Injurie

[916] Injurie (v. lat. Injuria, Ehrenverletzung, Ehrenkränkung), 1) im weiteren Sinne jede wissentliche u. absichtliche Kränkung fremder auf der Persönlichkeit beruhender Rechte, insofern sie nicht in ein bestimmtes, schwereres Verbrechen übergeht: 2) im engeren Sinne die absichtliche Kränkung fremder Ehre. Die Grundlage der Lehre von den I-n beruht für das Gemeine Recht auf den Grundsätzen des Römischen Rechtes. Der äußere Werth, welcher einem jeden Bürger als Inhaber der allgemeinen bürgerlichen Rechtsfähigkeit zukommt, wird bei den Römern als Existimatio bezeichnet, u. der allgemeine Rechtsschutz erstreckte sich auch darauf, daß die Existimatio unangetastet bleibe. Die unmittelbar die Ehre eines Bürgers beeinträchtigenden Verletzungen, begründeten bei den Römern regelmäßig nur ein privatrechtliches Delict, welches gleich anderen privatrechtlichen Beschädigungen nur auf dem civilprocessualischen Wege zu verfahren war. Die 12 Tafeln bestimmten dafür eine Strafe von resp. 300, 150 u. 25 As. Das Prätorische Recht ertheilte dem Beleidigten das Recht, die Kränkung selbst zu schätzen, u. behielt dem Magistrat nur das Recht der Ermäßigung vor. Erst später (zuerst durch eine Lex Cornelia) wurde dem Beleidigten auch die Befugniß eingeräumt, wahlweise entweder auf Privatstrafe od. auf öffentliche Bestrafung anzutragen. Das Deutsche Recht, neben dem Interesse des Einzelnen noch zugleich das Gefühl der Standesehre berücksichtigend, fügte, während es im Übrigen den römisch-rechtlichen Begriff der I. annahm, noch die Ansicht bei, daß nicht sowohl die Bestrafung mit Geldbuße od. öffentlicher Strafe, als namentlich eine von dem Injurianten abgegebene Erklärung über die Unverletztheit der angegriffenen Ehre erforderlich sei, um die Verletzung des guten Rufes wieder auszugleichen. Während sich einerseits aus dieser Ansicht die Duelle als ein eigenmächtiges Zwangsmittel, um diese Erklärung herbeizuführen, entwickelten, wurde andererseits daher bei gerichtlicher Verfolgung der I. noch neben den schon im Römischen Rechte zu findenden Strafen ein Anspruch des Verletzten auf Abbitte, [916] Widerruf u. Ehrenerklärung anerkannt. Für gewisse Fälle, in denen die Ehrenkränkung wegen der ihr gegebenen Öffentlichkeit u. Verbreitung einen bes. verletzenden Charakter annahm, bei den sogenannten Famoslibellen, Schmähschriften u. Pasquillen, wurde sogar aus gleichem Grunde ein Verfahren von Amtswegen gestattet. Der Thatbestand einer jeden I. erfordert A) ein wirklich injuröses Benehmen, welches geeignet ist, die Ehre eines Anderen herabzusetzen. Welches Benehmen hierunter gehöre, läßt sich, abgesehen von gewissen Fällen, welche schon ihrer Natur nach diese Eigenschaft haben, wie z.B. thätliche Mißhandlungen od. üble Nachreden, nicht unter gewisse Regeln bringen, sondern es hängt dies von der Stellung der betroffenen Person, localen Verhältnissen, herrschenden Sitten, conventionellen Formen u. Gebräuchen ab. Bloße Grobheiten, so wie bloße Unterlassungen von Höflichkeitsbezeugungen werden nicht unter I. gerechnet. B) Das Vorhandensein eines Animus injuriandi, d.h. der rechtswidrigen Absicht auf Seite des Verletzenden, mit der vorgenommenen Handlung od. Unterlassung eine Nichtachtung der fremden Persönlichkeit offen od. versteckt auszudrücken. Culpose I-n gibt es daher ebensowenig, als injuriöse Handlungen von Seiten Wahnsinniger, Betrunkener etc.; deshalb fällt auch der Begriff der I. da weg, wo die Absicht nur auf eine Mittheilung vollkommen wahrer Thatsachen, wenn dieselben auch eine Unehre des Betheiligten enthalten, gerichtet war. Dagegen kann die Einrede der Wahrheit (Exceptio veritatis) den Vorwurf einer injuriösen Absicht da nicht ausschließen, wo die Thatsachen in einer Weise vorgetragen od. mit Schlüssen verbunden wurden, welche schon an sich die Ehre herabzusetzen geeignet sind. Ebenso hebt eine blos bedingte Fassung der I. den Begriff der I. nicht ohne Weiteres, sondern nur dann auf, wenn theils das bedingungsweise Ausgesprochene zu der vorausgesetzten Bedingung in einer richtigen Folgerung stand, theils auch überhaupt zu der bedingten Äußerung eine genügende Veranlassung vorlag. Im Einzelnen werden als Arten der I-n noch unterschieden: a) die Real- od. gemischte I-n, die durch andere Rechtsverletzungen, namentlich die durch Bethätigungen verübten, im Gegensatz der Verbal u. Idealinjurien, die nur durch mündliche od. schriftliche Worte od. durch Bilder u. Zeichen begangenen Ehrenverletzungen; b) schwere (I. atroces) u. leichte (I. leves) I-n, je nachdem die Ehrenkränkung wegen der bes. ausgezeichneten Stellung des Verletzten, der Zeit u. des Ortes, zu welcher u. an dem sie begangen wurde, als eine erheblichere erscheint od. nicht; c) Beleidigungen u. Verleumdungen, je nachdem die injuriöse Handlung nur in einer Darlegung der Verachtung od. in der Andichtung von Verachtung erregenden Handlungen bestand; d) öffentliche I-n, welche ausnahmsweise sogar von Amtswegen in Untersuchung gezogen u. im Gefolge davon criminell bestraft werden sollen, u. Privatinjurien. Zu den öffentlichen I-n gehören gemeinrechtlich aa) die Schmähschriften u. Pasquille (Libelli famosi), welche schriftlich od. sonst durch bleibende Zeichen absichtlich in das Publikum verbreitet worden sind; bb) die I-n der Kinder gegen ihre Eltern; cc) die I-n gegen Geistliche u. Staatsbeamte, insofern sie denselben während der Übung ihres Amtes zugefügt worden sind; endlich dd) überhaupt alle I-n, welche einen öffentlichen Skandal verursacht haben. Mit Ausnahme dieser Fälle werden alle anderen Fälle der I-n nur auf Antrag bestraft. Dieser Antrag kann nach Gemeinem Rechte entweder auf die Erlegung einer von dem Injurianten dem Injuriaten zu zahlenden Geldstrafe, od. auf öffentliche Bestrafung des Injuriaten gerichtet werden. Im ersten Falle ist die Klage die Actio injuriarum aestimatoria, welche als prätorische Klage aber schon in Jahresfrist u. nur ausnahmsweise bei I-n, die durch Schlagen, Stoßen od. eigenmächtiges Eindringen in ein Haus begangen wurden, als Civilklage, erst in 30 Jahren verjährt. Die prätorische Klage kann in gewissen Fällen auch von Personen angestellt werden, welche nicht unmittelbar die Verletzten waren, sondern nur mit den Letzteren in einem näheren Verwandtschaftsverhältniß stehen. Dies sind die Fälle der sogenannten mittelbaren I-n (Injuriae mediatae); sie finden statt bei dem Vater, wenn sein Hauskind, bei dem Ehemann, wenn seine Frau, dem Bräutigam, wenn seine Braut, dem Schwiegervater, wenn seine Schwiegertochter, dem Erben, wenn der Erblasser beleidigt wurde. Die öffentliche Strafe des Injurianten ist, wenn sie beantragt wird, gemeinrechtlich ganz arbiträr u. pflegt den Umständen nach in Verweisen, öffentlicher Geldbuße od. kürzerem Gefängniß zu bestehen. Die daneben durch das Deutsche Recht eingeführte Abbitte (Deprecatio injuriae) enthält die Erklärung des Beleidigers, daß er die Handlung bereue u. um Verzeihung bitte; mit dem Widerruf (Palinodia, Recantatio injuriae) hat der Beleidiger zu erklären, daß er des Andern Ehre auf unwahre Weise gekränkt habe; die Ehrenerklärung (Declaratio honoris) ist die feierliche Versicherung, daß man nicht die Absicht gehabt habe, den Beleidigten an seiner Ehre zu kränken u. daß man ihn für einen ehrenwerthen Mann halte. Die Form der Ableistung dieser Erklärungen ist je nach dem Gerichtsgebrauch u. den Landesgesetzen verschieden, bald gerichtlich, bald außergerichtlich, bald mit Einrückung in öffentliche Blätter verbunden od. nicht. Die frühere Zeit kannte dabei noch manche bes. demüthigende Zuthaten, wie z.B. die knieende Abbitte, die Gegenwart des Scharfrichters etc. In folgenden einzelnen Fällen fällt aber gemeinrechtlich die Strafe ganz weg: bei Ehrenkränkungen zwischen Ehegatten, bei Ehrenkränkungen der Eltern gegen ihre Kinder, wenn der Beleidigte durch ein unanständiges Benehmen zu der verächtlichen Behandlung berechtigte, wenn er selbst seine Zustimmung dazu ertheilt hatte, wenn wechselseitige I-n stattgefunden haben, durch Compensation od. Retorsion, endlich bei eingetretener Verzeihung od. wenn der Beleidigte noch vor erfolgter Einlassung des Beleidigers verstorben ist. Die neueren Strafgesetzbücher halten sämmtlich an dem Grundsatze fest, daß I-n nur auf Antrag des Verletzten untersucht u. bestraft werden sollen. Dagegen ist das Recht, wegen mittelbaren I-n zu klagen, öfters ausgedehnt worden, z.B. statt des Vaters allgemein auf die Eltern, bei I-n gegen Verstorbene auf alle Verwandte bis zu einem gewissen Grade, bei I-n, die ganze Stände od. Corporationen betreffen, auf alle Mitglieder. Bei den Strafen finden sich die Privatstrafen meist abgeschafft u. dafür lediglich öffentliche Strafen substituirt. Nur die [917] Abbitte u. Ehrenerklärung ist öfters noch beibehalten, vielfach aber auch diese Art der Genugthuung in der Weise abgeändert worden, daß der Beleidigte nur eine beglaubte Abschrift des Straferkenntnisses erhält, u. daß bei öffentlich erfolgten Beleidigungen das Strafurtheil, wenn der Beleidigte es verlangt, auf Kosten des Beleidigers öffentlich bekannt gemacht wird. Die Arten der I-n sind meist auf die zwei, der Verleumdungen u. Beleidigungen, zurückgebracht u. nur als Erschwerungsgründe aufgestellt, wenn die Beleidigung mit Thätlichkeiten verbunden war, wenn sie gegen Eltern, Ascendenten, bei Gericht, an öffentlichen Orten, öffentlichen Druckschriften, gegen ganze Stände, Behörden, Regenten fremder Staaten, Gesandte etc. erfolgten. Die Einrede der Wahrheit ist nach manchen Gesetzgebungen nur bei Verleumdungen, nicht auch bei Beleidigungen für zulässig erklärt; alle erkennen an, daß die Einrede da nicht Platz greift, wo schon die Form der Mittheilung Beleidigendes enthielt. Bezüglich des processualischen Verfahrens ist in den neueren Strafproceßordnungen meist das gewöhnliche Untersuchungsverfahren vorgeschrieben; doch kennen manche derselben, wie die Thüringische, Altenburgische, Königlich Sächsische auch ein bes. Verfahren, welches die Mitte zwischen einem Straf- u. civilprocessualischen Verfahren hält. Vgl. A. D. Weber, Über I-n u. Schmähschriften, Schwerin 1797, 4. Aufl. Lpz. 1820; von Kettenacker, Das Verbrechen der Ehrenkränkung, 1839; Schüßler, Über I-n u. Injurienklagen, 1847; Köstlin, Über das Verbrechen der Ehrenverletzung nach Deutschem Recht, in der Zeitschrift für Deutsches Recht 1855.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 8. Altenburg 1859, S. 916-918.
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