern nicht eine Anschließung erfolgt ist. Die Abänderung erfolgt regelmäßig durch das Berufungsgericht. Unter bestimmten Voraussetzungen darf die Sache aber (nach § 538, 539) auch an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen werden. Die abändernde Entscheidung wurde früher reformierendes Erkenntnis oder sententia reformatoria, die Zurückweisung der B. bestätigendes Erkenntnis oder sententia confirmatoria genannt. Das Berufungsurteil eines Landgerichts ist unanfechtbar, dasjenige[741] eines Oberlandesgerichts kann nur noch durch Revision (s. d.) angefochten werden. – Die Vorschriften der österreichischen Zivilprozeßordnung über die B. (§ 461–501) weichen in vielen Beziehungen, namentlich darin von denjenigen der deutschen ab, daß eine mündliche Verhandlung nicht immer stattfindet, daß die Berufungsanträge ohne Einwilligung des Gegners nicht geändert werden dürfen, und daß neues Vorbringen nur in beschränktem Umfange gestattet ist. Vgl. Harras von Harrasowski, Die Rechtsmittel im Zivilprozeß (Wien 1879); v. Kries, Die Rechtsmittel des Zivilprozesses und des Strafprozesses (Bresl. 1880); Barazetti, Die Rechtsmittel der B. und der Beschwerde (Berl. 1882).

[Berufung im Strafprozeß.] Auch die B. im Strafprozeß führt grundsätzlich eine vollständige Nachprüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht herbei. Das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel ist zulässig. Die B. findet statt gegen die Urteile der Schöffengerichte (Strafprozeßordnung, § 354). Die Einlegung der B. muß bei dem Gericht erster Instanz, also dem Amtsgericht, binnen einer Woche nach Verkündung des anzufechtenden Urteils zu Protokoll des Gerichtsschreibers oder schriftlich erfolgen. Umfang und Grund der B. brauchen erst in der mündlichen Verhandlung bezeichnet zu werden; bis dahin gilt dann der ganze Inhalt des Urteils als angefochten; seine Rechtskraft ist, soweit es angefochten ist oder als angefochten gilt, gehemmt. Der »Beschwerdeführer« kann die von ihm eingelegte B. auch schon vor der mündlichen Verhandlung binnen einer weitern Woche nach Ablauf der Einlegungsfrist schriftlich rechtfertigen (Berufungsrechtfertigung). Die Begründung des Rechtsmittels kann aus tatsächlichen oder rechtlichen Irrtümern der Vorinstanz, aus Verstößen gegen das formelle oder Prozeßrecht, aus unrichtiger Entscheidung der Hauptsache oder der Kostenfrage entnommen werden. Das Berufungsgericht prüft zunächst die Formalien des Rechtsmittels und verwirft es, falls diese nicht gewahrt sind, durch Beschluß als unzulässig. Andernfalls findet nunmehr zunächst die Vorbereitung der Hauptverhandlung nach den für die erste Instanz geltenden Vorschriften und dann die Hauptverhandlung selber statt. Nach dem Vortrag des Berichterstatters (s. d.) erfolgt die Vernehmung des Angeklagten und die Beweisaufnahme. Hieran schließt sich das Plaidoyer. Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. Alsdann ergeht das Urteil des Berufungsgerichts, das entweder die B. (als unbegründet) verwirft oder, wenn die B. als zulässig und begründet befunden ist, in der Sache selbst, wie wenn in erster Instanz entschieden würde, erkennt. Das Urteil des Berufungsgerichts kann auch auf Zurückverweisung in die erste Instanz (bei prozessualen Mängeln) oder auf Verweisung an das zuständige Gericht lauten. Bleibt der Angeklagte als Appellant unentschuldigt aus, so wird seine B. sofort verworfen. War die B. nur von dem Angeklagten oder zu seinen gunsten überhaupt eingelegt worden, so darf das angegriffene Urteil nicht zu seinem Nachteil abgeändert werden (Verbot der reformatio in pejus). – Die österreichische Strafprozeßordnung vom 23. Mai 1873 läßt die B. gegen die Endurteile der Gerichtshöfe erster Instanz und der Schwurgerichte zu, soweit es sich dabei um den Ausspruch dee Strafe und um etwaige Privatansprüche handelt. In Übertretungsfällen, wobei in erster Instanz ein Einzelrichter entscheidet, kann jedoch auch die B. wegen des Anspruches über die Schuld ergriffen werden, und hier können eventuell auch neue Zeugen und Sachverständige vernommen werden. Vgl. Österreichische Strafprozeßordnung, § 283, 294 ff., 345,463,466 ff. – In Deutschland ist es seit langem als Mangel der Strafrechtspflege empfunden, daß es eine B. nur gegen die Urteile der Schöffengerichte gibt. Die Frage der allseitig vom Publikum und teilweise auch von der Praxis verlangten Einführung der B. auch gegen erstinstanzielle Urteile der Strafkammern beschäftigte den Reichstag in verschiedenen Sessionen, aber ohne Erfolg. Vgl. Kronecker, Fragen zur Lehre von der B. in Goltdammers »Archiv«, Bd. 38, S. 119 ff. (Berl. 1901). Wohl aber hat die B. in erweitertem Maße Eingang gefunden im Militärstrafverfahren, wo sie gegen Urteile der Standgerichte und gegen die Urteile der Kriegsgerichte in erster Instanz stattfindet. Durch B. kann das Urteil erster Instanz sowohl in tatsächlicher als in rechtlicher Beziehung angefochten werden. Die B. muß binnen einer Woche nach Urteilverkündung eingelegt werden. Vgl. Militärstrafgerichtsordnung, § 378–396.

In Versicherungssachen (Unfall-, Invalidenversicherung) findet gegen die Bescheide der ersten Instanz B. auf schiedsgerichtliche Entscheidung statt; dieselbe hat bis 4 Wochen nach der Zustellung des Bescheides zu geschehen und hat keine aufschiebende Wirkung. Ebenso gibt es gegen die Endurteile in Verwaltungsstreitsachen eine B. an das dem erkennenden Gerichte nächst vorgesetzte.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 741-742.
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