Attentāt

[65] Attentāt (lat.). im frühern gemeinen Zivilprozeß (attentatum, innovatio) jede Störung eines vom Gesetz gegen Veränderungen geschützten prozessualen Zustandes. Ein solcher wurde z. B. geschaffen durch den Prozeßbeginn: der Zustand der Litispendenz (Rechtshängigkeit); bezüglich seiner galt der Satz: »Ut lite pendente nil innovetur«. Ein A. hiergegen war namentlich die Veräußerung des im Streit befangenen Anspruches oder Gegenstandes. Vorzugsweise aber bedeutete A. eine Störung des durch die Einlegung eines Rechtsmittels geschaffenen Schwebezustandes (nihil innovari appellatione interposita!), insbes. jede weitere Verfügung des Richters in der Sache; eine solche wurde dann durch den Oberrichter als nichtig aufgehoben (mandatum attentatorum revocatorium; s. Rechtsmittel, Suspensiveffekt). Vgl. Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses (3. Aufl., Leipz. 1871–78), § 52 zu Nr. 21 ff., § 56 zu Nr. 15.

In strafrechtlichem Sinne bezeichnet man oft als A. den »Versuch« einer gesetzwidrigen Handlung, insbes. einen Angriff auf das Leben eines Regenten oder einer sonst hervorragenden Persönlichkeit. Ein von einem Untertanen gegen das Oberhaupt des-Staates gerichtetes A. wird als Hochverrat bestraft. Übrigens bezeichnet man im gewöhnlichen Leben mit dem Wort A. (sprachlich ungenau) auch die wirkliche Ermordung einer politischen Persönlichkeit. Vgl. Anarchismus.

Politische Morde sind schon im Altertum vorgekommen und wurden, wie die Ermordung des Hipparchos durch Harmodios und Aristogeiton in Athen, oft als Heldentaten gefeiert; doch gingen die Ermordungen von Monarchen im Altertum gleichwie im Mittelalter meistens aus persönlichen Beweggründen hervor: Herrschsucht, Eigennutz oder Rachsucht; so die Ermordungen Philipps von Schwaben durch Otto von Wittelsbach (1208) u. Albrechts I. durch Johann Parricida (1308). Mordtaten zur Vernichtung des Vertreters eines großen Gedankens oder Systems durch überspannte Menschen kommen zuerst in der Zeit der erbitterten Religionskämpfe des 16. und 17. Jahrh., und zwar von seiten der katholischen Partei vor; außer den verschiedenen Mordanfällen auf die Königin Elisabeth von England sind hier namentlich die Ermordung Wilhelms von Oranien durch Balthasar Gérard (1584), die Heinrichs III. durch Jacques Clément (1589) und Heinrichs IV. durch Franz Ravaillac (1610), ferner die Pulververschwörung des Guy Fawkes in London (1605) zu nennen. Im 18. Jahrh. erregten besonders das R. F. Damiens' auf Ludwig XV. von Frankreich (1757) und die Ermordung Gustavs III. von Schweden durch Hauptmann Anckarström (1792) Aufsehen.

Reich an Morden und Mordversuchen aus politischem Fanatismus, mitunter aber auch bloß aus an Verrücktheit grenzender Eitelkeit ist das 19. Jahrh. So geschahen in Frankreich 24. Dez. 1800 das Höllenmaschinenattentat Arenas und Cerachis, im Februar und März 1804 die mißglückten Verschwörungen Cadoudals und Pichegrus gegen den Ersten Konsul Bonaparte, auf den als Kaiser in Schönbrunn 13. Okt. 1809 ein deutscher Student Stapß einen Mordversuch machte; am 13. Febr. 1820 die Ermordung des Herzogs von Berry durch Louvel; fünf Attentate gegen Ludwig Philipp (25. Juni und 27. Dez. 1836, 15. Okt. 1840, 16. April und 29. Juli 1846) außer dem vom 28. Juli 1835 mittels der aus 22 Gewehrläufen hergestellten Höllenmaschine Fieschis, wodurch Marschall Mortier und 13 andre Menschen umkamen; nach Attentaten im J. 1852 und 1853 (5. Juli) folgten 28. April 1855 das A. Pianoris, 8. Sept. 1855 das Bellamares, 14. Jan. 1858 das Sprengbombenattentat der Italiener Orsini, Rudio und Pieri, und 24. Dez. 1863 ein weiterer Mordversuch gegen Napoleon III. Auch das republikanische System ist vor Mordbuben nicht sicher: 24. Juni 1894 fiel Sadi Carnot, Präsident der französischen Republik, zu Lyon dem Dolchstiche des italienischen Anarchisten Caserio zum Opfer. In Italien ward 15. Nov. 1848 der päpstliche Minister Graf Rossi, 27. März 1854 Herzog Karl III. von Parma ermordet, 8. Dez. 1856 auf König Ferdinand II. von Neapel durch den Soldaten Milano und 17. Nov. 1878 auf König Humbert in Neapel durch Passanante ein Mordversuch gemacht; der letztgenannte König erlag 29. Juli 1900 zu Monza dem Schusse des Anarchisten Bresci. In Spanien versuchte 2. Febr. 1852 der Priester Martin Merino, 28. Mai 1856 der Mönch Fuentes die Königin Isabella zu ermorden, wurde 28. Dez. 1870 General Prim tödlich verwundet (gest. 30. Dez.), und 19. Juli 1872 auf König Amadeus, sowie 25. Okt. 1878 (durch Moncasi) und 30. Dez. 1879 in Madrid auf Alfons XII. (und die Königin Christine, durch Otero) ein mißlungenes A. verübt. In Griechenland ward 9. Okt. 1831 Graf I. Kapo d'Istrias, Präsident des Staates, von den Brüdern Mauromichalis erschossen und 18. Sept. 1861 von dem Studenten Drosios ein Mordversuch auf die Königin Amalia gemacht. Am 10. Juni 1868 ward Fürst Michael Obrenović III. von Serbien im Parke von Topdschider bei Belgrad von den Radavanovićs ermordet, nachdem Fürst Danilo I. von Montenegro 12. Aug. 1860 durch den politischen Flüchtling Kaditsch in Cattaro meuchlings angeschossen worden war. In Bulgarien wurde durch Panslawisten 27. März 1891 der Minister Beltschew, ein Jahr später der diplomatische Agent Vulković in Konstantinopel getötet; ihm folgte 18. Juli 1895 der in frühern Jahren oft vergeblich angegriffene, aber 15. Juli 1895 in Sofia tödlich verwundete Stambulow in den Tod nach. Auf Befehl seines Neffen Mustafa IV. wurde 28. Juli 1808 der türkische Exsultan Selim III. ermordet; dasselbe Schicksal hatte 4. Juni 1876 Abdul Asis. Auf Alexander II. von Rußland, einem Reich, das man eine durch Meuchelmord gemäßigte Despotie genannt hat, wo noch Paul I. 23. März 1801 das Opfer einer Adelsverschwörung (Graf Pahlen, drei Subows u. a.) geworden war, wurden viele Attentate verübt: am 16. April 1866 in Petersburg von dem russischen Nihilisten Karakosow, 6. Juni 1867 in Paris beim Besuch der Weltausstellung vom Polen Berezowski und 14. April 1879 von Solowiew; nachdem die Versuche der Nihilisten, 1. Dez. 1879 den kaiserlichen Eisenbahnzug bei Moskau und 17. Febr. 1880 den Winterpalast in Petersburg in die Luft zu sprengen, mißlungen waren, wurde Alexander II. 13. März 1881 durch Sprengbomben (Russakow und Genossen) getötet. Gegen Alexander III. wurden ebenfalls wiederholt, übrigens erfolglos, Attentate verübt (so 13. März 1887, schon im Versuche verhindert, und 29. Okt. 1888 auf den Eisenbahnzug bei Borki). Auch wurden 3. Juli 1862 auf den Großfürsten Konstantin und den Grafen Wielopolski in Warschau, 5. Febr. 1878 auf den Petersburger Stadthauptmann Trepow (durch Vera Sassulitsch), 16. Aug. 1878 auf den Abteilungschef General Mesenzew in Petersburg, 21. Febr. 1879 auf den Gouverneur Krapotkin in Charkow, 25. April 1879 auf Mesenzews Nachfolger Drentelen und 3. März 1880 auf den Minister Loris-Melikow Mordversuche gemacht; ihnen folgten die Erschießungen des Militärgerichtsprokurators[65] Strelnikow in Odessa (25. Nov. 1882) und des Polizeiobersten Sudeikin (durch den Nihilisten Degejew 28. Dez. 1883). Aus fanatischem Fremdenhaß verwundete der japanische Schutzmann Tsuda Sanzo 23. Mai 1891 den Großfürsten-Thronfolger Nikolaus (II.) in Otsu mit dem Säbel. Der Kaiser Ferdinand I. von Österreich wurde, noch als König Ferdinand V. von Ungarn, 9. Aug. 1832 durch den Hauptmann a. D. Reindl zu Baden bei Wien, sein Nachfolger Franz Joseph 18. Febr. 1853 von dem ungarischen Schneider Libényi angegriffen; erstochen wurde 10. Sept. 1898 die Kaiserin Elisabeth von Österreich in Genf durch den italienischen Anarchisten Luccheni. In England versuchten der Kellner Oxford (10. Juni 1840), der Zimmergeselle Francis (30. Mai 1842), der Lehrling O'Connor (29. Febr. 1872) und Roderick Maclean (2. März 1882) die Königin Viktoria zu ermorden. 1869 erfolgte ein A. gegen den Vizekönig Ismaïl von Ägypten, 8. Febr. 1872 gegen den Vizekönig von Indien, Graf Mayo (erfolgreich) und 12. Dez. 1879 gegen seinen Nachfolger Lord Lytton. In Nordamerika fielen 14. April 1865 der Präsident der Vereinigten Staaten, Abraham Lincoln, dem Südstaater Booth und 2. Juli 1881, ebenfalls in Washington, Präsident Garfield (gest. 19. Sept.) dem Stellen jäger Guiteau zum Opfer; in den zentral- und südamerikanischen Republiken sind die Ermordungen von Staatsoberhäuptern (z. B. 29. Aug. 1864 die Erschießung des Generals Barrios, Expräsidenten von Salvador, 5. Aug. 1875 die Ermordungen Morenos, Präsidenten van Ecuador, 21. April 1877 die Gills, Präsidenten von Paraguay, 7. Juli 1890 die Menendez', Präsidenten von Salvador, 26. Juli 1899 die Heureux', Präsidenten der Dominikanischen Republik) recht häufig. In Deutschland sind zu nennen: die Ermordung Kotzebues durch Karl Ludwig Sand in Mannheim (23. März 1819), die beiden Attentate auf Friedrich Wilhelm IV. von Preußen durch den frühern Bürgermeister Tschech (26. Juli 1844) und den Feuerwerker Sefeloge zu Wetzlar (22. Mai 1850), der Mordversuch Oskar Beckers auf König Wilhelm I. von Preußen, der schon als Prinz 12. Juli 1849 zu Niederingelheim bedroht worden war, in Baden-Baden (14. Juli 1861); ferner die beiden Verwundungen Bismarcks durch Ferdinand Blind (Cohen) in Berlin 7. Mai 1866 und durch Kullmann in Kissingen 13. Juli 1874; endlich der erfolglose Mordversuch Max Hödels auf Kaiser Wilhelm I. in Berlin 11. Mai 1878 und 2. Juni 1878 die erhebliche Verwundung des Kaisers, ebenfalls in Berlin, durch Karl Nobiling. Am 16. Nov. 1900 warf in Breslau eine geistesgestörte Frau Schnapka ein Beil nach dem Wagen, worin Kaiser Wilhelm II. saß, ohne zu treffen.

Das 20. Jahrhundert ist schon durch zahlreiche Attentate vertreten: am 26. Jan. 1901 wurde Orban de Xivry, Gouverneur der belgischen Provinz Luxemburg, von dem Statthaltereibeamten Jean Schneider aus Arlon durch einen Revolverschuß ermordet. Am 6. März 1901 abends wurde Kaiser Wilhelm II. in Bremen durch eine von dem 20jährigen Schiffsarbeiter Dietrich Weiland geworfene eiserne Lasche am Jochbein unter dem rechten Auge verwundet. Der tödlichen Verwundung, die am 6. Sept. 1901 zwei Schüsse des Anarchisten Czolgosz in Buffalo auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten verursacht hatten, erlag Mac Kinley 14. Sept. 1901. Am 16. Juli 1901 schloß Frau Olzewska aus Nanterre in Paris auf den vorüberfahrenden Bautenminister Baudin. Gegen den japanischen Verkehrsminister Tōru Hofhi richtete 21. Juni 1901 ein verkommene r Student zu Tokio ein A. Am 6. Febr. 1902 erschoß der stellenlose makedonische Gymnasiallehrer Karandjulow in Sofia den bulgarischen Unterrichtsminister Kantschew. Im März wurden auf den Moskauer Oberpolizeimeister Trepow drei Mordversuche gemacht, 15. April der russische Minister des Innern, Sipjagin, in St. Petersburg durch den Studenten Balbaschow erschossen, am 18. Mai der Gouverneur von Wilna, General v. Wahl, durch zwei Revolverschüsse eines Hirsch Lekuch verletzt, während gegen den Gouverneur von Charkow, Fürsten Obolenski, Mitte Juni und 11. Aug. 1902 Anschläge verübt wurden. Am 25. Mai 1902 schleuderte zu Neapel Vincenzo Guerriero Steine gegen den königlichen Zug. Vgl. v. Bezold, Zur Geschichte des politischen Meuchelmords (Beilage zur »Allgemeinen Zeitung«, 1899, Nr. 92 u. 93).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 65-66.
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