Rußland

[794] Rußland, dem Flächeninhalte nach das größte Reich der Erde, zu 357065 QM. berechnet, von denen auf Europa 100429, auf Amerika 27247, die übrigen auf Asien kommen, gränzt an Preußen, Oesterreich, die europ. Türkei, das baltische Meer, Norwegen, Schweden, das nördl. Eismeer, an die Behringsstraße, Britisch-Nordamerika, den stillen Ocean, China, die Tatarei, das kaspische Meer, Persien, die asiatische Türkei und das schwarze Meer. Den Kern des Reichs bildet das europ. Rußland; dasselbe ist dem größten Theile nach Flachland, gebirgig nur im südl. Polen (Karpathen), in Finnland, der Krim u. an der asiatischen Gränze, wo sich Kaukasus und Ural erheben. Transkaukasien ist durch den Kaukasus und das armenische Gebirge ein Gebirgsland, Sibirien wird durch das asiat. Centralgebirge in seinem südl. Theile erfüllt und fällt gegen das Eismeer in eine ungeheure eisige Tiefebene ab. R. hat große Sümpfe am mittlern Dniepr und dessen westl. Zuflüssen, in Polen, an der Eismeerküste, zahllose u. zum Theil sehr große Seen (die finnischen, Ilmen-, Peipus-, Ladoga-, Onega-, Baikal- etc. See); Steppen im südl. europ. R., im Gebiete der Kirgisen, zwischen dem Aralsee und kaspischen Meere, in denselben viele Salzseen; der Norden ist eine Wüstenei, deßgleichen das russ. Amerika u. hat nur wegen des Pelzhandels einigen Werth. Das Flußsystem des europ. R.s ist für den Verkehr äußerst günstig gestaltet; in die Ostsee ergießen sich: Weichsel, Niemen, Düna, Narwa, Newa, Tornea; in das weiße Meer: die Dwina, in das Eismeer: Mesen und Petschora, in das kaspische: die Wolga, die Hauptader des europ. R.s, und der Terek, in das asowʼsche: [794] der Don, in das schwarze: Kuban, Dniepr und Dniestr; die Donau ist auf eine kurze Strecke Gränzfluß. Von diesen Flüssen sind Niemen, Newa, Düna, Dwina, Wolga, Dniepr u. Don durch Kanäle mit einander verbunden. Die gewaltigen Ströme Sibiriens (Obi, Jenisei, Lena etc.) haben für den Verkehr nur untergeordnete Bedeutung, ebenso bis jetzt der Amur in der Mandschurei, der Rion, Kur und Araxes in Transkaukasien. Das Klima ist nur gemäßigt in den südl. Theilen und zeichnet sich (die Südthäler des Kaukasus aus genommen) durch langen u. strengen Winter sowie durch kurzen u. heißen Sommer aus. Die Volkszahl beträgt nach russ. Angaben 65237000 Seelen; am dichtesten ist die Bevölkerung in Polen und den centralen russ. Gouvernements, am dünnsten in dem ungeheuren Küstenlande des Eismeers; Städte zählt man 1842, darunter 1608 in Europa, von denen nur Petersburg, Moskau und Warschau über 100000 E. haben. Völkerschaften gibt es etwa 100 mit 40 verschiedenen Sprachen; die Hauptmasse bilden die Slaven, 55 Mill., darunter 48 Mill. Russen u. 7 Mill. Polen und Letten; zu dem finnischen Stamme gehören: die Finnländer, Esthen, Lappen, Syrjänen, Wogulen, Permier, Tschuwaschen, Wotjäken, Mordwinen; zu dem tatarischen: die eigentlichen Tataren, die Baschkiren, Kirgisen, Jakuten; zum mongolischen: die Khalkasmongolen, Kalmücken, Buräten, Tungusen, Lamuten, Kamtschadalen, Tschutschken etc. Der Religion nach gehören 49 Millionen der russ.-griech. Kirche an (vgl. russ. Kirche), 8 Mill. der röm.-kath.; die Zahl der Protestanten mag 2 Mill. betragen, der Moslemin 2 (, Mill., der Juden 300000 E., der Heiden 163000 E. Die russ. Nation besteht aus bevorzugten Ständen u. dem eigentlichen Volke. Der Adel zerfällt in 3 Klassen: Fürsten, Grafen, Barone od. in den alten, 1682 in das Sammelbuch eingetragenen Adel, in den durch die Gnade des Monarchen übertragenen Adel u. in den Rangadel. Der letztere ist seit 1722 in 14 Klassen eingetheilt, von denen 8 mit dem erblichen, 6 mit dem persönlichen Adel verbunden sind; der Adelige ist persönlich frei von Abgaben, deßgleichen sein Grundeigenthum, kann nicht ausgehoben und nicht körperlich bestraft werden. Der Bürgerstand zerfällt in 6 Klassen, beträgt nur etwas über 4 Mill., besitzt aber ziemliche Vorrechte, namentlich Militärfreiheit. Die Odnodworzen (d.h. Einhöfer), bis 1845 eine Art niederer Adel, Bauern mit freiem Grundeigenthum, aber dem Kaiser steuer- und militärpflichtig, vermindern sich mehr und mehr. Die Masse des Volks besteht aus Kronbauern (über 16 Mill.) und leibeigenen Bauern. Die Kronbauern bezahlen Kopfgeld u. Landpacht, sind militärpflichtig, haben aber eine freie patriarchalische Gemeindeverfassung; Grund und Boden ist Gemeindegut und wird von den Gemeindevorstehern den verheiratheten männlichen Individuen auf deren Lebenszeit verhältnißmäßig zugetheilt. Der leibeigene Bauer gehört mit Grund u. Boden einem adeligen Herrn, der ihn mit oder ohne denselben verkaufen, in Bergwerken, Fabriken etc. verwenden, auch ihn strafen kann, jedoch weder mit dem Tode noch mit Transportation nach Sibirien. Der leibeigene Bauer ist militärpflichtig und der Herr versteuert jedes männliche Individuum mit ungefähr 5 Rubel der Krone. Uebrigens ist das Loos des Leibeigenen meistens nicht so traurig wie wir es uns vorstellen, weil schon das Interesse des Leibherrn eine schonende Behandlung des Leibeigenen räthlich macht. In den Ostseeprovinzen ist die Leibeigenschaft seit Alexander I. aufgehoben, Finnland hat seine eigene Verfassung, deßgleichen die Kosacken, die Kaukasier etc.; die Stämme der Nomaden in Mittelasien leben in hergebrachter Weise, deßgleichen die armen Stämme in Sibirien, von denen einzelne fast ausgerottet sind. Die Hauptbeschäftigung des Volks ist Ackerbau u. Viehzucht, u. deren Produkte sind auch die Hauptgegenstände der russ. Aus fuhr: Getreide, Hanf, Flachs, Lein, Pferde, Häute, Leder, Talg; die ungeheuren Waldungen liefern für die Ausfuhr: Holz, Potasche, Theer und berühmtes Pelzwerk; die Fischerei der Wolga ist nicht nur für die Anwohner von Bedeutsamkeit,[795] sondern durch Caviar und Hausenblase auch für das Ausland. An Mineralschätzen ist R. sehr reich; die Goldausbeute im Ural-, Altai- u. Nertschinskischen Gebirge wird im jährlichen Durchschnitt auf 1500 Pud, die Silberausbeute auf 1200 Pud berechnet; treffliches Eisen und Kupfer sowie Blei ist in Menge vorhanden; mit Platina deckt R. so ziemlich allein den Bedarf der civilisirten Welt; die Diamanten im Ural scheinen nicht viel zu bedeuten; Steinkohlen sind nicht zureichend vorhanden, ebenso hat R. Mangel an Salz, weil die Gewinnung des Steppensalzes einstweilen ebenso kostspielig als der Transport desselben wäre. – Seit Peter I. hat die russ. Regierung (mit Ausnahme Katharinas II.) alles aufgeboten, eine einheimische Fabrikindustrie zu gründen; dazu wirkt das von Cancrin (s. d.) eingeführte Schutzzollsystem, wodurch es den Adeligen allein möglich wurde, Fabriken zu errichten, in welchen ihre Leibeigenen arbeiten; man zählt jetzt über 18000 Fabriken, welche vorzugsweise Baumwolle-, aber auch Wolle-, Leine-, Seide- u. Metallwaaren liefern. Diese Industrie soll vorläufig den einheimischen Bedarf möglich decken, führt aber schon einzelne Artikel in das innere Asien aus und verdrängt dort die engl. Daß der Schmuggel trotz furchtbarer Gegenmaßregeln noch immer schwunghaft betrieben wird, ist allerdings richtig, aber die Männer des sog. Freihandelssystems können dessenungeachtet nicht leugnen, daß unter dem russ. Zollsysteme eine russ. Industrie aufkommt, die sonst niemals entstanden wäre. Der innere Handel wird durch die Seen, Flüsse und Kanäle (diese in einer Länge von 849 Meil.), im Winter besonders durch die Schlittenbahn begünstigt; von größeren Eisenbahnen ist die Moskau-Petersburger und Warschau-Krakauer vollendet, die Warschau-Petersburger u. Moskau-Odessaer sind in Angriff genommen. Die Hauptplätze für den Binnenhandel sind Moskau, Petersburg, Nischneinowgorod, Irbit, Kischenew, Warschau. Der auswärtige Landhandel bewegt sich über Kiachta nach und aus China, hat aber nicht mehr die frühere Wichtigkeit, dagegen hebt sich der Verkehr mit Persien und der Bucharei. Die See erschloß bekanntlich Peter I. für R.; die bedeutendsten Plätze sind an der Ostsee: Kronstadt, Riga, Reval; am schwarzen Meere: Odessa, am asowʼschen: Kertsch, am weißen: Archangel, am kaspischen: Astrachan und Baku. 1853 kamen in den Ostseehäfen 4556 Schiffe an u. gingen 4638 ab, im weißen Meere: 811 u. 837, im schwarzen und asowʼschen: 5384 u. 4748, im kaspischen: 169 u. 292; die Handelsmarine ist nahezu 300000 Tonnen stark. Der Gesammtwerth der Ausfuhr wurde 1853 auf 114773829 Silberrubel, der Einfuhr auf 100864052 angegeben. – Münzen: Der Silberrubel ist = 1 Thlr. 21/4 Sgr. = 1 fl. 321/4 kr. C.-M. = 10 Griwen = 331/2 Altins = 100 Kopeken = 200 Denuschken = 400 Poluschken; Goldmünze ist der Imperial = 10 Rubeln; es werden aber in neuester Zeit nur 1/2 Imperials geprägt. – Gewicht: Das Berkowetz = 10 Pud, 1 Pud = 40 Pfd., 1 Pfd. = 32 Loth, 1 Loth = 3 Solotnik, 1 Solotnik = 96 Doli; 100 russ. Pfd. sind. = 81,1 Zollpfund. – Längemaß: 1 Sasche = 3 Arschin, 1 Arschin = 16 Werschok (od. 0,711 frz. Metr.); 1 Werft od. Meile = 1/7 geographische Meile. Getreidemaß: 1 Tschetwert = 2 Osmin = 4 Pajok = 8 Tschetwerik = 64 Garnez = 209,9 franz. Litr. – Flüssigkeitsmaße: 1 Wedro = 10 Kruschka = 12,29 frz. Litr. = 1/40 Oxhoft. Ueber die finanziellen Verhältnisse R.s ist im Grunde wenig Zuverlässiges bekannt, indem die jährlichen Ergebnisse des Staatshaushaltes nicht veröffentlicht werden. Vor dem Ausbruch des letzten Krieges betrug die Staatsschuld 788573112 Silberrubel, darunter für 311375581 Rubel Papiergeld inbegriffen; seitdem sind 3 Anlehen hinzugekommen u. 125 Mill. Rubel verzinsliche Schatzscheine ausgegeben worden, so daß die Staatsschuld jedenfalls um ein starkes Drittheil gewachsen ist. Die eigentliche russ. Armee wurde 1852 zu 486000 Mann mit 996 Geschützen angegeben, dazu 98000 M. mit 192 Geschützen Reserve 1. Aufgebots, 115000 Mann Reserve 2. Aufgebots,[796] im Ganzen also 699000 Mann mit 1468 Geschützen. Außerdem wurden die irregulären Contingente der Kosacken, Baschkiren etc. zu 150000 Mann mit 220 Geschützen angenommen. Noch nicht eingerechnet wären die kaukasische Armee, die Corps in Finnland, Orenburg und Sibirien, die Garnisonen der inneren Festungen etc. zu 300000 Mann angegeben, so daß die gesammte russ. Landmacht über 1 Mill. Krieger stark wäre; doch hat R. noch nie über 300000 Mann regulärer Truppen operiren lassen können, weil gar viele Mannschaft nur auf dem Papier steht und die ungeheuren Entfernungen des Reichs die Herbeiziehung der Mannschaften fast unmöglich machen. – Die Kriegsmarine, aus der Flotte des baltischen u. schwarzen Meeres bestehend, soll 1855 nicht weniger als 60 Linienschiffe, 37 Fregatten, 7 Korvetten, Briggs und Brigantinen, 40 Dampfer und 400 Schaluppen mit 9000 Kanonen u. einer Bemannung von 42000 Matrosen, 20000 Marinesoldaten und Artilleristen betragen haben, welche Angabe jeden falls übertrieben ist. Die Flotte des schwarzen Meeres ist seitdem im Hafen von Sebastopol vernichtet worden; die russ. Küstenbevölkerung liefert bei weitem nicht die zureichende Anzahl Seeleute, daher muß für die Flottenmannschaft im Binnenlande ausgehoben werden, was bei der Abneigung des Russen gegen den Seedienst für die Leistungen der Seemacht immer sehr nachtheilig wirken muß. Alle Lehranstalten stehen unter dem Ministerium der Volksaufklärung und sind in 9 Lehrbezirke (Petersburg, Moskau, Charkow, Kasan, Kiew, Dorpat, Wilna, Odessa, Sibirien) und mehre Verwaltungen (Polen, Finnland, kaukasische Lehrbezirke) eingetheilt. R. hat 7 Universitäten (Petersburg, Moskau, Charkow, Kasan, Dorpat, Kiew, Helsingfors), zu Petersburg eine Akademie, mehre Sternwarten, Museen, öffentliche Bibliotheken etc.; 27 Militär-, 10 Marine- und 92 technische Schulen, im Ganzen aber nicht einmal 5000 öffentliche Lehranstalten, somit keinen eigentlichen Volksunterricht. Die Regierungsform ist eine völlig unumschränkte Monarchie und der Kaiser vereinigt in seiner Person die höchste gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt u. ist zugleich Oberhaupt der russ. Kirche; regierender Kaiser ist Alexander II., geb. 29. April 1818. Die Verwaltung ist die bureaukratische, mit strengster militärischer Subordination, so daß der von oben gegebene Anstoß sich rasch bis zu den untersten Stufen verbreitet u. die Staatsmaschine mit der größten Präcision arbeitet, was aber nicht verhindert, daß die russ. Beamtenwelt durch Unterschleif und Bestechlichkeit berüchtigt ist. Die höchsten Centralbehörden sind: der Reichsrath, der die Gesetze vorberathet und die Minister zur Verantwortung zieht, wird von dem Kaiser präsidirt; der dirigirende Senat, gleichfalls von dem Kaiser präsidirt, hat die Vollziehung der Gesetze zu überwachen und ist in 11 Departem. getheilt; die dirigirende hl. Synode zu Petersburg, von einem Oberprocurator im Namen des Kaisers präsidirt, ist die höchste geistliche Behörde für die russ.-griech. Kirche; das Ministerium besteht aus 10 Ministern und 3 Generaldirectoren. Das ganze Reich ist in 56 Gouvern. (Polen in 5 Gouvern., Finnland in 8 Kreise), 4 Provinzen und 4 Stadtgouvern. eingetheilt; Gouvern. und Provinzen zerfallen wieder in Kreise. Die Polizei hat einen sehr ausgezeichneten Wirkungskreis und überwacht alle Schichten der Gesellschaft. Die Gerichte haben bei dem gewöhnlichen Verfahren 3 Instanzen: die Magistrate in den Städten, auf dem Lande die Landgerichte; dann folgen die Kriegsgerichte, zuletzt die Gouvernementsgerichte, von denen unter Umständen an den Reichstag appellirt werden kann. Todesstrafe findet nur gegen Hochverrath statt; schwere Verbrechen werden mit Knutenhieben bestraft, und überlebt sie der Bestrafte, so wird er nach Sibirien abgeliefert. Die gewöhnliche Strafe für das gemeine Volk besteht in Prügeln. Die. Gesetze sind in einer Sammlung 1827 herausgegeben worden; die Verordnungen (Ukasen, 48 Quartbände) reichen von 1649–1825; eine 2. Sammlung in 8 Quartbänden, seitdem fortgesetzt, erschien [797] 1832–33; aus allen ist 1843 ein systematischer Auszug (Swod) publicirt worden. – Geschichte. Als die ältesten Bewohner R.s werden Scythen und Sarmaten bezeichnet, also wohl finnische und slavische Stämme; durch R. ging zur Zeit der Völkerwanderung der Zug der westwärts drängenden Völker u. erst im 9. Jahrh. bildet sich ein russ. Reich. Der Mönch Nestor erzählt: die Slaven hatten in Nowgorod und Kiew Staaten gegründet, waren aber unter einander selbst uneinig, wurden von den Warägern und Reußen (normännischen Abenteurern, wie man glaubt) bekriegt und riefen zuletzt die reußischen Waräger Rurik, Sineus u. Truwor, 3 Brüder, als Oberhäupter in das Land (862); R. überlebte seine Brüder, residirte zu Nowgorod und herrschte von der Newa u. dem Dniepr bis an die Oka. Schon unter ihm griffen die Waräger Konstantinopel an; Oleg, der Vormund seines Sohnes Igor, wiederholte den Versuch, überwältigte die Chazaren u. verlegte die Residenz nach Kiew. Igor war nicht weniger kriegerisch; seine Wittwe Olga aber besuchte 955 Konstantinopel u. ließ sich als Helena taufen, wodurch das Christenthum Eingang in Kiew fand. Ihr Sohn Swätoslaw erweiterte das Reich bis an das asowʼsche und kaspische Meer, fiel aber 973 gegen die Petschenegen. Von seinen 3 Söhnen errang Wladimir I. 980 die Alleinherrschaft, eroberte Lithauen, Galizien, Livland, griff das byzant. Reich an, ließ sich alsdann zur Annahme des Christenthums herbei, heirathete die griech. Prinzessin Anna, legte die Grundlage zu einer christlichen Cultur u. theilte aber um 1000 das Reich unter seine 12 Söhne; die Theilung erneuerte sich nachhaltig 1054. Die wichtigsten russ. Fürstenthümer bis zur Mongolenherrschaft waren: Kiew, das mächtigste, wegen der Oberhoheit seines Fürsten über die anderen Großfürstenthum genannt; Czernigow, Perejaslawl, Smolensk, Polocz, Wladimir; Nowgorod aber blühte unter einer Art republikanischer Verfassung, sowie seine Tochterstaaten Pskow u. Wiätka; 1147 erbaute Jurje Dolgoruki Moskau, wo sich beim Sinken Kiews die nationale Kraft als in dem natürlichen Mittelpunkte concentrirte. Seit 1223 brachen die Mongolen in R. ein und überwältigten es nach einem 25 jährigen Verzweiflungskampfe; die russ. Fürsten wurden Vasallen des Chans der goldenen Horde, was sie aber nicht abhielt, unter einander Krieg zu führen, so wenig als die Polen, Lithauer, Schweden und Schwertbrüder, Stücke des alten R.s abzureißen (vgl. Alexander Newski). Die 200jährige Herrsch ast der Mongolen drückte dem russ. Volke, besonders dessen Dynastien, den noch nicht ausgetilgten Charakter der Barbarei auf. Ueber Iwan I. (III.) Wasiljewitsch (regierte 1462–1505) und Iwan II. (IV.) den Schrecklichen (regierte 1533–1584 s. Iwan. Iwans des Schrecklichen Sohn Feodor regierte von 1584–98, der letzte aus Ruriks Stamm; sein Oheim Boris Godunow, der den Thronerben Demetrius ermordet haben soll, bestieg darauf selbst den Thron, wurde aber dem Adel verhaßt und 1606 durch den falschen Demetrius (einen Mönch Otrepiew) mit poln. Hilfe gestürzt; der russ. Adel setzte Wasili IV. auf den Thron als sein Geschöpf, falsche Demetrius vermehrten die Zerrüttung, der Adel setzte den Czaren ab und wählte den poln. Prinzen Wladislaw, und erst als die Polen die Verträge dem Adel und der Geistlichkeit gegenüber nicht hielten, befreite ein allgemeiner Aufstand das Reich und rief die Wahl des Adels, der Geistlichkeit und des Bürgerstands den Michael Feodorowitsch Romanow 1613 zum erblichen und unumschränkten Czaren aus. Unter ihm sowie unter seinem Nachfolger Alexei (1645–76) u. dessen Sohn Feodor III. (1676–82) war R. eine bedeutende Macht, übrigens von der Ostsee durch die Schweden, von dem schwarzen Meere durch Türken u. Tataren ausgeschlossen, überdies durch die Factionen des Adels und den prätorianischen Uebermuth der Strelitzen beunruhigt. Eine neue Epoche begann mit Peter d. Gr. (1682 bis 1725), der seinen Nach folgern in jeder Hinsicht den Weg zur Weltherrschaft zeigte; s. Peter I. Alexejewitsch. [798] Unter Katharina I. (1725–27), Peter II. (1727–30), Anna (1730–40), Iwan III. (1740 gestürzt), Elisabeth (1741–62), Peter III. (1762 gestürzt und ermordet), blieb R., was es unter Peter I. geworden war, trotz des Türkenkriegs unter Anna, der Betheiligung an dem 7jährigen Kriege unter Elisabeth und eines Kriegs gegen Schweden; die Revolutionen waren nur Palastrevolutionen, indem Anna den Plan der Dolgoruki, dem Adel einen directen Einfluß auf die Regierung zu verschaffen, klug vereitelte. Katharina II. (1762 bis 1796) führte Peters I. Werk weiter; sie vernichtete Polen, erschütterte die Türkei bis zum Einsturze u. demüthigte Schweden dis zur Ohnmacht (vergl. Katharina II.). Ueber ihren Sohn und Nachfolger Paul (1796–1801) s. Paul I. Petrowitsch. Alexander I. (1801–25) errang für R. durch kluge Berücksichtigung der Umstände einen fast gebieterischen Einfluß auf die Geschicke Europas; s. Alexander I. im I. Bd. S. 110 ff. Der Sohn u. Nachfolger Alexanders I. war Nikolaus I. (1825–55), s. über ihn Nikolaus I. Pawlowitsch. Er stand nach den Stürmen, die Europa 1848 und 1849 erschüttert hatten, unbestritten als der gewaltigste Monarch der Erde da, mußte aber noch herbe Täuschungen erfahren. Bekanntlich veranlaßten Oesterreichs Einschreiten zu Gunsten der Montenegriner (1852) und Frankreichs diplomatische Bemühungen für die Rechte der Lateiner in Jerusalem den Kaiser Nikolaus zur Sendung des Fürsten Menschikow nach Konstantinopel (28. Febr. 1853), der die Pforte durch Drohungen u. Versprechungen zu einem Vertrage bewegen sollte, der eine förmliche Schutzherrlichkeit R.s über die griech. Christen in der Türkei ausgesprochen hätte. Die Weigerung der Pforte wurde von England und Frankreich unterstützt und als Nikolaus durch die Occupation der Moldau und Walachei den Sultan sowie abendländische Mächte, auf deren viel erprobte Scheu vor einem großen Kriege er getrost rechnete, einschüchtern wollte, erklärte der Sultan den Krieg (4. Oct. 1853) und die Vernichtung der türk. Flotte bei Sinope durch die russ. (30. Nov.) nöthigte Frankreich und England zur ernsthaften Intervention. Die Russen zeigten im Verlaufe des Krieges bei Oltenitza, Silistria, Kalafat, Cetate etc. ihre erprobte feste Tapferkeit, aber ihre Führung erschien in einem sehr ungünstigen Lichte, was sich noch mehr bei dem Riesenkampfe um Sebastopol bewährte, dessen südl. Theil den 9. Sept. 1855 in die Hände der Franzosen und Engländer fiel, wobei die Russen die eigene Flotte im Hafen verbrannten. Nikolaus I. erlebte diesen Schlag nicht mehr (er st. 2. Mär; 1855); wohl aber hatte er auf die Drohungen des mächtig gerüsteten Oesterreichs den Boden der europ. Türkei räumen müssen. Sein Sohn Alexander II. fand für gut auf die von Oesterreich proponirten u. von den Westmächten acceptirten Friedensbedingungen einzugehen (April 1856), durch die (soweit bis jetzt verlautet hat) R. das ausschließliche Protectorat über Serbien, die Moldau u. Walachei sowie über die griech. Unterthanen der Pforte aufgibt, keine drohende Seemacht im schwarzen Meer auszurüsten sich verpflichtet, die Schiffahrt durch die Donaumündungen nicht länger belästigen will und in eine Gränzregulirung zwischen Bessarabien u. der Moldau einwilligt. (Ueber die russ. Geschichte s. Karamsin; Strahl u. Hermann »R.s Geschichte« 5 Bde., Hamb. 1832–33; über die russ. Zustände: Kohl; Haxthausen »Studien über die innern Zustände R. s« 3 Bde., Hannover 1817–52.)

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 794-799.
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