Ästhētik

[851] Ästhētik (v. gr.), eigentlich die Wissenschaft des sinnlich Wahrnehmbaren u. Erkennbaren; insbesondere die Wissenschaft des Schönen, namentlich der Kunst, als welche die Ideen mit dem inneren Sinne erfaßt u. das Geistige u. Sinnliche in Eins bildet. Die Alten haben sich dieses Wortes nicht bedient, obgleich sie sowohl über das Schöne philosophirt, als auch Grundsätze u. Theorien für die Kunst, namentlich die Dicht- od. Redekunst, aufgestellt haben. So handeln Plato im Phädros u. Hippias I., wie in anderen Schriften, von dem Schönen; Plotinos suchte das Schöne da, wo die Materie von der Form der Idee überwogen wird; Aristoteles, vom rein empirisch-praktischen Standpunkt aus, stellt in der Poëtik ästhetische Grundsätze auf, ebenso Longinos in der Schrift von dem Erhabenen; unter den Römern Horatius (in der Ars poëtica), Cicero (im Orator etc.) u. Quinctilian (in den Institutiones-oratoriae). Was die Alten auf dem Gebiet der Ä. geleistet haben, ist zusammengestellt von L. Spengel, Συναγωγὴ τεχνῶν, Stuttg. 1828, vgl. Ed. Müller, Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten, Breslau 1834–37, 2 Bde. Eine Theorie des Schönen u. der Kunst überhaupt wurde zuerst u. bes. unter dem Namen Ä. im 18. Jahrh. von A. G. Baumgarten (s.d.), einem Schüler Wolfs, aufgestellt. Das Schöne ist ihm das sensitiv Vollkommene, nicht das Sinnliche überhaupt, sondern das der gereinigten menschlichen Sinne, u. Ä. ist nach ihm die Theorie der Sinnenerkenntniß. Von diesem Standpunkt aus wurde nun die Ä. von den Engländern Hutcheson, [851] Hogarth, Burke, unter den Deutschen bes. durch Winckelmann (in kunsthistorischer) u. Lessing (in kritischer Hinsicht, bes. in dem Laokoon) weiter erforscht u. bestimmt. Eine zweite Periode in dieser Wissenschaft begann mit Kant, welcher die Theorie des ästhetischen Vermögens in der Kritik der Urtheilskraft weiterführt; er setzt das Schöne in das Uninteressirte, nicht von der Eigensucht bestimmte Wohlgefallen, d. h. ein Wohlgefallen, welches nicht thierisch haben u. genießen, sondern nur theoretisch od. schauend interessirt sein will; diese Theorie, dieses Schauen ist aber kein Begreifen. Dieser subjectiven Auffassung, von welcher die Betrachtung nur von dem Anschauenden, nicht von dem Angeschauten u. seinem Inhalte ausging, die Schönheit also nicht zur berechtigten Selbständigkeit kam, fügte Schiller die objective Seite noch hinzu, indem er das Schöne als die Ineinsbildung des Vernünftigen u. Sinnlichen auffaßte, welche Vereinigung erst das wahrhaft Wirkliche sei. So bahnte er Schelling den Weg, der das Princip der Ä. aufstellte: das Ideale u. Reale ist identisch (gleich); schön ist Dasjenige, dessen sinnliche Existenz der Idee entspricht; die Kunst ist die Spitze des Schönen, sie ist die Ineinsbildung des Realen u. Idealen, des Inhalts u. der Form. Zu seiner Schule gehören die Romantiker in der deutschen Literatur: Tieck, Schlegel, Solger, auch Jean Paul, Ast, Thiersch. Durchgebildet wurde das von Schelling aufgestellte Princip von Hegel zum System; das Schöne ist ihm die Idee in der Form begrenzter Erscheinung; zuerst erscheint das Schöne in der Natur (u. in der Geschichte); es ist aber hier mangelhaft, weil es unbewußt ist; bewußt existirt es in der Phantasie; da diese aber innerlich ist, so muß sie ihre Gebilde verwirklichen, u. diese Verwirklichungen der Phantasie sind die Kunst. Kunstwerke sind also objective Verkörperungen des Ideals, zwar wie Naturwerke, aber ohne die Mängel der Natur. Die einzelnen Künste erscheinen als das stufenweise Herausarbeiten des Geistes aus der Materialität: Architektur, Plastik, Malerei, Musik, Poesie. Seine Nachfolger, Weiße, Ruge, Vischer, vervollständigten dann ihres Meisters unzureichende Deductionen der verschiedenen Modificationen des Schönen. Die realistischen Bestrebungen der neuesten Zeit haben sich auch auf dem Gebiet der A. geregt, u. die Vertreter der Kunst wollen dieselbe nicht mehr von vornherein einer allgemeinen Wissenschaft des Schönen untergeordnet wissen, da ihr Ursprung nicht in dem Drange nach einem schönen idealisirten Gegenstande, sondern in dem Bedürfniß des Menschen liege, seinen Gedanken an eine feste Stätte zu knüpfen u. dieser Gedächtnißstätte eine Form zu geben, welche der Ausdruck des Gedankens sei. Demnach wäre der Ausgangspunkt für die Ä. nicht der Begriff des Schönen, sondern das Wesen der Phantasie, deren Verwirklichung die Kunstwerke sind; u. sie hätte in einem theoretischen Theile die einzelnen Kunstarten abzuleiten u. die Gesetze darzustellen, welche jeder Kunstart durch ihr Darstellungsmaterial gegeben sind; dann in einem kunsthistorischen den individuellen Ausdruck der Zeit u. der Nationalität nachzuweisen, welcher die einzelnen Kunstwerke angehören. Literatur: Hutcheson, An Inquiry into the Origine of our Ideas of Beauty and Virtue, Lond. 1728; A. G. Baumgarten, Aesthetica, Frkf. 1750–58. 2 Bde.; Hogarth, Analysis of Beauty, Lond. 1753. 1810 (deutsch von Mylius, Lond. 1754); Burke, Enquiry into the Orig. of our Id. of the Sublime etc., Lond. 1757 (deutsch von Garve, Riga 1773); Home, Elements of Criticism, Lond. 1770, Edinb. 1806, 2 Bde. (deutsch von Garve, Lpz. 1772, 2 Bde.); Blair, Lectures on Rhetoric and Bellesletters, Lond. 1783, 2 Bde., 1813, 3 Bde. (deutsch von Schreifer, Lpz. 1785 ff., 4 Bde.); Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Halle 1748, ff., 3 Bde.; Kant, Beobacht. über das Gefühl des Schönen etc., Königsb. 1764; Solger, Erwin, Berl. 1815, Vorlesungen über Ä., Lpz. 1829; I. P. Richter, Vorschule zur A., Hamb. 1813, 3 Thle., 2. Ausg.; Ruge, Neue Vorschule zur Ä., 2 Ausg., Halle 1837; Krause Ä., Gött. 1837; Hegel, Ä., herausgeg. von Hotho, Berl. 1835–38, 3 Bde., 2. A. 1842; Weiße, System der Ä., Lpz. 1830, 2 Thle.; Fr. Th. Vischer, Ä., Reutl. 1846–52, 3 Bde.; Fr. Thiersch, Allgem. Ä., Berl. 1846; Fischer, Diotima, Pforzh. 1849. Wörterbücher: Sulzer, Allgem. Theorie der schönen Künste, Lpz. 1792 ff., 4 Bde. (4. Ausg.); Gruber, Weimar 1810 ff.; Jg. Jeitteles, Wien 1835–37, 2 Bde.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 1. Altenburg 1857, S. 851-852.
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