Leben [2]

[189] Leben. Zur Beantwortung der Frage nach dem Begriff des L-s ist seine Bedeutung auf dem Gebiete aufzusuchen, auf welches er sich ursprünglich bezieht, nämlich dem der Pflanzen u. Thiere, welche im eigentlichen Sinne des Worts als lebendige bezeichnet werden. Denn wenn das Wort L. durch Erweiterung u. bildliche Übertragung auch in anderen Gebieten angewendet wird (z.B. in den Ausdrücken geistiges, religiöses, politisches, gesellschaftliches L. etc.), so liegt darin mehr eine Verdunkelung als eine Erläuterung des ohnedies schwer zu begrenzenden Begriffs. Da das L. sich als eine Summe von Erscheinungen u. Thätigkeiten zu erkennen gibt, welche wir an bestimmten Naturwesen, den Pflanzen u. Thieren, im Gegensatze zu den unbelebten Körpern wahrnehmen, Pflanzen u. Thiere aber als organische Wesen im Gegensatze zu den unorganischen bezeichnet werden, so ist der Umfang des Lebendigen so groß, als der des Organischen. Als den Gegensatz des Organischen bezeichnet man gewöhnlich das Mechanische, u. als das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Organismus u. dem Mechanismus pflegt man vorzugsweise die dem ersteren zugeschriebene Selbstthätigkeit geltend zu machen, während mechanische Veränderungen als Folge von außen auf die Dinge einwirkender Kräfte angesehen werden; daher Kunstproducte nur Mechanismen, Naturproducte dagegen allein Organismen seien. Das Gesammtbild der Erscheinungen u. Thätigkeiten, welche die organischen (lebenden) u. unorganischen (unbelebten) Körper darbieten, ist, im Ganzen u. Großen betrachtet, allerdings sehr verschieden. Die den Organismus bildenden letzten Bestandtheile sind keine gestaltlosen Moleculen, auch keine sich gegeneinander gleichgültig verhaltenden Krystalle, sondern Zellen, welche sich zu Fasern, Röhren, Membranen, Gefäßen etc. umbilden; der Organismus wächst nicht, wie der unbelebte Körper, durch äußerliche Hinzufügung anderer materieller Theile, sondern durch Assimilation (umbildende Aneignung) der ihm sich darbietenden Nahrungsmittel, womit eine fortwährende Ausscheidung der unbrauchbar gewordenen Bestandtheile (Stoffwechsel) verbunden ist; dazu kommt bei den Thieren die Fähigkeit, sich in Folgepsychischer Impulse willkürlich zu bewegen, wozu die spontanen Bewegungen gewisser Pflanzen wenigstens ein entferntes Analogon darbieten. Jeder Organismus hat ferner für den ganzen Verlauf seiner Entwickelung ein inwohnendes Gesetz seiner Gestaltung; jedes einzelne Organ hat seine bestimmten Functionen; auf Einwirkungen von außen reagirt der organische Körper ganz anders, als der unorganische (Reizbarkeit, Irritabilität); etwas der Fortpflanzung durch Brut, Keime, Eier Entsprechendes läßt sich bei unbelebten Wesen nicht nachweisen, u. so stellt der lebende Organismus ein scheinbar geschlossenes System von Functionen u. Veränderungen dar welches, einmal entstanden, die Bedingungen seiner Gestaltung, Structur, Erhaltung u. Äußerungsweise lediglich in sich selbst zu haben scheint; daher denn z.B. Kant den leben digen Organismus als das definirt, was von sich selbst Ursache u. Wirkung ist. Aus der Schwierigkeit, die Erscheinungen u. Thätigkeiten des organischen Lebens, von denen viele sich den mechanischen, physikalischen u. chemischen Gesetzen, welche die unbelebte Natur beherrschen, entziehen zu wollen scheinen, in die sonst bekannte Gesetzmäßigkeit der Natur einzureihen u. dadurch zu erklären, ist es begreiflich, warum man lange Zeit geneigt war, zu ihrer Erklärung auf eine besondere, specifisch eigenthümliche Klasse von Wesen od. Kräften sich zu berufen. So hat in der Physiologie lange Zeit die Lehre von den sogenannten Lebensgeistern (Spiritus vitales, Sp. animales) gegolten, einem Mitteldinge zwischen substanziellen Geistern u. materiellen Fluidis, denen das Geschäft übertragen wurde, die Verrichtungen des L-s zu besorgen. E. Stahl (s.d.) suchte die Ansicht durchzuführen, daß die ganze Structur u. Organisation des lebenden Körpers ein Werk der unbewußt bildenden Seele sei, u. die Berufung auf einen eigenen Bildungstrieb (Nisus formativus), welcher dem Organismus inwohne, war der Nachhall dieser Ansicht. An die Stelle dieser Auskunftsmittel trat später der Begriff der Lebenskräfte (Vir vitales) od. auch einer Lebenskraft, sei es nun, daß man sich diese, wie Treviranus, mehr als eine immer wirksame, unzersetzbare u. unzerstörbare Materie dachte, durch welche alles Lebende, vom Byssus bis zur Palme, vom dem punktförmigen Infusionsthierchen bis zum Meerungeheuer, L. finde, od., wie Autenrieth, als eine von der Materie ablösbare selbständige Kraft. Die gänzliche Unfähigkeit dieser Ansicht, die wirklichen Erscheinungen des L-s zu erklären, erhellt, abgesehen von allen metaphysischen Untersuchungen über den Begriff der Kraft, schon daraus, daß das Wort Leben nur ein höchst allgemeiner u. unbestimmter Ausdruck für eine Summe von Veränderungen u. Thätigkeiten ist, welche thatsächlich in schr verschiedener Weise, aber in jedem einzelnen Falle in ganz individuell bestimmter Form, Zahl, Combination u. Modalität bei so verschiedenen Wesen, wie die Arten der Pflanzen u. Thiere sind, vorkommen, u. daß weder ein allgemeiner Lebensstoff, noch eine allgemeine Lebenskraft den allergeringsten Erklärungsgrund für die individuelle Bestimmtheit der einzelnen lebenden Wesen u. der Verrichtungen u. Formen ihres L-s darbietet. Wenn die Annahme einer selbstständigen Lebenskraft namentlich durch die Selbstthätigkeit u. Selbstständigkeit jedes Organismus gefordert zu sein scheint, für welche man namentlich in der Zeit der Schellingschen Naturphilosophie fast zu schwärmen geneigt war, so ist gerade diese Selbstthätigkeit eine höchst bedingte u. beschränkte, indem der Organismus zu seinem Entstehen u. Bestehen ein viel weiter greifendes u. seiner abgewogenes System von Mitteln bedarf u. sich viel verketzlicher u. zerstörbarer zeigt, als die unbelebten Körper. Die neuere Physiologie hat daher diesen Begriff der Lebenskraft als des Erklärungsgrundes der Lebenserscheinungen so gut wie ganz aufgegeben; sie betrachtet das L. nicht als die Ursache, sondern als das Product eines Systems von Bedingungen u. Mitteln, welche nach denselben mechanischen, physikalischen. u. chemischen Gesetzen wirken, die in der übrigen Natur gelten;[189] so daß die eigenthümliche Gesammtwirkung, um deren willen wir das Lebendige von dem Unbelebten unterscheiden, nicht von einer Verschiedenheit der Kräfte u. Gesetze, sondern von der Verschiedenheit der in dem organischen Keime dargebotenen Angriffspunkte u. von der Verknüpfung u. Beschaffenheit des Apparats abhängt, welchen sich der im Keime angelegte Organismus aus der umgebenden Außenwelt aneignet, die er benutzt, soweit er es vermag, deren ungünstigen Einwirkungen er aber auch oft unterliegt. Diese Auffassung der Lebenserscheinungen, welche man im Gegensatze zu der früheren dynamischen nicht ganz passend die mechanische nennt, u. die eigentlich den Versuch bedeutet, die Gesetze des L-s mit den sonst bekannten Naturgesetzen in Übereinstimmung zu bringen, schließt die Anerkennung einer zweckmäßigen Einrichtung des lebenden Körpers nicht aus; sie untersucht, nach welchen Gesetzen, unter Voraussetzung einer gewissen Verbindung der elementaren Stoffe, diejenigen Erscheinungen als Folgen nachgewiesen werden können, welche die allgemeinen u. individuellen Formen des L-s charakterisiren; die Frage nach dem ersten Ursprunge eines lebendigen Organismus, ob er ein Werk des Zufalls od. der blinden Nothwendigkeit od. der göttlichen Weisheit sei, bleibt dadurch ganz unberührt. Vgl. Treviranus, Biologie, Gött. 1802–22, 6 Bde.; Derselbe, Die Gesetze u. Erscheinungen des organischen L-s, Brem. 1831–32, 2 Bde.; Autenrieth, Ansichten über Natur u. Seelenleben, Stuttg. 1836; H. Lotze, Allgemeine Physiologie, Lpz. 1851; Moleschott, Der Kreislauf des L-s, Mainz 1852, 2. A. 1855.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 189-190.
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