Hauptmann [2]

[879] Hauptmann, 1) Moritz, Musiktheoretiker und Komponist, geb. 13. Okt. 1792 in Dresden als Sohn des Oberlandbaumeisters H., gest. 3. Jan. 1868 in Leipzig, ward für das Baufach bestimmt, entschied sich aber für Musik und ging 1811 als Violinschüler Spohrs nach Gotha. 1812 trat er als Violinist in die Hofkapelle zu Dresden, lebte 1814 und 1815 in Prag und Wien und war 1815–20 Privatmusiklehrer im Hause des russischen Fürsten Repnin. 1820 nach Deutschland zurückgekehrt, trat er 1822 als Violinist in die Hofkapelle zu Kassel ein. 1842 wurde er auf Spohrs und Mendelssohns Empfehlung als Kantor an die Thomasschule in Leipzig berufen und ein Jahr später als erster Theorielehrer an dem neugegründeten Konservatorium daselbst angestellt. 1843 redigierte er die Leipziger »Allgemeine Musikalische Zeitung«, vermochte aber mit dieser Art von Tätigkeit sich nicht zu befreunden. Als Lehrer erlangte H. ein hohes Ansehen und hat wesentlichen Anteil an dem Ruhm des Leipziger Konservatoriums. Die Universität Leipzig ernannte H. zum Ehrendoktor der Philosophie. Von seinen Kompositionen, die sich durch Ebenmaß des architektonischen Aufbaues, durch Reinheit des Satzes und Sanglichkeit der Stimmen auszeichnen, sind vor allen hervorzuheben seine Motetten, ferner zwei Messen, ein Offertorium, ein Salve regina, die Chorlieder für gemischte Stimmen, die dreistimmigen Kanons für Sopranstimmen, die Duette, ferner Sonaten und Sonatinen für Klavier und Violine, mehrere Violinduette, Streichquartette und eine Oper: »Mathilde« (Kassel 1826). Großes Aufsehen machten seine theoretischen Arbeiten, besonders »Die Natur der Harmonik und Metrik« (Leipz. 1853, 2. Aufl. 1873; engl. von Heathcote, Lond. 1888), ein Werk, dessen Einkleidung in das Gewand der Hegelschen Dialektik die Inkonsequenz in der Durchführung des Hauptgedankens, der auf Zarlino zurücklaufenden Ausstellung des polaren Gegensatzes zwischen der Durkonsonanz und der Mollkonsonanz, übersehen ließ. Von hohem Werte sind aber viele in dem Werke vorgetragene Einzelbeobachtungen, ebenso seine kleinen Arbeiten, die »Erläuterungen zu J. S. Bachs Kunst der Fuge«, »Über die Beantwortung des Fugenthemas« und andre Abhandlungen in Fachzeitschriften. Nach seinem Tod erschienen noch: »Die Lehre von der Harmonik« (hrsg. von O. Paul, Leipz. 1868) und »Opuscula«, eine Anzahl gesammelter Aufsätze (das. 1874). Hauptmanns Briefe an Franz Hauser wurden von Schöne (Leipz. 1871, 2 Bde.), seine Briefe an L. Spohr und andre von F. Hiller (das. 1876) herausgegeben. Vgl. Paul, Moritz H., eine Denkschrift (Leipz. 1862).

2) Gerhart, dramatischer Dichter, geb. 15. Nov. 1862 zu Salzbrunn in Schlesien, besuchte die Realschule, trat zu einem Landwirt in die Lehre, besuchte hierauf die Kunstschule in Breslau, um Bildhauer zu werden, verließ sie aber bald, um sich an den Universitäten in Jena und Berlin naturwissenschaftlichen Studien zu widmen. Fortan lebte er nach kurzem Aufenthalt in Italien, wo er sich der alten Neigung zur Bildhauerei hingab, in Erkner bei Berlin, seit 1891 zumeist in Schreiberhau und in Agnetendorf, im Winter bis vor einigen Jahren teils in Grunewald, teils in Blasewitz bei Dresden. Hauptmanns erstes Werk, die epische Dichtung »Promethidenlos« (Berl. 1885), war poetisch unbedeutend, aber durch ihre soziale Tendenz als Selbstbekenntnis bemerkenswert. Von den Brüdern Hart, Arno Holz, Johannes Schlaf u. a. ganz für die naturalistische Kunsttheorie gewonnen, gab er in seinem an Tolstois »Macht der Finsternis« angelehnten ersten Drama: »Vor Sonnenaufgang« (Berl. 1889) ein rohes, aber lebenswahres Abbild sozialer Mißstände seiner schlesischen Heimat, das bei der Ausführung auf der Berliner Freien Bühne starkes Aufsehen erregte. Weniger wirkte das nächste, von Holz und Schlafs »Familie Selicke« beeinflußte Drama »Das Friedensfest« (Berl. 1890), das aber gleichfalls treffsichere Charakterzeichnung erkennen läßt. Erfolgreicher war H. mit dem an Ibsens »Rosmersholm« erinnernden Drama »Einsame Menschen« (Berl. 1891), worin er die alte, gläubige Generation mit der neuen, naturwissenschaftlich gebildeten und nervösen in Gegensatz brachte. Noch bedeutendern Aufschwung nahm er in dem Schauspiel aus den 1840er Jahren: »Die Weber« (Berl. 1892, erste Fassung: »De Waber«, in schlesischer Mundart), worin er mit erschütternder Kraft das Elend der armen Weber auf die Bühne stellte, so daß sich die Dichtung zu einer ergreifenden Anklage des Kapitalismus gestaltet. Im selben Jahr erschienen zwei novellistische Arbeiten von ihm: »Der Apostel« und »Bahnwärter Thiel« (Berl. 1892), erstere einen Fall religiösen Irrsinns, letztere Mord und Wahnsinn infolge ehelichen Unglücks schildernd, beide grell und sensationell, aber nicht durchschlagend und nur als Studien zu betrachten. Unmittelbar darauf ließ H. zwei Komödien folgen: »Kollege Crampton« (Berl. 1892), die einen begabten, aber durch Trunksucht verkommenden Künstler treu nach der Wirklichkeit schildert, und die z. T. von Kleists »Zerbrochenem Krug« beeinflußte Diebskomödie »Der Biberpelz« (das. 1893), eine scharfe und in den ersten zwei Akten mit dramatischem Geschick ausgeführte Satire auf das Beamtentum, der H. später, z. T. unter Beibehaltung derselben Personen, die weniger wirksame Tragikomödie »Der rote Hahn« (das. 1901) anschloß. In neue Bahnen schien er einzulenken mit seinem nächsten Stück, der Traumdichtung »Hanneles Himmelfahrt« (Berl. 1894), das die religiösen Phantasien eines sterbenden Mädchens der untersten Stände ergreifend schildert und dem idealistischen Stil zusteuert; wohl Hauptmanns gelungenstes Werk. Nach dem geringen Beifall, den er mit der historischen Kleinmalerei seines »Florian Geyer« (Berl. 1895) gefunden hatte, errang er mit dem symbolischen Märchendrama »Die versunkene Glocke« (das. 1896, 58. Aufl. 1903) einen ungewöhnlichen Erfolg, der durch die tiefe und anschauliche Poesie des gedankenreichen, den Kampf zweier Weltanschauungen schildernden Werkes wohl begründet war. In seinem »Fuhrmann Henschel« (Berl. 1898), dessen Handlung an die des »Bahnwärters Thiel« erinnert, kehrte er zu dem grellen Realismus seiner frühern Werke zurück, erwies aber in dem guten Aufbau und der ausgezeichneten Charakterschilderung seine gereifte Kunst, während er in dem Scherzspiel »Schluck und Jan« (das. 1899) ein gutes Thema trotz höchst gelungener Einzelheiten durch allzu breite Ausdehnung schädigte, und in »Michael Kramer«, der Tragödie des Vaterherzens (das. 1900), in tiefsinnigen Betrachtungen voll lyrischen Schwunges den Anforderungen dramatischer Technik nicht gerecht wurde. Auch die in vielen Teilen poetisch-weihevolle Bühnendichtung »Der arme Heinrich« (Berl. 1902) ließ es an dramatischer Kraft fehlen, während in »Rose Bernd« (das. 1903), der Tragödie des in Not und Schuld untergehenden Mädchens, bei mancher Breite ergreifende Vorgänge von packender Kraft mit oft überraschender naturalistischer Wahrheit geschildert sind. H. gehört durch die kaum zu übertrefsende[879] Wirklichkeitstreue seiner Darstellungen zu den namhaftesten deutschen Dichtern der neuesten Zeit, aber er huldigt oft gar zu sehr der Kleinmalerei, läßt das Häßliche breit in den Vordergrund treten und ermangelt der großzügigen dramatischen Kraft. Vgl. P. Schlenther, Gerhart H. (3. Aufl., Berl. 1898); A. Bartels, Gerhart H. (Weim. 1897); A. v. Hanstein, Gerhart H. (Leipz. 1898); U. G. Woerner, Gerhart H. (2. Aufl., Berl. 1901); Kirschstein, Gerhart H. (2. Aufl., das. 1902); v. Grotthuß, Probleme und Charakterköpfe (3. Aufl., Stuttg. 1898); W. Bölsche, Hinter der Weltstadt (Leipz. 1901); E. Steiger, Das Werden des neuen Dramas, Bd. 2 (Berl. 1898); Landsberg, Los von H. (das. 1900); Bulthaupt, Dramaturgie des Schauspiels, Bd. 4 (Oldenb. 1901); S. Friedmann, Das deutsche Drama des 19. Jahrhunderts, Bd. 2 (Leipz. 1903); C. de Lollis, Gerardo H. e l'opera sua letteraria (Flor. 1899); P. Besson, Études sur le théâtre contemporainen Allemagne (Par. 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 879-880.
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