Explosivstoffe

[223] Explosivstoffe, chemische Präparate oder Mischungen, die durch Schlag, Stoß, Druck, Reibung oder durch einen Funken zur Explosion gebracht werden. Die chemische Beschaffenheit der E. ist sehr verschiedenartig, doch enthalten fast alle reichlich Sauerstoff, an ein Metalloid gebunden, und Substanzen, die bei ihrer Zersetzung große Mengen von Gasen liefern. Das momentane Auftreten dieser Gase bei der hohen Zersetzungstemperatur, die das Volumen der Gase noch bedeutend vergrößert, charakterisiert die E. und bedingt ihre Wirkung. Man unterscheidet impulsive E., die bei hoher Entzündungstemperatur relativ langsam verbrennen und deshalb zum Treiben von Geschossen, auch zum Sprengen der Hohlgeschosse und der Minen benutzt werden. Sie werden durch einen Funken zur Explosion gebracht. Die brisanten E. verbrennen bei hoher Entzündungstemperatur außerordentlich heftig und wirken viel zu zerstörend, als daß sie in Feuerwaffen benutzt werden könnten. Sie dienen zum Sprengen und müssen durch hohen Druck zur Explosion gebracht werden, da sie in Berührung mit einer Flamme nur lebhaft ohne Explosion abbrennen. Bei den fulminanten Explosivstoffen erfolgt die Explosion bei niedriger Entzündungstemperatur mit der größten Heftigkeit und Geschwindigkeit und durch so geringe mechanische Einwirkung, daß an eine Benutzung dieser Substanzen in größern Mengen gar nicht gedacht werden kann; sie dienen nur als Zündmittel (Detonator, vgl. Explosion) für andre E.[223] Die ältern E. waren Gemenge nach Art des Schießpulvers, das aus salpetersaurem Kali, Schwefel und Kohle besteht, aber durch Änderung der Mischungsverhältnisse, Zusätze etc. mehrfach modifiziert worden ist (vgl. Schießpulver). Eine Gruppe sehr brisanter E. umfaßt organische Nitroverbindungen, Substanzen, die aus Glyzerin, Zellulose, Stärke, Zucker, Mannit, Karbolsäure etc. durch Behandlung mit konzentrierter Salpetersäure entstehen. Hierher gehören: Nitroglyzerin, das besonders in Form von Dynamit Anwendung findet, Schießbaumwolle, Sprenggelatine, rauchschwaches Schießpulver, Pikratpulver, auch das salpetersaure oder chromsaure Diazobenzol (Knallanilin) und die (wieder ausgegebenen) Sprengelschen E., die erst kurz vor ihrem Gebrauch aus zwei an sich nicht expiosibeln Komponenten: Salpetersäure einerseits, Nitrobenzol, Dinitrobenzol, Trinitrophenol, Nitronaphthalin, Schwefelkohlenstoff etc. gemischt werden. Eine dritte Gruppe umfaßt die sogen. Knallpräparate: Knallsilber und Knallquecksilber, höchst fulminante Körper, die ausschließlich als Zündmittel benutzt werden können. E. finden ausgedehnte Anwendung in den Feuerwaffen, im Minen- und Seekrieg, aber auch im Bergbau, Straßen- und Tunnelbau, in Steinbrüchen, zum Sprengen der Eisdecke auf Flüssen, um die Schiffahrt frei zu machen, zur Lockerung sehr harten Erdbodens (Sprengkultur), zum Betrieb von Maschinen, im Signalwesen etc.

Bei der Verwendung des Schwarzpulvers und der verschiedenen Dynamitarten in Schlagwettergruben veranlaßt die Flamme der Sprengschüsse häufig größere oder kleinere Grubenexplosionen. Zur Vermeidung derselben versuchte man zunächst, die üblichen E. in besonderer Art anzuwenden, bemühte sich dann aber, Sicherheitssprengstoffe herzustellen, die bei ihrer Explosion die Schlagwetter nicht entzünden. Man kann die Explosionstemperatur der Sprengstoffmischungen nach thermochemischen Gesetzen berechnen, und es ergab sich, daß bei solchen berechneten Explosionstemperaturen von weniger als 2200° die Schlagwetter nicht entzündet werden. Die Entzündungstemperatur der Schlagwetter liegt bei 650°. Jedoch tritt die Entflammung nicht in dem Augenblick, da die Schlagwetter mit Gasen von dieser Temperatur in Berührung kommen, sondern erst mit einer kleinen Verzögerung ein. Bei der Temperatur von 650° kann die Verzögerung bis zu 10 Sekunden betragen. Sie verringert sich um so mehr, je höher die Temperatur des zündenden Körpers ist. Bei 1000° beträgt die Verzögerung etwa noch 1 Sekunde. Da die Explosionsgase plötzlich unter hohem Druck entstehen und sich durch die eigne Ausdehnung und durch Arbeitsleistung sofort in starkem Maß abkühlen, darf ihre Temperatur weit über 650° liegen, ohne daß sie für Schlagwetter zufolge der Verzögerung der Entzündung gefährlich wird. Die Grenze, bei der die Entzündungsgefahr eintritt, liegt bei 2200°. Die Hoffnungen auf völlige Sicherheit der Sprengstoffe mit einer Explosionstemperatur unter 2200° hat sich aber nicht bestätigt. Jeder Sprengstoff wird in größern Ladungsmengen gefährlich, und man muß annehmen, daß unmittelbar die mehr oder minder heftige Kraftäußerung der Sprengstoffe die Zündung der Schlagwetter verursachen kann. Die Explosion einer Sprengstoffpatrone geschieht nämlich so plötzlich, daß um die Sprengmasse herum eine starke Verdichtung und Zusammenpressung der Luft eintreten muß. Die plötzliche Zusammenpressung bewirkt eine starke Erwärmung der Luft. Nimmt man eine Zusammenpressung auf 100 Atmosphären an, so steigt die Temperatur der Luft auf 820°, bei einer Pressung auf 200 Atmosphären gar auf 1060°. Da die üblichen Sicherheitssprengstoffe im Bohrloch eingeschlossen einen Druck von rechnungsmäßig 6–8000 Atmosphären ausüben, werden sie unter Umständen die Schlagwetter in unmittelbarer Nähe des Bohrloches leicht auf einige hundert Atmosphären zusammenpressen können. Die dabei entstehende Wärme reicht für sich allein völlig aus, die Schlagwetter zur Entzündung zu bringen. Aus diesen Gründen ist es unmöglich, Sprengstoffe herzustellen, die unter allen Umständen sicher sind. Vgl. Sprengen.

Zur Abwendung der Gefahren, mit denen Herstellung, Aufbewahrung und Transport der E. verknüpft sind, existieren viele polizeiliche und gesetzliche Bestimmungen, und wenn trotzdem noch immer häufig genug Unglücksfälle stattfinden, so liegt das z. T. daran, daß die Umstände, unter denen die Explosionen der verschiedenen E. vorkommen, noch keineswegs vollständig bekannt sind. Die meisten Explosionen bleiben unaufgeklärt, weil ihre Zeugen getötet werden. Jedenfalls müssen Feuer, Erhitzung, Stöße, Reibungen, elektrische Entladungen auf das sorgfältigste fern gehalten werden, künstliche Beleuchtung, das Mitbringen von Zündhölzern und das Rauchen ist zu verbieten, die Benutzung von Eisen und Stahl in jeder Form möglichst zu beschränken. Die Lage der Fabriken unterliegt gewissen Beschränkungen, es wird eine möglichst leichte Bauart vorgeschrieben, und durch Schutzwälle wird die Isolierung der ganzen Anlage zu erreichen gesucht. Ebenso sind die einzelnen Laboratorien wieder voneinander zu trennen. Die Fabrik ist mit Blitzableiter zu versehen, elektrische Kabel sind fernzuhalten. Hinsichtlich der Aufbewahrung bestehen Vorschriften, die namentlich auch die Quantität der zu führenden E. beschränken. Bei der Fabrikation der E. werden auch viele den einzelnen Fällen angepaßte Vorsichtsmaßregeln angewendet. Literatur s. bei Artikel »Sprengen«.

[Strafrechtliches.] Als in den 1880er Jahren die anarchistischen Dynamitattentate, die Frucht der von Netschajew, Most u. a. gepredigten »Propaganda der Tat«, auch im Deutschen Reich um sich gegriffen hatten (28. Sept. 1883 Attentat bei Einweihung des Niederwalddenkmals, 29. Okt. 1883 Mordversuch gegen Polizeirat Rumpf in Frankfurt a. M., Fälle in Stuttgart u. a. O.), entschloß sich die deutsche Gesetzgebung, ähnlich wie die andrer Länder (Belgien 1881, England 1883), dem gemeingefährlichen Gebaren mit Dynamit und ähnlichen Stoffen durch gewerbepolizeiliche und strafrechtliche Bestimmungen entgegenzutreten. Das Ergebnis war das Gesetz vom 9. Juni 1884 »gegen den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen« (Dynamitgesetz). Die Praxis und die Kritik haben nicht mit Unrecht das Gesetz als das lückenhafteste aller Reichsgesetze bezeichnet. Es schädigt den Gewerbebetrieb, insbes. den Bergbau, ist viel zu streng, bedarf zu seiner Anwendung der Ergänzung durch gleichmäßige reichsrechtliche Ausführungsbestimmungen und schützt trotzdem nur unvollkommen, da es sich nur auf die Sprengstoffe und nicht auch auf deren Einzelbestandteile erstreckt. Eine Begriffsbestimmung des Wortes »Sprengstoffe« fehlt im Gesetz, nach den Motiven sind darunter solche Stoffe zu verstehen, die durch ihre Entzündung eine gewaltsame Ausdehnung von Gasen oder von Flüssigkeiten hervorrufen.

Gewerbepolizeiliche Bestimmungen. Die Herstellung, der Vertrieb und der Besitz von Sprengstossen[224] sowie die Einführung derselben aus dem Ausland ist unbeschadet der bestehenden sonstigen Beschränkungen nur mit polizeilicher Genehmigung zulässig. Wer sich mit der Herstellung oder dem Vertriebe von Sprengstoffen befaßt, hat ein Register zu führen, aus dem die Mengen der hergestellten, aus dem Ausland eingeführten oder sonst zum Zweck des Vertriebes angeschafften Sprengstoffe sowie die Bezugsquellen und der Verbleib derselben ersichtlich sein müssen. Dieses Register ist der zuständigen Behörde auf Erfordern jederzeit vorzulegen. Auf Sprengstoffe, die vorzugsweise als Schießmittel gebraucht werden, finden vorbehaltlich abweichender landesrechtlicher Vorschriften die Bestimmungen des ersten und des zweiten Absatzes keine Anwendung. Die Bezeichnung dieser Stoffe erfolgt durch Beschluß des Bundesrates. Insoweit Sprengstoffe zum eignen Gebrauch durch Reichs- oder Landesbehörden von der zuständigen Verwaltung hergestellt, besessen, eingeführt oder vertrieben werden, bleiben die Vorschriften des ersten und zweiten Absatzes ebenfalls ausgeschlossen (§ 1). Die Zentralbehörden der Bundesstaaten erlassen die zur Ausführung der Vorschriften im § 1, Absatz 1 und 2, erforderlichen nähern Anordnungen und bestimmen die Behörden, die über die Gesuche um Gestattung der Herstellung, des Vertriebes, des Besitzes und der Einführung von Sprengstoffen Entscheidung zu treffen haben (§ 2). Gegen die versagende Verfügung ist nur die Beschwerde an die Aufsichtsbehörde innerhalb 14 Tagen zulässig. Dieselbe hat keine aufschiebende Wirkung (§ 3). Die Erteilung der nach § 1, Absatz 1, erforderlichen Erlaubnis erfolgt in widerruflicher Weise. Wegen der Beschwerde gegen die Zurücknahme gilt das eben Gesagte (§ 4). Diese Vorschriften werden durch Strafdrohungen sichergestellt.

Die Strafdrohungen sind ebenso streng wie umfassend, aber auch ebenso unklar. Im Mittelpunkt steht § 5: Wer vorsätzlich durch Anwendung von Sprengstoffen Gefahr für das Eigentum, die Gesundheit oder das Leben eines andern herbeiführt, wird mit Zuchthaus bestraft. Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 5 Jahren, und wenn der Tod eines Menschen verursacht worden ist, Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein. Ist durch die Handlung der Tod eines Menschen herbeigeführt worden und hat der Täter einen solchen Erfolg voraussehen können, so ist auf Todesstrafe zu erkennen. Mildernde Umstände kennt das Gesetz nicht.

Um diese Strafdrohung reihen sich nun andre, nicht minder strenge Bestimmungen. 1) Die Verabredung einer nach § 5 strafbaren Handlung sowie die Verbindung mehrerer zur fortgesetzten Begehung derartiger Handlungen wird nach § 6 mit Zuchthaus nicht unter 5 Jahren bestraft. 2) Wer Sprengstoffe herstellt, anschafft, bestellt oder in seinem Besitz hat, in der Absicht, durch Anwendung derselben Gefahr für das Eigentum, die Gesundheit oder das Leben eines andern entweder selbst herbeizuführen oder andre Personen zur Begehung dieses Verbrechens in den Stand zu setzen, wird mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren bestraft. Der gleichen Strafe verfällt, wer Sprengstoffe, wissend, daß dieselben zur Begehung eines in dem § 5 vorgesehenen Verbrechens bestimmt sind, an andre Personen überläßt (§ 7). 3) Wer Sprengstoffe herstellt, anschafft, bestellt, wissentlich in seinem Besitz hat oder an andre Personen überläßt unter Umständen, die nicht erweisen, daß dies zu einem erlaubten Zweck geschieht, wird mit Zuchthausstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Gefängnis nicht unter 1 Jahr bestraft. Diese Bestimmung findet auf die gemäß § 1, Absatz 3, vom Bundesrat bezeichneten Stoffe nicht Anwendung (§ 8). Wer öffentlich vor einer Menschenmenge, oder wer durch Verbreitung oder öffentlichen Anschlag oder öffentliche Ausstellung von Schriften oder andrer Darstellungen, oder wer in Schriften oder andern Darstellungen zur Begehung einer der in den § 5 und 6 bezeichneten strafbaren Handlungen oder zur Teilnahme an denselben auffordert, wird mit Zuchthaus bestraft. Gleiche Strafe trifft denjenigen, der auf die vorbezeichnete Weise zur Begehung der im Absatz 1 gedachten strafbaren Handlungen insbes. dadurch anreizt oder verleitet, daß er dieselben anpreist oder als etwas Rühmliches darstellt (§ 10). 5) In den Fällen der § 5, 6, 7 8 und 10 kann auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt werden. In den Fällen der § 5, 6, 7 8 und in dem Fall einer Anwendung der Strafvorschriften des § 9 ist auf Einziehung der zur Zubereitung der Sprengstoffe gebrauchten oder bestimmten Gegenstände sowie der im Besitz des Verurteilten vorgefundenen Vorräte von Sprengstoffen zu erkennen, ohne Unterschied, ob dieselben dem Verurteilten gehören oder nicht (§ 11). 6) Die Bestimmungen im § 4, Absatz 2, Nr. 1, des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich finden auch auf die in den § 5, 6, 7, 8 und 10 des Gesetzes vorgesehenen Verbrechen Anwendung; d. h. auch die im Auslande, sei es von Deutschen, sei es von Ausländern begangenen Handlungen werden nach deutschem Recht bestraft (§ 12). 7) Der in dem § 139 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich angedrohten Strafe endlich verfällt, wer von dem Vorhaben eines im § 5 vorgesehenen Verbrechens oder von einer im § 6 vorgesehenen Verabredung oder von dem Tatbestand eines im § 7 des Gesetzes unter Strafe gestellten Verbrechens in glaubhafter Weise Kenntnis erhält und es unterläßt, der durch das Verbrechen bedrohten Person oder der Behörde rechtzeitig Anzeige zu machen (§ 13).

Eine Reihe außerdeutscher Staaten, so insonderheit Italien, haben gleichfalls Sprengstoffgesetze erlassen, die sich alle mehr oder minder gegen den Anarchismus (s.d.) richten. Vgl. außer den Lehrbüchern des Strafrechts: Scheiff, Das Dynamitgesetz (Berl. 1886); Ommelmann, Das Dynamitgesetz und seine Folgen (Dortm. 1887); Stenglein in »Strafrechtliche Nebengesetze des Deutschen Reiches«, S. 646ff. (3. Aufl., Berl. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 223-225.
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