Femgerichte

[411] Femgerichte (Fehme, Vehme, Freigerichte, heimliche Gerichte, Stuhl- oder Stillgerichte), im Mittelalter gewisse in Deutschland und namentlich in Westfalen bestehende Gerichte, die vom Kaiser mit dem Blutbann beliehen waren und in dessen Namen über Verbrechen aburteilten, die Todesstrafe nach sich zogen. Die Ableitung des Wortes Fem ist streitig. Nach der einen Ansicht soll dasselbe mit dem lateinischen fama, »Gerücht«, zusammenhängen; andre, wie J. Grimm, wollen es vom altdeutschen feme oder feime, d. h. Gericht, ableiten. Die Bezeichnung Freigerichte bezieht sich darauf, daß alle Freigebornen zur Teilnahme an denselben berechtigt waren, auch wohl auf gewisse Freiheiten, welche die F. für sich in Anspruch nahmen. Die Bezeichnungen heimliches Gericht, Stillgericht (nach Zöpfl richtiger »Stuhlgericht«), heimliche Acht, heimlich beschlossene Acht deuten darauf hin, daß die Verhandlungen der F. zumeist nicht öffentlich waren, und der Name verbotene Gerichte endlich, daß den Nichteingeweihten der Zutritt zu den heimlichen Sitzungen bei Todesstrafe untersagt war. Was über das heimliche und unheimliche Wesen der F. in Sage und Dichtung berichtet wird, beruht vielfach auf Übertreibung. Neuere Untersuchungen über die F. haben im Gegenteil dargetan, daß es sich hier um ein ehrwürdiges altgermanisches Rechtsinstitut handelt, daß diese Gerichte nie von der Folter Gebrauch gemacht haben, daß ihre Sitzungen nur z. T. geheim, und daß die Walstätten, auf denen sie stattfanden, allgemein bekannt waren. Das Femgericht stammt aus der karolingischen Zeit. Nach älterm deutschen Recht konnte nur der Kaiser den Blutbann, d. h. das Recht, Gericht über Leben und Tod zu halten, verleihen. Während nun in den übrigen deutschen Territorien dies Recht nach und nach auf die Landesherren überging, erhielt sich jener Grundsatz in Westfalen, »auf der roten Erde«, eine Ausdrucksweise, die eben mit dem Blutbann zusammenhängt. Die halb anarchischen Zustände des Mittelalters waren der Ausdehnung der Gerichtsbarkeit der westfälischen Freigerichte weit über die Grenzen Westfalens hinaus besonders förderlich. Doch mag es wohl nicht allein das Vertrauen auf ihre Gerechtigkeit, sondern auch der Umstand, daß von der Mitte des 14. Jahrh. an ganz Deutschland mit Schöffen des heimlichen Gerichts oder sogen. Wissenden übersät war, die, sich untereinander an geheimen Lösungen und Zeichen erkennend, stets bereit waren, die Ladungen des heimlichen Gerichts zuhanden[411] des Geladenen zu bringen und die Urteile zu vollziehen. In diesen Bund konnte jeder frei und ehelich geborne Deutsche von unbescholtenem Ruf aufgenommen werden. Auch viele Fürsten gehörten demselben an, und 1429 ließ sich sogar der Kaiser Siegmund unter die »Wissenden« aufnehmen. »Wissend« (scitus oder vemenotus) oder »gewiß«, ein »echter, rechter Freischöffe des heiligen römischen Reichs«, hieß jedes Mitglied des Bundes; jeder andre war »unwissend«, »ungewiß«; der Name Femrichter kommt nur im Roman vor. Der Freistuhl oder »freie Stuhl«, die Stätte, wo das Gericht gehegt wurde, war gewöhnlich ein Hügel oder ein andrer offener, jedermann bekannter und zugänglicher Ort; der angesehenste befand sich in Dortmund. Stuhlherr hieß der Eigentümer des Freistuhls und Patronatsherr des Gerichts, und zwar kommen geistliche und weltliche Fürsten, nicht selten auch einzelne Stadtgemeinden als Inhaber der Stuhlherrschaft vor. Unter ihnen standen mehrere Freigrafen, die aus der Mitte der Freischöffen vom Stuhlherrn auf Lebenszeit gewählt werden mußten. Oberstuhlherr und Stellvertreter des Kaisers selbst war der Erzbischof von Köln als Herzog von Westfalen. Die Aufnahme unter die Wissenden (Freischöffen) erfolgte vor einem Freistuhl auf roter Erde unter feierlichen Zeremonien. Auf der untersten Stufe unter den Wissenden standen die Freifronen oder Fronboten, welche die Aufträge der Freigrafen zu vollziehen und namentlich die Aufrechthaltung der Ordnung wahrzunehmen hatten. Auch sie verpflichtete das strengste Gebot zur Verschwiegenheit den Nichtwissenden gegenüber. Die besondern Rechte des Freischöffen bestanden darin, daß er nur unter westfälischen Gerichten stand, daß er einer höhern Glaubwürdigkeit genoß als der Nichtwissende, und daß er, als Kläger oder Beklagter, als Urteiler oder als Anwalt, Zutritt zur heimlichen Acht hatte sowie zu den Kapiteltagen, an denen der Bund seine Angelegenheiten beriet.

Die innere Einrichtung und das Verfahren der F. waren im wesentlichen dieselben wie bei allen übrigen altdeutschen Gerichten. Die Freistühle und die Gerichtstage waren allgemein bekannt, die Sitzungen fanden nur bei Tage statt, jeder freie Mann konnte neben den Schöffen dabei erscheinen; diese mit dem Freigrafen besetzten die Bank, vor ihnen stand ein Tisch, worauf ein Schwert und der weidengeflochtene Strick, hinter ihnen der Fronvogt. Nur wenn sich das offene Gericht in ein heimliches verwandelte, mußten sich alle Nichtwissenden entfernen; doch ließ die große Zahl der Freischöffen auch diese sogen. heimlichen Gerichte als öffentliche erscheinen. Das Verfahren war der alte deutsche Anklageprozeß. Als Kläger durfte nur ein Freischöffe auftreten. Zuerst ward untersucht, ob die Anklage eine Sache betreffe, die vor das Freigericht gehöre, »femvroge« sei. Dies waren aber alle mit dem Tode zu bestrafenden Verbrechen. In solchen Fällen ward an den Beklagten eine Vorladung ausgefertigt und von einem Freigrafen besiegelt. Die Frist war die gewöhnliche sächsische Frist von 6 Wochen und 3 Tagen, der Wissende hatte aber ein Recht auf dreimalige Ladung. Nur der Wissende wurde sofort vor das heimliche Gericht gefordert, der Nichtwissende dagegen zunächst vor das öffentliche Ding, und nur für den Fall, daß er der Ladung nicht Folge leistete, trat das heimliche Verfahren ein. Der Ladebrief wurde gewöhnlich dem Vorzuladenden nicht persönlich übergeben, sondern an seiner Behausung oder einem dieser nahegelegenen Ort angeheftet. Hierbei wurden drei ausgehauene Späne als Wahrzeichen der Fem gebraucht. Für die Gerichtsverhandlung selbst bestanden althergebrachte und streng beobachtete Formalitäten. Erschien der Angeklagte, und gestand er die Tat, so ward das Todesurteil gesprochen und er sofort aufgeknüpft. Leugnete der Angeklagte, so mußte ein Beweisverfahren eintreten. Erschien der Kläger nicht, so ward der Angeklagte ohne weiteres freigesprochen. Blieb der Angeklagte aus, so wurde er verfemt, d. h. die Oberacht ausgesprochen, und dem Ankläger das gesprochene Urteil schriftlich ausgefertigt. In demselben war die Mahnung an alle Freischöffen enthalten, dem Kläger bei Vollziehung des Urteils gefällig zu sein. Meist wurde das Urteil geheimgehalten. Außerdem galt noch der im altsächsischen Volksrecht begründete Satz, daß bei »handhafter Tat« die sofortige Bestrafung des Täters erfolgen konnte. Man verstand darunter sowohl den Fall, daß der Verbrecher auf der Tat selbst (»hebende Hand«) oder unter Umständen ergriffen wurde, die seine Täterschaft sicher erkennen ließen (»blickender Schein«), als auch den Fall, daß der Täter seine Schuld unumwunden einräumte (»gichtiger Mund«). Waren in einem solchen Fall drei Schöffen zugegen, so konnten sie ohne weitere Prozedur den Verbrecher ergreifen und hinrichten. Die gewöhnliche Art der Todesstrafe war der Strang, der nächste Baum der Galgen. Neben den Erhenkten steckten die Schöffen ihren mit den Buchstaben S. S. G. G., d. h. Strick, Stein, Gras, Grün, die geheime Losung der Freischöffen, bezeichneten Dolch. Der Verfall des Femwesens erklärt sich sehr natürlich aus dem Umstande, daß mit der erstarkenden Landeshoheit der Territorialherren auch allenthalben bessere Rechtspflege eingeführt wurde, während sich in die F. mit der Zeit manche Mißbräuche eingeschlichen hatten. Die Justizanordnungen Kaiser Maximilians und die strengen Maßregeln der nun immer mächtiger werdenden Landesherren gegen die F. trugen ebenfalls das Ihrige dazu bei, und so sehen wir schon während des 16. Jahrh. die westfälischen Freigerichte auf Westfalen beschränkt, bald auch den Landesgerichten untergeordnet und auf bloße Polizeifälle verwiesen. In dieser Gestalt dauerten sie mit den alten, nun lächerlichen Formen hier und da fort, bis König Jérôme ihnen vollends ein Ende machte. Der letzte Freigraf (Engelhardt) starb 1835 in Wörl.

Vgl. Berck, Geschichte des westfälischen Femgerichts (Brem. 1815); Wigand, Das Femgericht Westfalens (Hamm 1825; 2. Aufl., Halle 1893); Usener, Die Frei- und heimlichen Gerichte Westfalens (Frankf. 1832); Wächter, Beiträge zur deutschen Geschichte, insbesondere zur Geschichte des deutschen Strafrechts (Tübing. 1845); Gaupp, Von Femgerichten mit besonderer Rücksicht auf Schlesien (Bresl. 1857); Kampschulte, Zur Geschichte des Mittelalters (Bonn 1864); Th. Lindner, Die Veme (Münster 1887); Thudichum, Femgericht und Inquisition (Gießen 1889); Th. Lindner, Der angebliche Ursprung der Vemegerichte aus der Inquisition. Eine Antwort an Thudichum (Paderb. 1890).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 411-412.
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