Chinesische Sprache und Literatur

[59] Chinesische Sprache und Literatur. Die chinesische Sprache gehört zu der großen Familie der Indochinesischen Sprachen (s.d. und die »Sprachenkarte« nebst Textblatt). Unter diesen ist sie nicht bloß die größte und wichtigste, da sie von etwa einem Viertel der ganzen Menschheit gesprochen wird, auch in Japan, Korea und Anam Kultursprache ist und eine der ältesten und wahrscheinlich die größte Literatur der Welt hat: sie ist zugleich auch diejenige, die den Charakter ihrer Sprachrasse, das Streben nach Einsilbigkeit und Isolierung, am schärfsten ausgeprägt darstellt; denn wenigstens in ihrer ältern Gestalt kennt sie fast nur einsilbige Wörter und vermag deren grammatische Werte, ihre Anwendung als Substantiva, Adjektiva, Verba etc. und das, was unsre Sprachen durch Beugungen auszudrücken pflegen, nur durch Wortstellungsgesetze und selbständige Hilfswörter kenntlich zu machen. Gleichwohl zeigt sie schon in ihrer ältesten Form deutliche Reste von alter Agglutination, dem mutmaßlich ältesten Zustande der indochinesischen Sprachen, ja sogar von Flexion, und sie hat sich diesem Zustand im Lauf ihrer historischen Entwickelung wiederum genähert: der Gebrauch von Zusammensetzungen statt der Monosyllaben und die Anwendung der Hilfspartikeln hat mehr und mehr überhand genommen, die Stellung ist freier geworden, und so kann das heutige Chinesisch beinahe schon eine agglutinierende Sprache genannt werden. Zugleich mit diesen Veränderungen sind dann alte Ausdrücke außer Kurs geraten oder zu andern Bedeutungen gekommen, und namentlich hat sich das Lautwesen zu der jetzigen Ärmlichkeit abgeschliffen.

Das Chinesische zerfällt in eine Menge Dialekte, die sich weniger grammatisch als lautlich und lexikalisch oft sehr erheblich, ja bis zu völliger gegenseitiger Unverständlichkeit voneinander unterscheiden. Man zählt ihrer bis jetzt etwa 10 größere, deren jeder aber[59] eine Anzahl Unterdialekte hat. Die wichtigsten sind: 1) das Kuānhoá (Beamtensprache), im nördlichen China, südlich bis über den Jangtse hinausreichend, mit einer nördlichen, südlichen und westlichen Unterabteilung; 2) die Mundarten der Provinz Tschekiang, ihre bekannteste die von Schanghai; 3) die Mundarten der Provinz Fukien und 4) die der Provinz Kuangtung. Von diesen ist das Kuānhoá, und zwar jetzt mehr und mehr in seiner Pekinger Form, zugleich die Umgangssprache der Gebildeten (daher sein Name), das »Hochchinesische«; es wird in Werken der leichten Literatur auch als Schriftsprache gebraucht. Der Stil der ernstern Literatur ist aber noch immer der kurze, markige alte Buchstil (Kùwên), an den sich die in amtlichen Schriftstücken gebrauchte Amtssprache anlehnt. Was das Lautsystem im Chinesischen betrifft, so sind die Vokale a, e, i, o, u, ü und ï (ein dumpfes e oder i), wozu noch mundartlich manche Zwischenschattierungen kommen, wie a, a, o etc. Sie können in einer Silbe (Stammworte) bis zu vieren gehäuft werden, z. B. ai, iü, iua, iuei. Die Konsonanten dagegen treten stets einzeln auf: im Anlaut k, kh, h; p, ph, f; t, th; tsch, tschh; ts, ths; l, m, n; s, sch, j ( = weich sch); ng, w (wie im Englischen), y; dialektisch auch g, b, dsch, d; im Auslaut n, ng; überdies in den Dialekten m, p, k, t. Dazu kommt im Kuānhoá noch eine selbständige Silbe, die aus einem vokalisierten r, etwa örr gesprochen, besteht. Es ergibt sich daraus, wie arm die Sprache an Silben sein muß; im Kuānhoá zählt man deren kaum 500. Die südlichen Dialekte sind zwar hierin reicher (der von Kanton besitzt etwa 700, der von Fukien gegen 850 verschiedene Silben); allein was will das besagen gegenüber dem Wortbedürfnis eines Kulturvolkes? Da helfen nun die sogen. Tonakzente ab, d. h. Stimmbiegungen, die nicht wie bei uns rhetorisch sind, sondern dem Wort untrennbar anhaften und nur nach bestimmten Gesetzen modifiziert werden können. Das Kuānhoá kennt deren vier oder fünf: den gleichen (meist wieder in hohen- und tiefen∧ geschieden), den steigenden `, den fallenden ' und den kurzen ∪; die übrigen Mundarten haben bis zu neun davon. So bedeutet also z. B. tschī wissen, tschì Finger, tschí wollen, tschĭ aufrecht. Dadurch ist die Zahl der Silben auf das Vier- bis Neunfache vermehrt; da aber fast eine jede von ihnen noch viele andre Bedeutungen haben kann, so bleiben dennoch Mehrdeutigkeiten genug übrig, und ohne den steten Gebrauch zusammengesetzter, mehrsilbiger Ausdrücke würde das Kuānhoá seinem Zweck als Konversationssprache nicht genügen können. Die Grammatik des Chinesischen ist in ihren Elementen sehr einfach. Die Wörter sind im allgemeinen nicht nach Redeteilen geschieden, sondern fast ein jedes kann für mehrere Redeteile gebraucht werden. So kann das Wort ngān entweder Substantiv (Ruhe) sein, oder Adjektiv (ruhig), oder transitives oder intransitives Verbum (beruhigen oder ruhig sein), oder Adverbium (beständig); immer ist es dasselbe Wort, und es bleibt auch unverändert, ob es als Substantivum im Genitiv, Dativ etc., als Adjektivum im Komparativ oder Superlativ, als Verbum im Passiv, Kausativ oder in irgend einem Modus stehe. Seine jeweilige Bedeutung und Funktion wird nur durch die Konstruktion, d. h. die Wortstellung angezeigt; erst im Satze wird es zum Individuum. Die Gesetze der Wortstellung lassen sich auf drei zurückführen: es tritt nämlich 1) das Subjekt vor das Prädikat, 2) das Objekt hinter sein Regens (aktives Verbum oder Präposition), 3) jedes Wort, das ein andres näher bestimmt, vor dieses letztere, also Genitiv, Adjektiv, Zahlwort vor das regierende Substantiv, das Adverb vor das Verbum. Diese Gesetze gelten in der Hauptsache auch für die Anordnung der Sätze selbst, und sie gestatten nur ganz vereinzelte Ausnahmen. Und doch würden sie in den meisten Fällen allein nicht hinreichen, um die Funktionen der einzelnen Satzteile erkennen zu lehren. Hier helfen vor allem die Partikeln, Hilfswörtchen verschiedener Bedeutung, welche die Konstruktion verdeutlichen; ferner, als ein ebenfalls sehr wichtiges Mittel, gewisse stereotype Wortverbindungen, z. B. zwei Synonyme, die den ihnen gemeinsamen Begriff, zwei entgegengesetzte Eigenschaftswörter, die das beiden zu Grunde liegende Abstraktum (groß-klein, soviel wie Quantität) aus drücken; dann der ganze Zusammenhang und endlich Rhythmus und Parallelismus. Die chinesische Rede- und Schreibweise ist ausgesprochen rhythmisch, dazu liebt sie die Antithese; eine Verbindung von beiden derart, daß in zwei oder mehr rhythmisch gleichgebauten und mit mehr oder mm der starken Antithesen versehenen Sätzen jeder Satzteil des einen dem entsprechenden des andern auch grammatisch genau entspricht, ergibt den Parallelismus. Diese beiden Eigentümlichkeiten des Stiles, die übrigens wohl nicht bloß psychologischen Ursprungs sind, sondern, als Gegengewichte zur Armut der Form, auch mit aus dem Grundcharakter der Sprache hervorgegangen sind, lassen nicht nur die Konstruktion oft ohne weiteres erkennen; sie geben auch, verbunden mit dem Wohllaut und der Kraft und Kürze des Ausdrucks, dem chinesischen Stil einen eignen Zauber, wie es denn die chinesischen Schriftsteller verstanden haben, stilistische Meisterwerke zu schaffen, die in den Literaturen andrer Völker ihresgleichen suchen. Von großem Wert für die richtige Übersetzung ist schließlich auch die Kenntnis der Realien, da der Chinese die Anspielungen außerordentlich liebt. Ohne sie hätte man oft die Teile in der Hand, aber das geistige Band würde fehlen. Trotz alledem ist das Chinesische nicht so schwer, wie man zu denken pflegt; das Kuānhoá vollends ist nicht viel schwieriger als eine moderne europäische Sprache.

Auch durch die Schrift braucht sich niemand abschrecken zu lassen. Die ersten Schwierigkeiten sind bei einigem Fleiß bald überwunden; was anfangs ein wüstes Wirrsal schien, löst sich nun in eine leichtfaßliche Gruppe einfacher Elemente auf, und ist man erst so weit, so wird sie eher fördernd als hemmend auf das Studium einwirken. Sie ist eine Wortschrift, d. h. jedes ihrer Zeichen bedeutet ein Wort; ihre Urbestandteile sind rohe, zuweilen symbolische Bilder, z. B. ⊙ Sonne, -oben, -unten. Dazu kamen dann symbolische Bildergruppen, z. B. zwei Bäume = Wald, zwei Weiber = Zank, Weib und Kind = Liebe, Vogel und Mund = Gesang. Alle diese Zeichen drücken nur den Begriff, aber nicht den Laut aus. Bald aber mußte man versuchen, auch diesem gerecht zu werden, und man tat dies endlich so, daß man eine Anzahl von Schriftzeichen, die nun als lautandeutende Elemente wirkten, mit andern verband, die den Sinn andeuten sollten. Soz. B. heißt das Zeichen für yêu (ausgehen von) mit dem für Herz: yêu traurig, mit dem für Flüssigkeit: yêu Öl, mit dem für Hand: schēu zerren etc. Auf diese Weise entstand die überwiegende Mehrzahl der mehr als 40,000 chinesischen Schriftzeichen, von denen man aber nur etwa 3–4000 zu kennen braucht (vgl. Tafel »Chinesische Kultur II«, Fig. 19). Auch die Wörterbücher legen diese Klasse zu Grunde, indem sie die Zeichen unter die[60] 214 gewöhnlichsten dieser sinnangebenden Elemente, die sogen. Klassenhäupter, unterordnen. Was das Alter der chinesischen Schrift angeht, so kommt sie ziemlich entwickelt schon wenigstens im 16. Jahrh. v. Chr. auf Inschriften vor; nach einer Reihe von Formveränderungen gewann sie ihre jetzige Gestalt durch Erfindung des Papiers und Verbesserung des Pinsels um die Wende unsrer Zeitrechnung, und ebenso alt ist auch die im Geschäftsverkehr übliche »Grasschrift« (thsào), eine schwer zu lesende Art Tachygraphie. Wir Europäer verdanken unsre ersten genauern Kenntnisse des Chinesischen den katholischen Sendlingen, von denen einer, der Spanier P. Varo, 1703 die erste Grammatik veröffentlichte. Die Feinheiten des Stiles hat zuerst Prémare erschlossen; eingehende, freilich ganz unsystematische Erörterungen verdanken wir Stanislas Juli en, während W. Schott das Verdienst gebührt, zuerst die Sprache ihrem Wesen entsprechend grammatisch dargestellt zu haben, ein Unternehmen, das dann G. v. d. Gabelentz in glänzender Weise fort- und durchgeführt hat. Bazin in Paris und Edkins in Schanghai haben Grammatiken des Kuānhoá geliefert. Wichtigste Wörterbücher: von Basilé de Glemona [Deguignes] (Par. 1813), Morrison (Macao 1815–23, Schanghai 1865), Gonçalves (Macao 1831–41), Medhurst (Batavia, 1812–43), Lobscheid (Lond. 1866ff., 1871), W. Williams (Schanghai 1874), Eitel (Hongkong 1877–83), Giles (Lond. 1892), Seidel (deutsch-chinesisch, Berl. 1901ff.); Welzel (deutsch-chin. Taschenwörterbuch, das. 1902). Neuere Grammatiken: von Rémusat (Par. 1822–57), Prémare (Malakka 1831, Kanton 1847), Bytschurin (Petersb. 1838), Endlicher (Wien 1845), Bazin (Par. 1856), Edkins (Schanghai 1857), Schott (Berl. 1857), Summers (Oxford 1863), Julien (Par. 1869–70), G. v. d. Gabelentz (»Chinesische Grammatik«, Leipz. 1881, und »Anfangsgründe der chinesischen Grammatik«, das. 1883). Hierzu kommen zahlreiche Werke über einzelne Dialekte und rein praktische Hilfsbücher, so von Wade (Schanghai 1888), Mateer (das. 1892), v. Möllendorff (2. Aufl., Berl. 1891), Arendt (das. 1892 u. 1894), Piry (Schanghai 1895), Gourdet (Hongkong 1896) u. a. Die Amtssprache haben Wade und Hirth (Schanghai 1888, Textbook, das. 1885,1888, 2 Bde.) bearbeitet.

Die chinesische Literatur.

Unsre Kenntnisse der chinesischen Literatur befinden sich noch immer in den Anfängen, und doch handelt es sich um ein Feld von fast unermeßlichem Umfang, schon wenn man die Bändezahl, und von vielversprechender Fruchtbarkeit, schon wenn man die Vielseitigkeit dieser Literatur betrachtet. In beidem steht sie unstreitig in der ersten Reihe der Weltliteratur. Ist sie doch auch seit etwa vier Jahrtausenden von dem zahlreichsten Kulturvolk der Erde und unter den günstigsten Umständen gepflegt und gemehrt worden. Literarische Bildung wurde fast immer von oben gefördert, vom Volke bewundert und erstrebt; seit dem 10. Jahrh. werden die Bücher durch Druck, oft zu Spottpreisen, der Menge zugänglich gemacht.

Der Chinese ist seiner Anlage nach konservativ, und das äußert sich auch in seiner Literatur. Die Alten werden immer mit gleichem Eifer gelesen, immer aufs neue herausgegeben, kommentiert und nachgeahmt. Da hat denn freilich das Neue, Originelle einen schweren Stand. Allgemeines Mißtrauen, oft selbstgenügsame Gleichgültigkeit steht ihm entgegen, die zu überwinden nur besonderm Verdienst oder Glück gelingt. Dennoch sind Volk und Literatur des Mittelreichs keineswegs so langweilig uniform, so ganz der Originale bar, wie man gemeinhin glaubt. Bahnbrechende Genies haben auch hier dem Geschmack neue Richtungen gegeben, dem Denken neue Gebiete erschlossen, und gerade uns Europäern werden die leichte Anmut, die Lebensfrische und Lebenswahrheit mancher Erzeugnisse der neuern Belletristik mehr zusagen als manches hochgefeierte Werk der alten Weisen.

Die Chinesen stellen unter ihren Büchern die fünf King (die »kanonischen«) obenan. Sie sind eine Sammlung derjenigen alten Schriften, die man als ewig normgebende anerkannt hat. Für das erste unter ihnen wieder wird das Yihking oder »Buch der Wandlungen« gehalten, ein seltsames Werk, denn es besteht aus den 64 sogen. Hexagrammen, d. h. sechsstelligen Kombinationen der ganzen und gebrochenen geraden Linie, als »Text« und mehreren Kommentaren, deren ältester aus dem 12. Jahrh. v. Chr. stammt. Es wird von alters her als der Inbegriff aller Weisheit mit großer Ehrfurcht betrachtet, wenn auch nicht verstanden, und ebenso seit alters auch zum Wahrsagen benutzt. Seine Bedeutung ist noch nicht einwandfrei erklärt; einige Wahrscheinlichkeit hat die Hypothese, daß die Hexagramme alte Schriftzeichen seien und es selber ein Handbuch der Staatsmoral in Stichworten. Das Schiking, meisterhaft übersetzt von V. v. Strauß (Heidelb. 1880), ist eine von Confucius veranstaltete Sammlung lyrischer Gedichte, deren älteste aus dem 18. Jahrh. v. Chr. herrühren. Das Buch enthält teils Volkslieder, nach ihren Heimatsprovinzen geordnet, teils Gelegenheits- und Festgedichte aus den höhern und höchsten Kreisen, teils Lobgesänge auf große Tote. Tiefe Innigkeit, zuweilen beißender Witz, oft hoher poetischer Schwung sind diesen Erzeugnissen eigen, dazu rührende Naivität und sinniges Verbinden der Natureindrücke mit den innern Stimmungen: das alles verleiht ihnen einen ästhetischen Reiz, der das ihnen gebührende wissenschaftliche Interesse noch überbietet. Das leider nicht mehr vollständig erhaltene SchuBuch«) oder Schuking, ein von Confucius gefertigter Auszug aus amtlichen Urkunden, ist das älteste uns erhaltene geschichtliche Werk der Chinesen. Es umfaßt die Zeit vom 24. bis zum 8. Jahrh. v. Chr., enthält aber weniger geschichtliche Daten als amtliche Erlasse, Ratschläge etc. der Fürsten, die ein Bild alter Staatsweisheit liefern. Das Tschhünthsieu, eine überaus trockne Chronik des kleinen Staates Lu, aus dem Confucius stammte, wurde bisher für ein Werk, und zwar das einzige authentische des Meisters selber gehalten; nach der sehr plausibeln neuesten Hypothese (von Grube) stammt von diesem aber vielmehr der großartige Kommentar dazu, das Tsotschuen, her. Unter dem Ausdruck Lì fassen die Chinesen etwa das zusammen, was sich gebührt: gute Sitte, Zeremoniell, Etikette, aber, dem polizeistaatlichen Wesen der Nation entsprechend, auch sonst das Ordonnanz- und Reglementsmäßige. Das hierauf Bezügliche ist in drei Büchern gesammelt: dem von Biot übersetzten Tscheuli (angeblich aus dem 12. Jahrh. v. Chr., doch mindestens mit viel spätern Zusätzen), dem von de Harlez übersetzten Ngili, etwa aus dem 8. Jahrh. v. Chr., beides wahre Fundgruben für die Kenntnis der damaligen Kultur, und endlich dem Liki, einem lose gefügten Sammelwerk aus ältern Quellen, das noch heute in praktischem Ansehen steht und den King angereiht zu werden pflegt.

Den King als klassische Schriften zunächst stehen die Sseschu, worunter man vier kurz nach Confucius'[61] Zeit entstandene philosophische Bücher seiner Schule versteht: das kurze Tahioh (»die große Lehre«), ein Abriß der sittlichen und politischen Grundlehren; Tschungyung (etwa »das Beharren in der Mitte«), eine schön geschriebene Abhandlung über das Einhalten der rechten Mittelstraße als Norm des sittlichen Verhaltens; Lüniü (»Gespräche«), eine Auszeichnung von Aussprüchen des Confucius, meist in Form kurzer Zwiegespräche, bei aller Trockenheit doch reich an trefflichen Kernsprüchen des Weisen über sittliche und Lebenswahrheiten. Von verwandtem Inhalt, aber von belebterm Stil ist das vierte, das Buch des Mengtse (s.d.), der nach heutiger Ansicht der hervorragendste Jünger des großen Meisters war. Das Buch, das einzelne seiner Unterredungen wiedergibt, ist dank der Anmut und der verhältnismäßigen Leichtigkeit seines Stiles wie kaum ein zweites geeignet, uns in das Studium der altchinesischen Literatur einzuführen. Beste Übersetzung der King und Sseschu von LeggeThe Chinese classics«, bisher 8 Bde., Lond. 1861ff.; 2. Aufl. 1893ff.).

Dem Jugendunterricht, der zunächst als Vorstufe zur weitern humanistischen Bildung, d. h. zum Verständnis der Sseschu und der King, dienen soll, dienen als wahre Elementarbücher vor allen das SantsekingDrei-Wort-Kanon«) und das ThsientsewenTausend-Wort-Lehre«), gereimte Büchlein, die, auswendig gelernt und nachgeschrieben, den Schüler in die Lese- und Schreibekunst einführen. Das SiaohioKleine Lehre«) enthält Verhaltungsregeln, das Hiaoking (»Pietätskanon«) die Lehre von den kindlichen Pflichten. Für den Unterricht der Mädchen sind analoge Werkchen im Gebrauch.

Das Zeitalter, das Confucius und seine Religion oder richtiger Moralphilosophie hervorbrachte, erzeugte noch eine Anzahl andrer Philosophen. So vor allem Laotse (s.d.), der, ein etwas älterer Zeitgenosse des Confucius, im Gegensatze zu diesem, dem nüchternpraktischen Staatsmann, ein Theosoph von der tiefsinnigsten Mystik war. Sein wohl mit Unrecht von einigen für eine spätere Kompilation gehaltenes Taoteking, der Kanon vom Tao und der Tugend, dessen Worte von Stanislas Julien, dessen Geist von Viktor v. Strauß gedeutet worden, steht innerhalb der chinesischen Literatur fast vereinzelt da. Selbstbefreiung, der Weltvernunft ähnlich werden, ist das Ziel des menschlichen Lebens und Strebens. Von den übrigen, die sich teils eng an ihre großen Vorbilder anschmiegen, teils deren Lehren weiterzubilden, mitunter zu verbessern suchen, verdienen hervorgehoben zu werden der geistvolle Tschuangtse, ein Anhänger Laotses, und Sün King, der in direktem Gegensatze zu seinem Meister Confucius die menschliche Natur für ursprünglich böse hält. Dennoch wird auch er noch zu den orthodoxen zehn Philosophen gerechnet. Dagegen werden zwei selbständige Denker schlechthin als Irrlehrer gebrandmarkt und von Mengtse erbittert bekämpft: Mihtih, der Apostel der allgemeinen Menschenliebe, und, mit mehr Recht, der Verfechter des nacktesten Egoismus, Yang Tschu. Übersetzung des Tschuangtse u. a. von Legge, Band 39 und 40 der »Sacred Books of the East«. Vgl. M. v. Brandt, Die chinesische Philosophie und der Staats-Confucianismus (Stuttg. 1898).

So reich es auch ist, was uns von dieser alten Literatur erhalten blieb, es sind doch nur große Trümmer. Denn um 200 v. Chr. hieß Kaiser Schihoangti bei Androhung harter Strafe alle vorhandenen Bücher, mit Ausnahme des Yihking und einiger andern, verbrennen; 460 Gelehrte starben damals den Märtyrer tod. Was dieser Verheerung entging, ist im Verhältnis zu dem Verlornen sehr wenig, und manches, das nachmals aus der Erinnerung alter Leute wieder auf gezeichnet wurde, ist entschieden lücken- und fehlerhaft auf uns gekommen. Der Textkritik und Interpretation ist damit ein Feld geöffnet, das seitdem von den chinesischen Kommentatoren mit namenlosem Fleiß, vielfach mit großer Umsicht bebaut worden ist. Unter den Meistern in diesem Fache gebührt dem Tschu Hi (gest. 1200 n. Chr.), dem »Fürsten der Literatur«, der erste Rang. Tschu Hi begnügte sich aber nicht mit der Kritik und Auslegung vorhandener Texte, sondern faßte auch das ganze Wissen und Glauben seiner Zeit zu einem großartigen System, dem Singli, zusammen, das nichts Geringeres bedeutet als eine Dogmatisierung des Confucianismus. Sein Werk, das er auch mit Erfolg popularisierte, ist mustergültig geblieben, und nicht zum wenigsten ihm ist jene starre konservative Richtung des spätern Chinesentums zuzuschreiben. An die Schule des Laotse hat sich unter dem Namen Taosse eine religiose Sekte angelehnt, deren Lehre mit jener ihres Meisters nur wenig mehr zu schaffen hat. Ihre Bücher, soweit wir von ihnen Kunde haben, sind teils moralischen, teils toll abergläubischen Inhalts. Die religiösen Schriften der Buddhisten sind für uns wertvoll, teils weil sie die Entwickelung dieses Glaubens in China abspiegeln, teils weil sie manches im indischen Urtext verloren gegangene Werk aufbewahrt haben. Näheres über sie gehört in die Geschichte des Buddhismus (s.d.).

Das Studium der alten Schriftsteller erheischt das ihrer Sprache, die Richtigstellung und Erklärung der Texte setzt eine Philologie voraus. In dieser Wissenschaft haben die Chinesen Erhebliches geleistet. Die grammatische Bearbeitung ihrer Sprache tritt freilich mehr zurück, aber ihre Wörterbücher sind um so bedeutender, das größte davon umfaßt 237 Bände. Dazu kommen Werke über alte Schriftzeichen und Inschriften, über die Aussprachen der verschiedenen Dialekte, über auffallende Sprachgebräuche einzelner Schriftsteller, endlich Wörterbücher, ja sogar Grammatiken der mongolischen, mandschurischen und noch mancher andrer Sprachen. Bis zu einer vergleichenden Linguistik in unserm Sinne hat man es nicht gebracht. Die chinesische Geschichtschreibung kann, was Vollständigkeit und Zuverlässigkeit des Erzählten betrifft, mustergültig genannt werden, nicht aber hinsichtlich ihrer Darstellungsweise. Der trockne Annalenton des »Tschhünthsieu« (s. oben) klingt fast überall nach, allenfalls gewinnt das Erzählte durch tieferes Eingehen in Einzelheiten an Lebendigkeit; fast überall aber bleibt ein übersichtliches Bild der jeweiligen Zustände und ein klares Entwickeln der Ereignisse aus diesen zu vermissen. Seit der Dynastie Hia (2207–1767) besteht bis auf den heutigen Tag das Amt der Reichsgeschichtschreiber, und die Vasallenfürsten unterhielten für ihre Staaten ähnliche Ämter. Die damit betrauten Männer, jetzt das ganze Hanlin-Kollegium, scheinen stets eine Unabhängigkeit genossen zu haben, die Vertrauen in die Wahrheit ihrer Berichte erweckt. Durch den großen Bücherbrand ist natürlich, was sich bis dahin von jenen Quellen erhalten hatte, vollends zu Grunde gegangen. Das Sseki des Ssematsien aus dem 1. Jahrh. v. Chr. ist nächst dem Schuking und dem Tschhünthsieu das wichtigste Werk für Chinas ältere Geschichte. Der Verfasser hat mit unendlichem Fleiß die vorhandenen Urkunden, Denkmäler und Sagen durchforscht, um so ein Werk zu schaffen, das[62] die geschichtliche und z. T. auch die soziale Entwickelung von beinahe dritthalb Jahrtausenden, vom Kaiser Hoangti bis 122 v. Chr., darzustellen sucht. Seine Anordnung des Stoffes in fünf Teile gilt noch heute der offiziellen Geschichtschreibung als Muster. Das Sseki, von dem Chavannes eine vortreffliche kommentierte Übersetzung gibt (Par. 1895–1901, bis jetzt 4 Bde.), eröffnet die Reihe der sogen. »vierundzwanzig Geschichtswerke«, d. h. der Reichsannalen. Die nächstfolgenden Werke sind Privatarbeiten; seit dems. Jahrh. n. Chr. aber besteht die Einrichtung, daß jede Dynastie amtlich die Geschichte der vorhergehenden bearbeiten läßt. Neben diesen Werken gibt es dann noch die Geschichten einzelner Lehnsreiche und Provinzen und eine Menge z. T. sehr umfangreicher Privatarbeiten, unter denen das »Thungkien« des Ssema Kuang und seiner Nachfolger für das bedeutendste gilt.

Was wir von den Leistungen der Chinesen auf den Gebieten der Lände r- und Völkerkunde, der Naturgeschichte und Medizin und andrer Erfahrungswissenschaften kennen, ist wohl durchweg mehr beschreibend als systematisch gehalten. Der Wert der einschlägigen, z. T. sehr umfangreichen Werke beruht in der Art, wie die Tatsachen beobachtet und erzählt, nicht wie sie erklärt werden. Die Berichte chinesischer Reisenden über benachbarte Länder aber versprechen eine wahrhaftunschätzbare Ausbeute, desgl. die Schriften über Ackerbau und Gewerbe. Den uns nur wenig bekannten Werken der Gesetzgebung und Rechtswissenschaft wird Übersichtlichkeit und logische Konsequenz nachgerühmt. Überaus beliebt sind die Enzyklopädien, und wissenschaftliche Köpfe ersten Ranges haben es sich angelegen sein lassen, solche Universalwerke zu verfassen. Obenan unter diesen Enzyklopädisten steht Ma Tuanlin (1245–1322), ein Mann von umfassendem Wissen und seltener Arbeitskraft, mit seinem »Wenhienthungkhao«, einem Riesenwerk von 348 (chinesischen) Bänden. Es ist durch zwei über 300 Hefte haltende spätere Nachträge bis ins 18. Jahrh. weitergeführt. Teile davon hat d'Hervey-Saint-Denys übersetzt (Par. 1875 u. 1883, 2 Bde.). Mit zahlreichen Abbildungen versehen, aber kaum ein Sechstel so groß ist das »Santsaithuhoei«, wahrscheinlich in Japan mehr verbreitet als in seinem Vaterlande. Die wegen der enormen Kosten nie gedruckte größte Enzyklopädie Chinas (und der Welt), das von über 2000 Gelehrten im 15. Jahrh. kompilierte riesenhafte »Yunglotatien« in 22,870 Bänden ist jüngst in Peking mit verbrannt.

Poetische Werke gehören nach chinesischer Auffassung nur dann zur höhern Literatur, wenn sie in gebundener Rede verfaßt sind. Was die Chinesen in dieser Gattung geschaffen haben, mag unzählbar sein: rechnen sie doch Versemachen zu den notwendigen Künsten des Mannes von Bildung. Was wir davon außer dem »Schiking« kennen, ist jedenfalls verschwindend wenig. Ihren höchsten Aufschwung nahm die Kunst der Lyrik unter der Dynastie Thang (618–906); damals blühten neben vielen andern nicht unbedeutenden Dichtern die beiden berühmtesten Meister, Tu Fu und Li Thaipeh (s.d.). Die Chinesen sind Naturfreunde, und so lieben sie es auch, die Natur bis zu ihren kleinsten Erscheinungen dichterisch zu behandeln, oft den Gegenstand des Liedes sinnig zu eignen Schicksalen und Seelenzuständen in Beziehung setzend. Sie dichten in Reimen, und ihre Versmaße sind nicht nun der mannigfaltig als die unsrigen. Die herrschende Vorliebe für allerlei uns fremde Anspielungen macht das Studium ihrer Dichtungen zu einem äußerst schwierigen. Von manchen Erzeugnissen der Lyrik haben wir Übersetzungen (z. B. Forke, Blüten chinesischer Dichtung, Magdeb. 1899; Imbault-Huart, Par. 1886 u. 1892). Wenig entwickelt ist nach unsern Begriffen die wohl aus Indien importierte dramatische Kunst. In den Bühnenstücken, deren einige uns in Übersetzungen und Bearbeitungen vorliegen, zeigt sich öfters Geschick in der Entwickelung spannender Situationen. Vgl. R. v. Gottschall, Theater und Drama der Chinesen (Bresl. 1887). Letzteres gilt auch von manchen Romanen. Die Bücher dieser Art sind sämtlich in Prosa geschrieben. Wir kennen deren drei Hauptarten: den märchenhaften Roman, in dem die Ereignisse von Dämonen und Feen geleitet werden, den historischen und den bürgerlichen oder Familienroman. Einzelne Werke der letztern Gattung haben auch in Europa Beifall gefunden und das mit Recht, denn nirgends wird man so lebenswarme Schilderungen des chinesischen Treibens und Denkens finden wie hier. Wir erinnern z. B. an das Jükiaoli (»Geschichte der beiden Cousinen«), die Rémusat und Julien, und an das Haokieutschuan (»Die glückliche Vereinigung«), die Davis u. a. übertragen haben. Daß Liebe und Heirat in den Lustspielen und Romanen der Chinesen nicht die Alleinherrschaft ausüben, die man ihnen bei uns gönnt, darf nicht wundernehmen; eher, daß wir auch hier nicht selten einer wahrhaft reinen Liebe begegnen. Die endliche Beförderung eines lange verkannten oder unterdrückten Talents zu einer höhern Stelle befriedigt freilich den Sinn des chinesischen Lesers ebensosehr wie uns eine schwer erkämpfte Ehe.

Die Chinesen bedienen sich zum Druck ihrer Bücher des Holzschnittes. Sie bedrucken nur eine Seite ihres dünnen Papiers. Die Blätter werden in der Mitte zusammengefalzt, und der Falz, auf dem Titel, Heft- und Blattzahl, oft auch die Überschrift des Kapitels oder Buches stehen, bildet die äußere Seite des Blattes. An der entgegengesetzten Seite ist das Buch geheftet. Die innere Einrichtung ist der unsern fast gleich. Minder sorgfältige Drucke entbehren der Interpunktionen. Vgl. außer den oben bereits angeführten Werken: Abel Rémusat, Essai sur la langue et la littérature chinoises (Par. 1811); Davis, The poetry of the Chinese (2. Aufl., Lond. 1870); Bridgman, Chinese chrestomathy (Macao 1841); Schott, Entwurf einer Beschreibung der chinesischen Literatur (Berl. 1854); Derselbe, Verskunst (das. 1857); A. Wylie, Notes on Chinese literature (Schanghai 1867); H. Giles, History of Chinese literature (Lond. 1901); Conrady, Sprache, Schrift und Literatur der Chinesen (in Kürschners »China«, Leipz. 1902); Derselbe, Chinas Kultur und Literatur (das. 1903); endlich vor allen Grube, Geschichte der chinesischen Literatur (das. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 59-63.
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Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818

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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

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