[684] Nietzsche, Friedrich Wilhelm, namhafter philosophischer Schriftsteller, geb. 15. Okt. 1844 in Röcken bei Lützen, gest. 25. Aug. 1900 in Weimar, war der Sohn eines Pfarrers, der zeitig starb, wurde von seiner Mutter in Naumburg a. S. erzogen, besuchte die Landesschule Pforta und studierte von 186467 in Bonn und Leipzig klassische Philologie. Frühreif, ein bevorzugter Schüler Ritschls, erhielt er noch vor seiner Promotion (1869) einen Ruf als außerordentlicher Professor der klassischen Philologie an die Universität Basel, wurde 1870 schon ordentlicher Professor daselbst, welche Stellung er bis 1870 bekleidete. In diesem Jahre nötigte ihn ein schweres Augenleiden, verbunden mit Überreizung des Gehirns, sein Amt aufzugeben, nachdem er schon den Winter 1876/77 in Sorrent zugebracht hatte. Von da ab führte er, beständig schriftstellerisch äußerst tätig, ein Wanderleben, hielt sich mit Vorliebe in Venedig, in der Schweiz, in Turin, Genua, Nizza, bisweilen auch in Leipzig und Naumburg auf, bis er im Frühjahr 1889 in Turin nach übermäßiger geistiger Anstrengung und zu starkem Gebrauch von Schlafmitteln geisteskrank wurde. Kürzere Zeit brachte er in der Heilanstalt in Jena zu, wo ihm keine Genesung wurde; dann lebte er wieder bei seiner Mutter in Naumburg und nach deren Tode in treuester Pflege seiner Schwester zu Weimar in einer oberhalb der Stadt gelegenen Villa, wo sich jetzt das Nietzsche-Archiv befindet (vgl. Kühn, Das Nietzsche-Archiv zu Weimar, Darmst. 1904). Mit Rich. Wagner war er längere Jahre eng befreundet, brach aber den Verkehr später mit ihm hauptsächlich wegen dessen religiösen Ansichten ab. Im persönlichen Umgange sehr gewinnend, aber doch die Einsamkeit liebend, ging er in seinen Schriften schonungslos gegen alles ihm nicht Gefallende vor. Als Stilist ist er in der Gegenwart unübertroffen, seine Sprache hat oft einen geradezu bestrickenden Zauber, und ihr ist zum Teil die große Wirkung seiner Werke zuzuschreiben.
Seine schriftstellerische Laufbahn begann N. mit kürzern philologischen Arbeiten über Theognis und Diogenes Laertius, aber schon in seiner ersten größern Schrift: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der [684] Musik« (Leipz. 1872), wandte er sich von der rein philologischen Methode ab, indem er sich von allgemeinen philosophischen und künstlerischen Anschauungen, namentlich solchen Schopenhauers u. Wagners, leiten ließ. Derselben Richtung folgt er auch, zugleich ein deutsches Kulturideal anstrebend'. in den »Unzeitgemäßen Betrachtungen« (4 Stücke, Leipz. 187376), verläßt sie aber in seinen weitern aphoristischen Werken: »Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister« (Chemn. 187880, 3 Tle.); »Morgenröte. Gedanken über moralische Vorurteile« (das. 1881); »Die fröhliche Wissenschaft« (das. 1882), wo der Glaube an Ideale preisgegeben, der Mensch als reines Naturprodukt betrachtet wird, auch die Sittlichkeit sich mit ihren Gesetzen nicht von höhern Mächten oder der allgemeinen Vernunft, sondern aus den natürlichen Trieben der Menschen herleiten soll. So hatte N. mit aller sittlichen und religiösen Tradition gebrochen, war nicht mehr an Vorurteile, nicht mehr an die sogen. ewigen Gesetze der Vernunft gebunden, namentlich nicht an die christliche Welt- und Lebensanschauung, von der diese unsre Welt im Gegensatz zu einer erdichteten jenseitigen mißachtet werde, bei der die natürlichen Triebe des Menschen nicht zu ihrem Rechte kämen, aber die Schwäche der Unterwerfung für das Höhere gelte. Der Mensch muß nach N. seine Instinkte möglichst befriedigen, sich selbst zum Zweck seines Daseins setzen, diesen nicht außer sich, nicht in selbstlosen Handlungen suchen, er muß sich selbst leben, den Willen zur Macht, den er hat, möglichst zur Erfüllung bringen, die Tugenden nicht über sich stellen, nicht ihnen dienen, sie vielmehr als sein Machwerk betrachten. So zeichnet N. die Gestalt des Übermenschen, der nur sich selbst will und sich seine Welt gewinnt, für den nur gut ist, was er will, der weltfreudig und stark ist in seinem Wollen und alles, was sich ihm entgegenstellt, niederwirft, nichts von Ergebung weiß, nichts von Mitleid, das nur die Tugend des Schwachen ist. Nicht alle können gleiche Macht und gleichen Genuß haben, nur gemäß ihrer verschiedenen Stärke können die einzelnen das Ziel des Menschen erreichen; deshalb gibt es auch nicht gleiche Rechte für alle Menschen: der Starke hat das Recht, der Schwache muß ihm zur Erreichung seiner Ziele dienen. Diese Gedanken sind ausgeführt in. »Also sprach Zarathustra« (1.3. Teil, Chemn. 1883 bis 1884; 4. Teil, Leipz. 1891); »Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft« (Leipz. 1886); »Zur Genealogie der Moral« (das. 1887); »Der Fall Wagner« (das. 1888); »Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert« (das. 1889). Alle diese Werke sind in einer Reihe von Auflagen erschienen. Von »Also sprach Zarathustra« sind schon 50,000 Exemplare gedruckt. Von der Gesamtausgabe der »Werke« Nietzsches enthält die erste Abteilung (Leipz. 1895, 8 Bde.) das von N. selbst Veröffentlichte und außerdem: »N. contra Wagner«, »Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums« und »Gedichte«. Eine 1893 schon begonnene (von Peter Gast) mußte nach Ausgabe von 5 Bänden abgebrochen werden. Der »Antichrist« ist das erste Buch des nicht vollendeten philosophischen Hauptwerkes Nietzsches: »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte«, dessen unvollendete weitere drei Bücher den Titel haben: »Der freie Geist. Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung«, »Der Immoralist. Kritik der verhängnisvollsten Art von Unwissenheit der Moral«, »Dionysos, Philosophie der ewigen Wiederkunft«. Von der ersten Abteilung der Werke ist 1899 auch eine Ausgabe in kleinerm Format erschienen. Die zweite Abteilung der Gesamtausgabe ist in 7 Bänden 190104 erschienen und enthält aus den ungedruckten Papieren Nietzsches die unvollendeten Schriften und Fragmente, Entwürfe, Nachträge und Aphorismen. Übersetzungen der ersten Abteilung der gesamten Schriften ins Englische und Französische erschienen in London 1897 ff. und Paris 1899 ff. Von Nietzsches gesammelten Briefen sind 3 Bände veröffentlicht worden (Berl. u. Leipz. 190005), besonders wichtig sind die an Erwin Rhode und Malvida v. Meysenbug. Das »Leben Fr. Nietzsches« ist von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche (Leipz. 1895 bis 1904, 2 Bde.) geschrieben. Das Werk enthält auch viele Briefe und Aufzeichnungen Nietzsches. Sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Philosophen II«.
Die Nietzscheschen Ansichten haben viele Gegner gefunden, wie dies bei dem vielen Paradoxen und Umstürzenden in ihnen natürlich, anderseits auch viele Freunde besonders in der jüngern Generation, in dieser zum Teil wegen der Zersetzung des Traditionellen. Im ganzen hat die Verehrung Nietzsches nach seinem Tod eher noch zu-als abgenommen; namentlich hat sein »Zarathustra« große Verbreitung und Bewunderung erfahren. Man fängt an, das dauernd Wertvolle bei N., namentlich sein Streben nach einer höhern Kultur und seinen Individualismus anzuerkennen und betont, daß N. selbst eine vornehme reine Natur voller Ideale war, und daß niedriger Egoismus in seiner Lehre keine Stelle findet. Manche seiner Ansichten freilich, so die von ihm selbst hochbewertete von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, finden wenig Anerkennung. Infolge der verschiedenen Stellung zu N. ist eine große Reihe von Schriften und Abhandlungen über ihn, gegen ihn und für ihn erschienen, von denen hier nur die wichtigsten genannt sein mögen: O. Hansson, Friedrich N. (Leipz. 1890); Kaatz, Die Weltanschauung Fr. Nietzsches (Dresd. 189293, 2 Tle.; 2. Aufl. 1898); L. Stein, Fr. Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren (Berl. 1893); Andreas-Salomé, Friedr. N. in seinen Werken (Wien 1894); Steiner, Friedr. N., ein Kämpfer gegen seine Zeit (Weim. 1895); Meta v. Salis-Marschlins, Philosoph und Edelmensch (Leipz. 1897); Th. Ziegler, Friedr. N. (Berl. 1900); Schellwien, Max Stirner und Friedr. N., Erscheinungen des modernen Geistes und das Wesen des Menschen (Leipz. 1892); Alex. Tille, Von Darwin bis N. Ein Buch Entwickelungsethik (das. 1895); Riehl, Fr. N. der Künstler und der Denker (Stuttg. 1897, 3. Aufl. 1901); Deussen, Erinnerungen an F. N. (Leipz. 1901); Vaihinger, N. als Philosoph (Berl. 1902, 3. Aufl. 1905); Richter, F. N. Sein Leben und sein Werk (Leipz. 1903); Ewald, Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen (Berl. 1903); Drews, Nietzsches Philosophie (Heidelb. 1904); Lichtenberger, La philosophie de Fr. N. (Par. 1898, 6. Aufl. 1901; deutsch, 2. Aufl., Dresd. 1900); J. de Gaultier, De Kant à N. (2. Aufl., Par. 1900) und N. et la réforme philosophique (das. 1905); Seillière, Apollon ou Dionysos. Étude critique sur F. N. (das. 1905; deutsch, Berl. 1905); Zoccoli, Federico N. La filosofia religiosa, la morale, l'estetica (Modena 1898, 2. Aufl. 1901); Orestano, Le idee fondamentali di Fed. N. (Palermo 1903).
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