Gift

[349] Gift (Venenum), Alles, was in geringer Menge in den lebenden Körper eines Menschen od. Thieres gebracht, durch mechanische od. chemische Zerstörung der Gewebe u. Flüssigkeiten u. durch theilweise od. gänzliche Aufhebung ihrer physiologischen Functionen, das Leben gefährdet u. entweder, in einer nach Verschiedenheit der Stärke des G-s nicht allzukleinen Menge einwirkend, sogleich tödtet, od., zumal bei Wiederholen seines Einbringens in den Körper, ein Leiden zur Folge hat, das allmälig das Leben verzehrt. In diesem Sinne können alle Stoffe von nur einiger erheblicher Einwirkung auf den Körper, unter Umständen, G-e werden, so nennt man den Branntwein, im Übermaß genossen, ein langsames G. Eine strenge Ausscheidung wirklicher Giftstoffe von anderen, die nur unter Umständen giftig wirken, ist aber unmöglich, da fast alle Stoffe, die wegen ihrer schon in geringer Gabe tödtlichen Wirkung, wenn solche innerlich genommen werden, zu den G-n gerechnet werden, in noch geringerer Quantität häufig wirksame Arzneien sind; anderentheils aber auch starke G-e durch Gewohnheit, od. in Verbindung mit anderen Stoffen, viel von ihrer schädlichen Einwirkung verlieren. Schon in den ältesten Zeiten wurden G-e, bes. auch als Mittel, um Andere zu morden (Giftmischerei), gescheut. Daher sind, wiewohl unvollkommen, die gemeinrechtlichen Beschränkungen des Giftverkaufs particularrechtlich beinahe überall verbessert, vgl. Giftmord u. Vergiftung. Auch der Gebrauch giftiger Waffen ist eine der frühesten Kenntnisse, zu welcher Nationen auch schon auf den tiefsten Stufen der Cultur gelangen. Es gibt wohl keine Art, etwas in den Körper zu bringen, durch die nicht auch G. dahin gelangen könnte. Was aber häufig in der älteren u. neueren Geschichte von vergifteten Briefen, die beim Öffnen durch den eingezogenen Hauch tödteten, von vergifteten Hemden, Schleiern, Blumen, Fackeln, Brunnen etc. berichtet wird, bleibt größtentheils noch immer sehr problematisch, obgleich kaum daran zu zweifeln ist, daß in Giftbereitungen in den zunächst verwichenen Jahrhunderten, bes. in Italien u. Frankreich, Geheimkünste (wie u.a. in Bereitung der Aqua tofana) angewendet worden sein mögen. Die Giftlehre (Toxikologie), bes. auch in Hinsicht der gegen beigebrachte G-e dienenden Mittel (Gegengifte, von denen es aber kein absolut sicherndes gibt, sondern welche eben so verschiedenartig wie die G-e selbst sind), wurde fast eben so bald bearbeitet wie die Heilmittellehre. Schon Erasistratos schrieb ein (verlorenes) Werk über G-e. Die Lehre von Gegengiften erhielt in älteren Arzneibüchern eine besondere Berücksichtigung; doch war Alles bis auf die neuere Zeit, wo die wissenschaftlich sich gestaltende Chemie [349] Licht über wenigstens einen großen Theil der G-e verbreitete, bloße Empirie, u. erst seit Orfila ist die Toxikologie zur Wissenschaft geworden.

Man theilt die G-e ein in: A) Mechanische G-e, die durch ihre Form tödtlich sind, wie verschlucktes Glas, verschluckte Nadeln, Nägel u. dgl. B) Eigentliche G-e (Giftstoffe): a) Corrosive G-e, welche zu nächst in den Theilen, wohin sie gelangen, innerlich genommen also in dem Magen u. in den Gedärmen, heftige, bald in Brand übergehende Entzündung bewirken; die stärksten dieser Art sind die unorganischen; unter ihnen steht Arsenik oben an, ihm zunächst der Phosphor, die Quecksilbergifte, vorzüglich der Sublimat; von minderer Wirkung sind die Silber-, Gold-, Kupfer-, Zinn-, Zink- u. Wismuthgifte (s.d. a.). Sie sämmtlich können aber auch in kleinen Gaben u. bei mehrmaligem Einbringen zu schleichenden G-n werden, da ihre zerstörende Wirkung, wenn sie in das Blutsystem aufgenommen sind, sich über den ganzen Körper erstreckt. Die concentrirten Säuren stehen diesen am nächsten, namentlich die Schwefel-, Salpeter-, Salz-, Phosphorsäure, die ihre zerstörenden Wirkungen auch schon vom Schlund an äußern. Eben so wirken ätzendes u., wiewohl mit minderer Kraft, kohlensaures Kali, Natron u. Ammoniak, ätzender Baryt, gebrannter Kalk. Als Pflanzengifte können eine Menge hierher gezogen werden, die meist auch als Arzneimittel dienen; wir nennen hier blos als entweder überhaupt, od., wie meist, vorzugsweise in gewissen Theilen scharfe Giftpflanzen: Gratiola officinalis, Cyclamen europaeum, Convolvulus scammonia, Oenanthe crocata, Rhus vernix, R. radicans u. R. toxicodendron, Viburnum tinus u. V. cassinoides, Colchicum autumnale, Daphne mezereum u. mehrere Arten, Asarum europaeum, Euphorbia cyparissias u.m. Arten, Chelidonium majus, Delphinium staphysagria, Aconitum napellus u.m. A., Anemonepulsatilla u.m. A., Ranunculus flammula u.m. A., Helleborus niger u.m. A., Coronilla varia, Lobelia syphilitica u.m. A., Arum dracunculus u.m. A., Croton tiglium, Iatropha curcas u.m. A., Momordica elaterium u.m. A., Cucumis colocynthis, Bryonia alba, Juniperus sabina, Veratrum album. Aus dem Thierreiche kommen hier zunächst giftige Thiere in Betracht, die entweder in einem Behälter G. aufbewahren u. deren auch nur leichter Biß heftige Zufälle erregt, auf welche der Tod folgt, wie bes. die Giftschlangen, einige Insecten, bes. Spinnen u. verwandter Arten, wie der Tarantel, Gottesspinne, mehrere Arten Scorpione u.a.; od. wenn sie gespeist werden, giftartig wirken, wie die Spanischen Fliegen, mehrere Fische u. Muscheln; od. endlich die durch Übertragung eines in ihnen entwickelten Krankheitsstoffes giftartig wirken; hierher gehört der Biß toller Thiere, der Milzbrand des Rindviehs etc., das syphilitische G., Pockengift, auch das Leichengift etc. Zu den animalischen sind ferner noch zu rechnen das Käsegift u. das Wurstgift, die zu den furchtbarsten G-n überhaupt gehören. b) Narkotische G-e, welche, schnell in das Blut übergehend, od. dahin gebracht, Betäubung, Schwindel, Bewußtlosigkeit u. Tod, unter Lähmung od. auch convulsivischen Bewegungen, zur Folge haben. Hierher gehören die Pflanzengifte, von denen die meisten Alkaloide sind, zu diesen gehören bes.: Nicotin aus dem Tabak, derselbe enthält 0,01–0,08 Proc.; Coniin aus Conium maculatum; ähnliche G-e enthalten: Aethusa Cynapium u. Cicuta virosa; Morphium aus dem Opium; Strychnin aus verschiedenen Strychnosarten, der Ignazbohne etc.; das aus der auf Java wildwachsenden Strychnos (Upas) Tieute bereitete Strychnin dient den Einwohnern zur Darstellung des Pfeilgiftes; dasselbe G., nebst Brucin, enthalten die sogen. Krähenaugen (Samen von Strychnos Nux vomica); das Woorara od. Pfeilgift der Indianer von Guyana wird von Strychnos guyanenis gewonnen u. verdankt seine Giftigkeit ebenfalls dem Strychnin, ebenso das Curare od. Pfeilgift der Indianer am Orinoco u. das Ticunas od. Pfeilgift der Indianer am Amazonenstrom; Atropin (Daturin) aus der Tollkirsche (Atropa Belladonna) u. dem Stechapfelsamen, die letzteren werden bes. von den Indianern der Andes u. von den Eingeborenen am Himalaya zur Bereitung eines betäubenden Getränkes benutzt; Hyoscyamin aus dem Bilsenkraut (Hyoscyamus niger), Aconitin aus dem Eisenhut (Aconitum Napellus); Veratrin aus der weißen Nießwurz u. den Sabadill- od. Läufekörnern. Ähnliche aber schwächer wirkende G-e enthalten mehrere Arten des Rittersporns, Hahnenfuß, schwarze Nießwurz, Windröschen etc. Colchicin aus der Herbstzeitlose; Solanin aus den Beeren des schwarzen Nachtschattens (Solanum dulcamara); die Manjocwurzel (Iatropha Manihot), von welcher die Cassava u. Tapioca abstammen, enthält ein ähnliches G.; Antiarin aus dem Milchsaft der auf Java wildwachsenden Antiaris toxicaria, wird von den dortigen Indianern zur Bereitung eines Pfeilgiftes, des Upas Antiar, benutzt; Cocculin od. Pikrotoxin aus den Fischkörnern od. Kockelskörnern, wenige solche Körner in einen Teich geworfen reichen hin, um alle Fische darin zu tödten; Digitalin vom rothen Fingerhut (Digitalis purpurea); Gratiolin im Gnadenkraut; Parin in der Einbeere; Lactucin im Giftlattich; Cyclamin in Bergcyclamen; Daphnin im Kellerhals; Scillitin in der Meerzwiebel; ein noch ziemlich unbekanntes G. enthalten die Purgirkörner Croton tiglium); eins der heftigsten, ingewisser Hinsicht zu den Pflanzengiften zu zählenden G-e ist die Blausäure. Viele gasförmige Körper wirken giftig, indem sie durch directe Einwirkung auf die Lungen, od. weil sie überhaupt das Athmen nicht unterhalten, od. durch Zersetzung des Blutes den Lebensproceß stören od. ganz aufheben; dahin gehören besonders Dämpfe von Säuren, Chlor, Arsenwasserstoff, Schwefelwasserstoff, Cyanwasserstoff, Stickstoff, Kohlensäure, schwefelige Säure, Kohlenoxydgas etc. Der Giftsumachbaum (Rhus toxicodendron) gibt an heißen Tagen an die umgebende Atmosphäre einen flüchtigen Stoff ab, der, wenn man sich längere Zeit in der Nähe des Baumes aufhält, schmerzhafte Geschwüre u. geschwollenes Gesicht verursacht. Viele Gerüche von stark duftenden Blumen sind ebenfalls giftig. Über alle einzelne G-e u. Giftarten s. die eigenen Artikel; über die Wirkungen von G. im Körper u. Ausmittelung des durch G. veranlaßten Todes s. Vergiftung; vgl. Gifthandel. Vgl. M. I. B. Orfila, Traité des poisons, 3. Aufl. Par. 1829 (deutsch von Kühn, Lpz. 1830, 2 Bde.); Derselbe, Traité de Toxicologie, 5. Aufl. Par. 1852, 2 Bde,[350] (deutsch von Krupp, Braunschw. 1852–53, 2 Bde.); P. J. Schneider, Über die G-e, 2. Aufl. Tüb. 1821; Sobernheim, Handbuch der Toxikologie, Berl. 1838; Ed. Winkler, Sämmtliche Giftgewächse Deutschlands, Lpz. 1835; Lörcher, Die wichtigsten Giftpflanzen Deutschlands, Ulm 1857.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 349-351.
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