[170] Äginētische Kunst. Unter den ältern griechischen Kunstschulen hat die auf der Insel Ägina (s. d.) bis gegen die Mitte des 5. Jahrh. v. Chr. blühende frühzeitig einen hohen Ruf erlangt. Sie hatte sich besonders an der Darstellung von Kämpferfiguren, die den Siegern in den Kampfspielen zu Ehren aufgestellt wurden, geübt und gibt daher Gestalten, in denen männliche Kraftfülle mit naturalistischer Schärfe und noch ohne ideale Schönheit zum Ausdruck gelangt. Muskeln, Adern, die Verbindung der Gliedmaßen sind sehr genau wiedergegeben. Neben diesem Naturalismus überrascht aber die Strenge, mit der das alte Gesetz der Symmetrie beibehalten wurde. Dieselbe Grundidee der Komposition beherrscht z. B. beide um 475 entstandene Giebelgruppen des Athenetempels in Ägina. Sie wurden 1811 aufgefunden,[170] durch Thorwaldsen restauriert und von dem bayrischen Kronprinzen Ludwig erworben, später in die von ihm erbaute Glyptothek in München versetzt. Von den 22 ursprünglich vorhandenen Figuren sind 10 des Westgiebels (s. Tafel »Bildhauerkunst III«, Fig. 1) vollständig, die 11. in Fragmenten erhalten; von denen des Ostgiebels sind 5 und viele Trümmer übrig. Weitere Reste sind durch die 1901 von A. Furtwängler auf Kosten der bayrischen Regierung veranstalteten Ausgrabungen aufgefunden worden. Beide Gruppen stellen Kämpfe vor Troja vor, in denen Athene die griechischen Helden schützt. Sie bildet den Mittelpunkt der Darstellung, beide Male in fast übereinstimmender Erscheinung. Im westlichen Giebel sehen wir den über der Leiche des Achilleus entbrannten Kampf, wobei Odysseus die Trojaner abwehrt; im östlichen Telamon und Herakles den gefallenen Oikles gegen Laomedon schirmend, eine Szene aus dem frühern Kampf zwischen Griechen und Troern. Während sich in der liebevoll genauen Naturbeobachtung an diesen Marmorbildern ein wesentlicher Fortschritt der griechischen Kunst zu erkennen gibt, zeigen alle übrigen Merkmale noch den alten naiven Stil der vorhergehenden Epoche, in der die hellenische Kunst zuerst den Versuch machte, sich einerseits der Einflüsse orientalischer Völker, anderseits des strengen und starren Kultstiles zu entledigen. Daher noch jenes charakteristische Lächeln in den emporgezogenen Mundwinkeln, die schief stehenden, glotzenden Augen, der Mangel an Lebendigkeit in der Bewegung der Körper, vor allem jedoch das Fehlen des Ausdrucks der Seelenstimmung im Antlitz. Die Teilnehmer des Kampfes bewahren ein ruhig mildes, freundliches Wesen. Nur im Ostgiebel zeigt sich an einem der Gefallenen. welche die Ecken an beiden Giebeln ausfüllen, der Versuch, den Ausdruck des Todesschmerzes in den Zügen wiederzugeben, wie der Ostgiebel überhaupt eine etwas vorgeschrittenere Stufe der Entwickelung zeigt, die wohl der Vorstellung entsprechen dürfte, die wir uns von den hervorragendsten Künstlern Äginas, Kallon (s. d.) und Onatas (s. d.) zu machen haben. Die Figuren des Tempels waren an den Gewandsäumen, Haaren, Augen und andern Details bemalt, Haare, Waffenstücke etc. teilweise aus Metall angesetzt. Unter den ältern Künstlern ist noch der Bildschnitzer Smilis hervorzuheben. Vgl. J. M. Wagner, Bericht über die äginetischen Bildwerke (hrsg. und mit kunstgeschichtlichen Anmerkungen begleitet von Schelling, Tübing. 1817); Brunn, Über das Alter der äginetischen Bildwerke (Sitzungsberichte der bayrischen Akademie der Wissenschaften, 1867); K. Lange, Die Komposition der Ägineten (Leipz. 1878); Schildt, Die Giebelgruppen zu Ägina (das. 1895).
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