Edda

[363] Edda, Bezeichnung für zwei verschiedene Denkmäler der altnordischen Literatur, genannt die ältere und die jüngere E. Der Name (»Das Buch von Oddi«, s. Snorri Sturluson) kommt übrigens nur dem letztern Werke von Rechts wegen zu; auf das erste ist es erst spät infolge eines gelehrten Mißverständnisses übertragen.

Die ältere E., auch Sämundar E. genannt, weil man irrtümlicherweise den gelehrten isländischen Priester Sämundr Sigfússon (1056–1131) für den Sammler oder gar Verfasser hielt, enthält Lieder, die Stoffe der germanischen Götter- und Heldensage behandeln. Über Heimat und Alter dieser Gedichte ist vielfach gestritten worden, doch hat sich gegenwärtig die Überzeugung Bahn gebrochen, daß in der ältern E. Produkte aus verschiedenen Zeiten (9.–12. Jahrh.) vereinigt seien, daß nur für einen kleinen Teil der Gedichte norwegischer Ursprung angenommen werden könne, während die Hauptmasse erst in Island (z. T. auch in der isländischen Kolonie Grönland und auf den nordschottischen Inseln) entstanden sei.

Ihren Hauptwert haben die Lieder der ältern E. als Quelle für die germanische Mythologie, über die uns aus Deutschland und England nur höchst ungenügende und fragmentarische Nachrichten erhalten sind, und für die ältere Gestalt der deutschen Heldensage. Dieser Wert würde allerdings in hohem Grade geschmälert sein, wenn die Behauptungen Sophus Bugges sich als wahr erweisen ließen, der neuerdings den Nachweis zu führen versuchte, daß ein großer Teil der in der ältern E. behandelten Götter- und Heldensagen nicht in autochthoner Volksüberlieferung wurzele, sondern seine wesentlichsten Züge altklassischen Mythen und christlichen Legenden verdanke, mit denen die Nordgermanen während der Wikingerzeit auf den britischen Inseln bekannt geworden seien (»Studier over de nordiske Gude- og Heltesagns Oprindelse«, Christiania 1881–89; deutsch von O. Brenner, Münch. 1889; »Helgedigtene i den ældre E.«, Kopenh. 1896; »The home of the Eddic poems«, Lond. 1899). Indessen wird man so lange an der Nichtigkeit dieser Behauptungen, die z. T. durch höchst gewagte Etymologien gestützt werden, zu zweifeln befugt sein, bis es Bugge gelingt, die keltischen Mittelglieder, die den Skandinaviern die Kenntnis der antiken und christlichen Literatur zugeführt haben sollen, als wirklich existierend nachzuweisen.

Die Lieder der ältern E., die zuerst unzweifelhaft nur mündlich überliefert sind, wurden im 13. Jahrh. auf Island gesammelt und niedergeschrieben. Leider ist uns der Archetypus nicht erhalten, auch keine unmittelbaren Abschriften. Die wichtigste und umfangreichste Handschrift, der Codex regius (um 1640 von dem Skalholter Bischof Brynjolfr Sveinsson aufgefunden, jetzt auf der königlichen Bibliothek in Kopenhagen), aus dem Ende des 13. Jahrh., bietet jetzt noch auf 45 Quartblättern 29 Lieder und Liedbruchstücke (Faksimileausgabe von L. Wimmer und Finnur Jonsson, Kopenh. 1891); der Codex Arnamagnaeanus (auf der Universitätsbibliothek in Kopenhagen) bringt auf sechs Blättern größtenteils schon im Codex regius Enthaltenes, nur ein neues Lied kommt noch hinzu (Faksimileausgabe von Finnur Jonsson, Kopenh. 1896). Einige Lieder liegen zerstreut in andern Handschriften vor, so im Regius und Wormianus der prosaischen E., in der Hauksbók und Flateyjarbók (die jüngern Papierhandschriften sind meist völlig wertlos).

Die Gesamtzahl der erhaltenen Gedichte beträgt 34; nur in der Hälfte und zwar meist in den sagenhistorischen Liedern finden sich eingeschobene Prosastücke des Sammlers, die teils dunkle Stellen erläutern, teils Lücken der poetischen Darstellung ergänzen, teils den sachlichen Zusammenhang mehrerer Lieder geben sollen. Zwei Prosastücke (Sinfjotlalok, »Tod des Sinfiotli«, und Dráp Niflunga, »Untergang der Nibelungen«) stehen selbständig. Die Lieder sind sämtlich in alliterierenden Versen und Strophen, teils im fornyrdhislag und málaháttr, teils im ljódhaháttr (s. Nordische Verskunst) abgefaßt. Ihrem Inhalt nach behandeln sie die nordische Mythologie und germanische (zum großen Teil deutsche) Heldensage und zwar in episch-erzählender oder dramatisch-didaktischer Darstellung. Die mythischen Lieder sind folgende: VoluspáOffenbarung der Seherin«) gibt eine Übersicht der heidnischen Weltanschauung; Hávamál (»Sprüche des Hohen«, d.h. Odins), ein Gedicht von wesentlich gnomisch-didaktischem Inhalt, in dem sich aber auch Anspielungen auf verschiedene, z. T. sonst unbekannte Mythen finden; Vafthrúdhnismál erzählt die Reise Odins unter Gangrads Gestalt zu dem Riesen Vafthrudnir und den Wettstreit beider in der Religionsweisheit; Grimnismál erzählt, wie Odin als Grimnir bei dem König Geirodd den Zustand der Welt und sein eignes Wesen offenbart; Skirnis for (»Skirners Fahrt«), wie Skirnir, Freys Diener, für seinen Gebieter um die Riesentochter Gerd freit; Hárbardsljódh (»Harbards Lied«), wie Thor auf seiner Reise mit Harbard, dem Fährmann, in Streit gerät; Hýmiskvidha erzählt die Sage vom Riesen Hymir, dem Thor und Tyr den Kessel abgewinnen, in dem von Ägir das Bier für die Götter gebraut wurde; LokasennaLokis Streit«), wie Loki an einem Gastmahl bei Ägir die Asen lästerte; Thrymskvidha oder Hamarsheimt (»Die Wiedererlangung des Hammers«), wie Thor und Loki dem Riesen Thrym den Hammer Thors wieder nehmen; Baldrs DraumarBalders Träume«), wie Odin als Vegtam in der Unterwelt die Zauberin nötigt, ihm Baldrs Tod zu weissagen; Alvíssmál (»Des Allwissenden Lied«) handelt von Synonymen der himmlischen, irdischen und unterirdischen Wesen in der Dichtersprache; Rígsthula oder Rígsmál erzählt die Erschaffung der drei sozialen Stände durch Heimdall, der unter dem Namen Rig die Welt durchwandert; Hyndluljódh, mit dem in der Tradition die Voluspá in skamma (die kürzere Woluspa) zusammengewachsen ist, berichtet, wie die Zauberin Hyndla, um den Erbschaftsstreit zwischen Angantyr und Ottar zu schlichten, die Abstammung des letztern von den Göttern beweist. Außer diesen zwölf hat man früher allgemein auch einige nur in Papierhandschriften überlieferte Lieder mythischen Inhalts zur E. gerechnet, doch scheint nur eins von ihnen, die Svipdagsmál, wirklich alt und echt zu sein: es erzählt, wie Swipdag, von[363] seiner aus dem Todesschlaf erwachten Mutter Groa durch kräftige Zaubersprüche geschützt, den Weg zu der Burg der ihm verlobten Braut Menglod findet und dort mit der Geliebten sich vereinigt. Dagegen sind die Forspjallsljódh (auch Hrafnagardr Odhins genannt) ein Kunstprodukt des 17. Jahrh., und ebensowenig dürfen die Sólarljódh zur E. gerechnet werden, die aus christlicher Zeit herrühren und die christliche Glaubenslehre mit altheidnischen Bildern ausschmücken.

Den Hauptteil der E. machen die sagenhistorischen Lieder aus, von denen jedoch nur vier ihren Stoff der heimisch-nordischen Sage entnehmen: drei Lieder von Helgi (s. d.) und der Grottasongr (die Frieden mahlenden Riesenmägde prophezeien dem Frodi nahen Untergang). Die Völundarkvidha zeigt die nordische Gestaltung der gemeingermanischen Sage vom Schmied Wieland. Sämtliche übrigen Lieder behandeln die deutsche Siegfried- (nord. Sigurdhr) und Nibelungensage, die in früher Zeit (etwa im 6. Jahrh.) im Norden bekannt wurde und sich hier in sehr altertümlicher Gestalt erhielt, während sie im deutschen Stammland in lebhafter Entwickelung blieb. Man unterscheidet zunächst drei Sigurdlieder (Sigurdar kvidhur Fáfnisbana). Im ersten läßt sich Sigurd von seinem Oheim Gripir sein Schicksal vorhersagen (daher besser Grípisspá, »Gripirs Prophezeiung«). Im zweiten wird dem Sigurd vom Zwerg Regin der Ursprung des Hortes erzählt und er angestachelt, den Horthüter Fafnir zu töten; doch rächt Sigurd erst den Tod seines Vaters (besser Reginsmál). Darauf berichten die Fáfnismál erst von der Tötung Fafnirs und Regins und der Erbeutung des Schatzes durch Sigurd, die Sigrdrífumál Sigurds Zusammentreffen, Unterhaltung und Verlobung mit Brynhild (Sigrdrifa als Walküre), bis das eigentliche (dritte) Sigurdlied uns erzählt, wie Sigurd an Giukis (deutsch Gibich) Hof kommt, sich mit Gudrun vermählt und Gunnar und Brynhild zusammenbringt, wie dann Brynhild sich durch Ermordung Sigurds rächt, aber ihm freiwillig in den Tod folgt. Die Mordgeschichte nebst den nähern Umständen danach liegt noch in einem Liedfragment vor, dem sogen. Brot af Sigurdharkvidhu (auch Brynhildarkvidhu). Die Helreidh Brynhildar beschreibt Brynhilds Fahrt in die Unterwelt. Drei Gudhrunarkvidhur schildern den gewaltigen Schmerz und die Klage Gudruns um Sigurd, wie sie dazu gebracht wird, sich mit Am zu vermählen, und wie sie, der Untreue beschuldigt, sich durch den Kesselfang vom Verdacht reinigt. Die beiden Atlilieder (Atlakvidha und Atlamál in grœnlenzku) zeigen schon durch ihre Form relativ späte Entstehung; sie erzählen (das zweite ausführlicher) Einladung, Fahrt und Tod der Nibelungen bei Am (Etzel) und Gudruns Rache. Zwei andre Lieder führen uns in die Sage von Ermenrich (altnord. Jörmunrekr). Dieser hat seine Frau Swanhild (Gudruns Tochter) töten lassen; Gudrun mahnt ihre Söhne zur Rache und zählt dabei alles erfahrene Leid auf (Gudhrúnarhvot). Die Brüder erschlagen auf dem Wege zu Jormunrek ihren Stiefbruder und vollführen die Rache, aber auch sie selbst fallen in rühmlichem Kampf (Hamdhismál). Noch ist ein Lied übrig, der Oddrúnargrátr: Oddrun, Atlis Schwester, war Gunnars Geliebte; doch vor Brynhild muß sie zurücktreten. Auch nach deren Tod widersetzt sich Am der Verbindung, die Liebende muß Gunnar im Schlangenturm sterben lassen. Früher rechnete man noch ein nur in Papierhandschrift des 18. Jahrh. enthaltenes Lied zu diesem Teil der E., den Gunnarsslagr (wie der gefesselte Gunnar im Schlangenturm durch Harfenspiel die Schlangen einschläfert); doch ist dies jetzt als Produkt des 18. Jahrhunderts erwiesen (vgl. Pfeiffers »Germania«, Bd. 13, S. 72,284).

Authentisch haftet der Name E. an jenem berühmten Lehrbuch altnordischer Kunstpoesie, an der jüngern oder prosaischen oder Snorra-E., die 1628 Arngrim Jonson ebenfalls nach jahrhundertelanger Vergessenheit wieder auffand; die unterscheidenden Epitheta finden sich jedoch erst, seit jene Volkslieder auch E. genannt wurden. Sie wurde von dem Isländer Snorri Sturluson (s. d.) um 1230 verfaßt, bez. zusammengestellt; doch ist in der Folge diesem ursprünglichen Buch manches hinzugefügt worden. Sie liegt uns su vier Haupthandschriften vor, von denen der Codex Upsalensis von ca. 1300 den unzweifelhaft von Snorri selbst gewählten Namen E. sich beilegt. Es sind zu unterscheiden: a) Die Gylfaginning, eine euhemeristische Darstellung der nordgermanischen Mythologie in einem Wechselgespräch zwischen dem mythischen Schwedenkönig Gylfi und den drei Asen Har, Jafnhar und Thridi. Daran schließen sich in geringerm Umfang die Bragarœdhur, worin der Dichtergott Bragi manches von den Taten und Schicksalen der Götter erzählt. b) Die Skaldskaparmál, welche die formale Seite der Dichtkunst zum Gegenstand haben, also eine Poetik für die Skalden. Da sind zunächst die kenningar oder poetischen Umschreibungen aufgezählt, dann die ókend heiti oder die in der gewöhnlichen Sprache veralteten Ausdrücke, endlich die fornöfn oder Ersatznamen, Umschreibungen für Eigennamen. Alle Regeln sind mit Beispielen aus der ältern Skaldenpoesie belegt und dabei ca. 70 Skalden genannt. c) Háttatal (auch Hattalykill), ein Lobgedicht des Snorri auf König Hakon von Norwegen (gest. 1263) und den Jarl Skuli, das aus 102 Strophen besteht, deren jede eine besondere Versart vertritt. Das ganze Gedicht wird durch einen weitläufigen Kommentar erläutert, der somit eine Art von skaldischer Metrik bildet (Ausgabe von Th. Möbius, Halle 1879–81). Der zweite und dritte Teil der Snorra-E. werden auch unter dem Namen Skálda zusammengefaßt.

Von allem bisher Genannten galt Snorri schon um 1300 als Verfasser, doch ist sicher schon Vor- und Nachwort des ersten Teiles nicht von ihm. Wieviel ihm sonst zuzuschreiben, ist Streitfrage. In dem Codex Wormianus aus dem 14. Jahrh. sind noch ein paar grammatische Traktate angehängt, die aber durchaus nicht in die E. gehören. Das Verhältnis der jüngern zur altern E. ist folgendes: Die Sammlung der Lieder nebst der ergänzenden Prosa kannte Snorri noch nicht, und doch gibt er in Gylfaginning eine Paraphrase fast aller mythischen Lieder mit wörtlicher Anführung vieler Strophen und in den Skaldskaparmál eine Übersicht der Sigurd- und Nibelungensage (um zu erklären, wie der umschreibende Ausdruck otrgjold [»Otterbuße«] Bezeichnung für Gold wurde). Es haben ihm also wahrscheinlich schon Einzelabschriften der meisten Lieder vorgelegen.

[Ausgaben und Übersetzungen.] Die ältere E. wurde zuerst vollständig herausgegeben von der arnamagnäischen Kommission mit lateinischer Übersetzung, Kommentar, Glossaren und Finn Magnusens »Mythologischem Lexikon« (Kopenh. 1787–1828, 3 Bde.), von Rask (Stockh. 1818), von Munch (Christ. 1847); nächstdem sind die deutschen Ausgaben von Lüning (Zür. 1859, mit Glossar, Grammatik, Mythologie,[364] Anmerkungen) und Möbius (Leipz. 1860) zu erwähnen. Einen zuverlässigen Text brachte jedoch erst die Ausgabe von Sophus BuggeNorræn Fornkvædi«, Christ. 1867). Auf Bugge beruhen Grundtvigs Handausgabe (Kopenh. 1868, 2. Aufl. 1874) und die kritische Ausgabe von K. Hildebrand (Paderb. 1876; Glossar dazu von H. Gering, das. 1887, 2. Aufl. 1896) sowie die kleine Textausgabe von Finnur Jónsson (Halle 1888–90). Von der großen kommentierten Ausgabe von B. Sijmons und H. Gering erschienen der Text (Halle 1888–1902) und das Wörterbuch (das. 1901–1902). Sämtliche Lieder der E. haben auch Aufnahme gefunden in Vigfussons »Corpus poeticum boreale« (Oxf. 1883, 2 Bde.). Von den deutschen Übersetzungen der ältern E. sind erwähnenswert die prosaische der Brüder Grimm (nur die Heldenlieder umfassend, Berl. 1815; neue Ausg., das. 1885) und die metrischen von K. Simrock (Stuttg. 1851, 9. Aufl. 1889) und H. Gering (Leipz. 1892). – Vollständige Ausgaben der jüngern E. besitzen wir von Resenius (Kopenh. 1665), Rask (Stockh. 1818), Sveinbjörn Egilsson (Reykjavik 1848–49), Thorleifr Jonsson (Kopenh. 1875), Finnur Jónsson (das. 1900); die vollständigste ist die von der arnamagnäischen Kommission veranstaltete (das. 1848–87, 3 Bde.). Die für die Sagengeschichte wichtigsten Teile sind mit der Volsungasaga u. dem Nornagests tháttr herausgegeben von E. Wilken (Paderb. 1877), deutsch übersetzt von Rühs (Berl. 1812), Majer (Leipz. 1818), Simrock und Gering. Die sehr umfangreiche Literatur über die beiden Eddas verzeichnet E. Mogk, Norwegisch-isländische Literatur (in Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 363-365.
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