Flämische Sprache und Literatur

[656] Flämische Sprache und Literatur. Unter flämischer Sprache versteht man die verschiedenen niederfränkischen Mundarten, die in den belgischen Provinzen Ost- und Westflandern, Antwerpen, Südbrabant und Limburg gesprochen werden. Von einer eigentlichen flämischen Schriftsprache kann man nur bedingt[656] reden, da sie sich, abgesehen von einzelnen spezifisch flämischen Redewendungen und Worten, von der niederländischen Schriftsprache meist nur durch einige unbedeutende Unterschiede in der Orthographie kennzeichnet. Es ist aber das Bestreben der Flamen vorherrschend, auch diese Unterschiede zu verwischen und zu einer einheitlichen »großniederländischen« Schriftsprache zu gelangen, so daß man seit den letzten Sprachkongressen von einer eigentlichen flämischen Sprache nicht mehr reden kann, wenn auch freilich die jüngste Dichterschule bekennt, ihre flämische Eigenart wahren zu wollen. Das Verhältnis der flämischen Literatur zur niederländischen ist am besten durch den Vergleich mit dem Verhältnis der süddeutschen zu der norddeutschen zu charakterisieren. Die Wechselwirkung zwischen beiden ergibt ein reges literarisches Leben. Die in Belgien bald nach dessen Lostrennung von den Niederlanden (1830) hervorgerufene sogen. flämische Bewegung, als deren Vater Jan Frans Willems genannt werden darf, machte sich zuerst öffentlich 23. Okt. 1841 in der Aula der Universität von Gent geltend. Sie verfolgt die Tendenz, auf Grund der belgischen Verfassung, die keiner der beiden in Belgien gesprochenen Sprachen ein Vorrecht einräumt, der im Staatsleben wie im Unterrichtswesen und geselligen Verkehr vorherrschenden französischen Sprache durch Schrift und Wort entgegenzuarbeiten, das von den Altvordern überkommene flämische Idiom zu einer ebenbürtigen Schrift- und Volkssprache der flämischen Bewohner Belgiens zu erheben und dadurch, an die Vergangenheit anknüpfend, deren nationalen Aufschwung anzubahnen. Als die ersten Leiter und Träger dieser volkstümlichen Bewegung ist außer J. Fr. Willems (1793–1846) Philipp Blommaert (1809 bis 1871) zu nennen; ihre Bestrebungen fanden durch Gelehrte und Publizisten, wie F. H. Mertens (1796–1867), J. B. David (1801–66), J. H. Bormans (1801–78), C. P. Serrure (1805–1872), F. A. Snellaert (1809–72), J. F. J. Heremans (1825–1884), Max Rooses (geb. 1839), Paul Fredericq (geb. 1850) u. a., kräftige Unterstützung, und ihnen schloß sich bald eine Schar von Lyrikern, Romanzendichtern und Novellisten an. Im übrigen wird die flämische Bewegung, die 1856 durch Ausstellung eines einheitlichen Programms eine besondere Festigung erhielt, durch zahlreiche literarische Vereine aufrecht erhalten. Obwohl die Regierung das Streben der »Vlamingen« lange Zeit mit ungünstigen Augen ansah, mußte sie deren Forderungen, die in den gesetzgebenden Versammlungen oft warme Unterstützung fanden, in Gesetzvorlagen und Verwaltungsmaßregeln doch manches einräumen. Die größten Errungenschaften der flämischen Bewegung sind die drei von der Regierung erlassenen Sprachgesetze von 1873,1878 und 1883. Unter den ältern flämischen Dichtern und Schriftstellern, die besonders zur Stärkung des Nationalgefühls der Vlamingen beigetragen haben, sind vor allem zu nennen der fruchtbare Prudens van Duyse (1804 bis 1859); ferner Theodor van Rijswijck (1811–1849), der nach einem unsteten, sorgenvollen Leben im Irrenhaus endende Sänger trefflicher Volkslieder; Willems Kampfgenosse K. L. Ledeganck (1805–1847); der gefühlsinnige Jan van Beers (1821–1888); ferner J. M. Dautzenberg (1808–69), Jakob de Laet (1815–91) und P. F. van Kerckhoven (1818–57). An Popularität überragt aber alle die Genannten der zu europäischer Berühmtheit gelangte Hendrik Conscience (1812–83), der meisterhafte und unerreichte Schilderer flämischen Volkslebens, der in den beiden Brüdern Johan und Aug. Snieders begabte Nachahmer fand. Von den spätern Dichtern wird Guido Gezelle (1830–99) als der bedeutendste aller flämischen Poeten gepriesen. Neben ihm zu nennen sind der Lyriker Em. Hiel (1834–99), die hauptsächlich als Romanschriftstellerinnen bekannten Schwestern Rosalie Loveling (1834–75) und Virginie Loveling (geb. 1836), Jan van Droogenbroeck (geb. 1835), Julius Vuylsteke (geb. 1836), G. Th. Antheunis (geb. 1840), F. Teirlinck (geb. 1851), Victor dela Montagne (geb. 1854), Pol de Mont (geb. 1859), Prosper van Langendonck (geb. 1862), Cyriel Buysse, August Vermehlen (geb. 1872) und Victor de Meijere (geb. 1873). Auch auf dem Gebiete des Dramas haben die Flamen bedeutende Leistungen aufzuweisen, wie Nestor de Tière und die auch als Lyriker hervorragenden Albrecht Rodenbach (1856 bis 1880) und Alfred Hegenscheidt (geb. 1866). Der vorzüglichste der gegenwärtigen flämischen Prosaisten ist Stijn Streuvels (eigentlich Frank Latour, geb. 1867). – Grammatiken der flämischen Sprache lieferten van Beers, Heremans, Verstraeten und Doms (Köln 1878). Ein »Fransch-Nederlandschen Ned. – Fransch Woordenboek« veröffentlichte Heremans (Antwerp. 1865–68, 2 Bde.), ein »Bastaardwoordenboek« schrieb Jan Broeckaert (Gent 1895). Für die flämische Volkssprache verfaßte L. de Bo ein »Westvlaamsch Idioticon« (Brügge 1870–73; 2. Aufl., Gent 1892), Schuermans ein »Algemeen vlaamsch idiotikon« (Löw. 1865–70). Vgl. Vandenhoven, La langue flamande, son passé et son avenir (Brüss. 1844); Höfken, Vlämisch-Belgien (Brem. 1847, 2 Bde.); Ida v. Düringsfeld, Von der Schelde bis zur Maas. Das geistige Leben der Vlamingen (Leipz. 1861, 3 Bde.); Scheler, Histoire des langues (in »Patria belgica«, Bd. 3); Jagemann, Die Stellung der Niederdeutschen in Belgien (Berl. 1876); Coopman und Montagne, Onze dichters (Antwerp. 1880); Dannehl, Anthologie jungvlämischer Dichtungen (Wolfenb. 1885); Stech er, Histoire de la littérature néerlandaiseen Belgique (Brüss. 1887); Coopman und Scharpé, Geschiedenis der vlaamsche letterkunde (seit 1830, Antwerp. 1900ff.); »Vlaamsche bibliographie« von Snellaert und de Potter (Gent 1857–68, 3 Bde.; Bd. 4, bis 1890, das. 1903); A. Prayon van Zuylen, De Belgische taalwetten (das. 1892). Vgl. ferner das biographisch-anthologische Werk »Nederlandsche Letterkunde« von D. de Groot, L. Leopold und R. Rijkers (8. Aufl., Groningen 1901, 2 Tle.), in dem bereits die Flamen mit den Niederländern vereint sind, ebenso Otto Hausers »Die niederländische Lyrik von 1875–1900. Eine Studie und Übersetzungen« (Leipz. 1901). Seit 1903 besitzen die flämischen Schriftsteller ein eignes Organ: »Vlaanderen«, nachdem die bereits 1893 von der jungflämischen Dichterschule gegründete Monatsschrift »Van Nuen Straks« eingegangen war.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 656-657.
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