Richelieu [3]

[899] Richelieu (spr. risch'ljö), 1) Armand Jean Duplessis, Herzog von, berühmter franz. Staatsmann, geb. 5. Sept. 1585 in Paris, gest. 4. Dez. 1642, aus einer Adelsfamilie des Poitou, erhielt schon im Alter von 22 Jahren das in seiner Familie erbliche Bistum Luçon. 1614 von der Geistlichkeit von Poitou als Deputierter zu der Versammlung der Generalstaaten ab geschickt, setzte er sich bei der Regentin Maria von Medici in Gunst und wurde 1616 zum Mitglied des Staatsrats erhoben, in dem er als Staatssekretär das Departement des Krieges und des Auswärtigen versah. Nach dem Fall der Regentin wurde er 1617 nach Avignon verbannt, wo er sich geistlicher Schriftstellerei widmete und die »Défense des principaux points de la foi catholique« und die »Instruction du chrétien« veröffentlichte, die viel gelesen wurden. Zwischen der Partei der Königin-Mutter und des Königs brachte er den Frieden von Pont-de-Cé 10. Aug. 1620 zustande. Nach dem Tode Luynes' wurde er 1622 zum Kardinal ernannt. 1624 berief ihn Vieuville auf Wunsch Marias in das Ministerium, wo sein überlegener Geist ihm bald die unbedingte Leitung aller politischen Angelegenheiten verschaffte, zumal der schwache und unselbständige König sich ihm sklavisch unterordnete. 18 Jahre hat er Frankreich regiert. Seine äußere Politik lief darauf hinaus, Frankreich durch Schwächung der spanisch-österreichischen Macht zur ersten Macht Europas zu erheben; seine innere erstrebte vornehmlich die Konzentration aller politischen Gewalt in der Krone. Zu diesem Zweck mußte er die Kraft der eigennützigen Großen brechen und die politische Sonderstellung der Hugenotten beseitigen. Mit Mut und Ausdauer, aber auch mit rücksichtsloser Härte und Grausamkeit verfolgte er sein Ziel. Wiederholt hatte er mit Verschwörungen der Edelleute zu kämpfen, die R. aber stets durch rasche, blutige Energie zu unterdrücken wußte. Durch die Einnahme der Festung La Rochelle (28. Okt. 1628) vernichtete er die politische Macht der Hugenotten, während er in religiöser Hinsicht ihnen keinerlei Fessel anlegte; denn obwohl überzeugter Katholik, war er doch im ganzen duldsam. Im mantuanischen Erbfolgestreit (1629–31), bei dem der Herzog von Nevers, ein französischer Vasall, beteiligt war, überschritt R., der am 21. Nov. 1629 zum ersten Minister ernannt worden, 1630 selbst als Generalissimus an der Spitze eines Heeres die Alpen, eroberte Pignerol und erlangte im Frieden von Cherasco (6. April 1631) Mantua für Nevers und die Räumung des Veltlin seitens der Kaiserlichen, denen er durch sein Bündnis mit Gustav Adolf auch in Deutschland Schwierigkeiten bereitete. Alle Versuche der auf seine Macht eifersüchtigen Königin-Mutter, den König zur Entlassung Richelieus zu bestimmen, scheiterten an der Gewalt, die dessen persönliches Erscheinen stets wieder über Ludwig ausübte. Maria, bereits des Sieges gewiß, sah sich nach einer Unterredung Richelieus mit dem König plötzlich von diesem verlassen (journée des dupes, 11. Nov. 1630). Nun zog R., der zum Pair, Herzog und Gouverneur der Bretagne erhoben wurde, viele ihm feindlich gesinnte Große gefänglich ein und ließ sie durch gefügige Gerichtskommissionen zum Tode verurteilen oder des Landes verweisen. Maria und des Königs Bruder Orléans flüchteten nach Brüssel, und der Versuch eines bewaffneten Einfalls von da scheiterte an dem Siege Richelieus bei Castelnaudary; hierbei wurde der letzte Montmorency gefangen und 1632 hingerichtet. Daneben verfolgte R. unermüdlich das Ziel der Schwächung Österreichs, dessen Feinde in Deutschland er mit Geld unterstützte, bis er seit 1635 offen am Kriege teilnahm. Zu demselben Zweck erklärte er 1635 Spanien den Krieg. Die Katalonier wurden von ihm gegen Spanien aufgereizt und die Thronbesteigung des Hauses Braganza in Portugal befördert. Auch gab er der französischen Kolonisation in Amerika und Afrika einen mächtigen Aufschwung. Der König ertrug die Herrschaft des allmächtigen Ministers mit steigendem Widerwillen. Als aber sein Günstling Cinq-Mars 1642 mit des Königs Wissen eine Verschwörung zum Sturz des Kardinals anzettelte[899] und mit Spanien zu diesem Zweck einen geheimen Vertrag schloß, zwang R. Ludwig XIII., die Verschwörer preiszugeben, und ließ Cinq-Mars und dessen Freund de Thou hinrichten. Seine Güter vererbte R. auf seinen Neffen Armand Jean Wignerod. R. hat die von Heinrich IV. geplante Erhebung Frankreichs zur leitenden Macht in Europa verwirklicht und zugleich das System des königlichen Absolutismus im Innern, mit Vernichtung aller Sondergewalten, durchgeführt. Klerus, Parlamente, Adel behielten ihre Vorrechte nur insoweit, als diese nicht der Allmacht der Krone im Wege standen. Freilich stellte er so die Krone unmittelbar den Regungen volkstümlichen Unwillens gegenüber. Auch die geistigen Bestrebungen wurden zentralisiert. Die französische Kirche beherrschte er unbedingt, aber zu ihrem Vorteil: er hauchte ihr neues Leben ein und gab ihr auch das geistige Übergewicht über die Hugenotten. 1635 gründete er die französische Akademie, um die Sprache von obenher zu reglementieren und die Literatur offiziell zu leiten. Übrigens beförderte R. Wissenschaften und Künste und baute das Palais-Cardinal, das er dem König vermachte, und das seitdem Palais-Royal hieß. Außer seinen theologischen Schriften sind von ihm bekannt: »Histoire de la mère et du fils« (Amsterd. 1730, 2 Bde.), deren Echtheit ohne Grund bestritten wird; die aus dem Staatsarchiv von Petitot herausgegebenen »Mémoires«, die von 1624 bis 1638 reichen und sich in den »Mémoires relatifs a l'histoire de la France« (Par. 1823, Bd. 7 u. 8) abgedruckt finden; das »Testament politique du cardinal de R.« (das. 1764, 2 Bde.), dessen Echtheit bestritten wird; »Journal du cardinal de R.« (Amsterd. 1664, 2 Bde.), das ohne Zweifel unecht ist. Seine KorrespondenzLettres, instructions diplomatiques, etc.«, 1853–77, 8 Bde.) ist von Avenel publiziert. Vgl. Leclerc, Vie du cardinal de R. (1694 u. ö.); A. Bazin, Histoire de France sous Louis XIII (2. Aufl., Par. 1846, 4 Bde.); Caillet, L'administrationen France sous le ministère du cardinal de R. (2. Aufl., das. 1860, 2 Bde.); Topin, Louis XIII et R. (3. Aufl., das. 1877); d'Avenet, R. et la monarchie absolue (das. 1884–90, 4 Bde.); Dussieux, Le cardinal de R. (das. 1885); Geley, Fancan et la politique de R. (das. 1885); L. Lacroix, R. à Luçon, sa jeunesse, son épiscopat (2. Aufl., das. 1898); Hanotaux, Histoire du cardinal de R. (das. 1893 bis 1903, Bd. 1–2); Fagniez, Le Père Joseph et R. (das. 1893–94, 2 Bde.); Perkins, R. and the growth of French power (Lond. 1900); E. Roca, Le règne de R., 1617–1642 (Par. 1906).

2) Louis François Armand Duplessis, Herzog von, Marschall von Frankreich, Sohn Armand Wignerods und Großneffe des vorigen, geb. 13. März 1696, gest. 8. Aug. 1788, wurde schon in einem Alter von 14 Jahren mit dem Fräulein v. Noailles verheiratet, kam früh an den Hof Ludwigs XIV. und machte hier bei den Damen solches Glück, daß sein Stiefvater 1711 einen Verhaftsbefehl für ihn auswirkte, der ihn 14 Monate in der Bastille festhielt. Seine Beteiligung an der Verschwörung Cellamares gegen den Regenten, dessen Genosse bei seinen Ausschweifungen er war, brachte ihn 29. März 1719 zum drittenmal in die Bastille und dann in die Verbannung nach Conflans. Aber dem jungen Ludwig XV. empfahl er sich als Helfer bei allen dessen Liebesabenteuern. Er wurde 1721 Pair, 1725–29 Gesandter in Wien, 1734 Mitglied der Akademie der Inschriften und schönen Wissenschaften, nahm am Kriege gegen Österreich teil und avancierte 1744 zum Generalleutnant. 1748 übernahm er das Kommando zu Genua und bewies hier solche Tapferkeit, daß die Genuesen bei dem König seine Erhebung zum Marschall von Frankreich für ihn auswirkten. 1756 entriß er den Engländern Menorca; 1757 zum Oberbefehlshaber der französischen Armee in Hannover ernannt, zwang er zwar den Herzog von Cumberland zur Konvention von Kloster-Zeven, verlor aber dann die Zeit mit Ausschweifungen und schamlosen Plünderungen, wurde 1758 aus Hannover vertrieben und vom Heer abberufen. Von nun an trat er vom öffentlichen Leben zurück. Im Alter von 84 Jahren vermählte er sich 1780 zum drittenmal mit Frau de Rooth, der Witwe eines Irländers. Bei aller Gewandtheit und unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit war er doch durchaus frivol und grundsatzlos, entbehrte auch jeder politischen Einsicht und Kenntnis. Seine zweite Gemahlin, eine Tochter des Prinzen von Guise (1731 bis 1740), hatte ihm den Herzog von Fronsac und eine Tochter geboren, die sich mit dem Grafen Egmont vermählte. Die nach seinen Papieren bearbeiteten Memoiren (hrsg. von Soulavie, Par. 1793, 3 Bde.; deutsch von Heß, Jena 1790–1800, 9 Bde.; »Nouveaux mémoires du maréchal duc de R.«, hrsg. von Lescure 1869, 4 Bde.) haben zwar geschichtlichen Wert, sind aber zum Teil untergeschoben. Vgl. Faur, Vie privée du maréchal de R. (Par. 1792, 3 Bde.); Comtesse d'Armaille, La comtesse d'Egmont, fille du maréchal de R., d'après ses lettres inédites à Gustave III (das. 1890).

3) Armand Emmanuel Duplessis, Herzog von, franz. Staatsminister und Pair, Enkel des vorigen und Sohn des Herzogs von Fronsac, geb. 25. Sept. 1766 in Paris, gest. 17. Mai 1822, begab sich beim Ausbruch der Revolution nach Rußland, nahm 1790 unter Suworow mit Auszeichnung am türkischen Feldzuge teil und avancierte zum Generalleutnant. Vom Kaiser Alexander I. 1803 zum Gouverneur von Odessa ernannt, erwarb er sich große Verdienste um das Aufblühen dieser Stadt. Nach der Thronbesteigung Ludwigs XVIII. empfahl Alexander R., einen Mann von flecken losem Charakter, lauterm, ritterlichem Pflichtgefühl und bewundernswerter Uneigennützigkeit, dem König. Am 25. Sept. 1815 wurde R. Minister, unterhandelte den zweiten Pariser Frieden und bekämpfte mit Eifer und Geschick die feudale und klerikale Reaktion. Aber auf dem Aachener Kongreß (Oktober und November 1818) setzte er die Verminderung der von Frankreich zu zahlenden Kriegskosten und die Beschleunigung der Räumung desselben von fremden Truppen nur unter der Bedingung durch, daß er das Wahlgesetz in reaktionärem Sinne ändere. Darüber gab R. im Dezember 1818 seine Entlassung. Im Februar 1820, nach der Ermordung des Herzogs von Berri, übernahm er gezwungenermaßen das Ministerium, sah sich aber von den Ultraroyalisten derart terrorisiert und zugleich von der äußersten Linken so heftig angefeindet, daß er 2. Dez. 1821 seine Entlassung nahm. Vgl. Crousaz-Crétet, Le duc de R. en Russie et en France (Par. 1897); de Cisternes, Le duc de R. 1818–1821 (das. 1898). Sein Titel ging, da er keinen direkten Erben hinterließ, auf seinen Neffen Armand Franz Odet de Jumilhac, geb. 19. Dez. 1804, über, der 1879 starb und ihn ebenfalls auf einen Neffen, Marie Odet Armand de Jumilhac, vererbte, nach dessen Tod (28. Juni 1880) der Titel auf seinen gleichnamigen Sohn (geb. 21. Dez. 1875) überg in g.[900]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 899-901.
Lizenz:
Faksimiles:
899 | 900 | 901
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Vorschule der Ästhetik

Vorschule der Ästhetik

Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«

418 Seiten, 19.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon