Neu-Platoniker

[831] Neu-Platoniker, diejenigen Philosophen, welche seit der Mitte des dritten Jahrh. v. Chr., vorzugsweise an Plato sich anschließend, aber zugleich mit Benutzung der Lehre des Aristoteles u. der späteren griechischen Denker, theilweis auch unter dem Einflusse orientalischer Vorstellungsarten, eine mystisch-pantheistische Denkweise ausbildeten, welche den antiken Polytheismus auf das innigste mit der philosophischen Speculation verknüpfte, u. durch Behauptung einer mystischen Vereinigung mit Gott, welche der Ausgangspunkt u. das Endziel der Philosophie sei, der objectiven Offenbarung des Christenthums eine Art subjectiver Offenbarung gegenüber[831] zu stellen suchte. Von dem Aufenthaltsorte der Urheber dieser, durch die sogenannten Neu-Pythagoreer (s.d.), die späteren pythagorisirenden Platoniker u. den jüdischen Philosophen Philo (s.d.) vorbereiteten Lehre, des Ammonios Sakkas u. des Plotinos (s.d.), wurde die Schule auch die Alexandrinische genannt; seit Anfang des fünften Jahrh. hatte sie ihren Hauptsitz in Athen; wegen der Verarbeitung verschiedenartiger älterer Lehren in ihr System hat man dieses auch oft als Eklekticismus bezeichnet; unter dessen zahlreichen Vertretern sind die wichtigsten Plotinos, der tiefsinnige Urheber der Lehre; sein Schüler u. Erläuterer Porphyrios, der zu mannigfachem Aberglauben sich hinneigende Jamblichos u. Proklos, welchen man den dialektischen Scholastiker der Schule nennen kann. Abgesehen von den Verschiedenheiten der Ausführung bei diesen einzelnen Vertretern sind die allgemeinen Umrisse der Neuplatonischen Philosophie folgende: Urquell u. Ursache alles dessen, was ist, muß etwas sein, was über aller Vielheit u. allen Gegensätzen des Denkens u. Seins hinausliegt, ein Unendliches, welches durch kein bestimmtes Prädicat bezeichnet werden kann, u. welches Plotin bald das Eine, bald das Gute nennt. Es ist eben wegen seiner Erhabenheit über alle Gegensätze unerkennbar durch das reflectirende Denken, nur erreichbar durch intellectuelle Anschauung, mystische Versenkung des Geistes. Dieses unendliche Urwesen, Gott, ist zugleich unendliche Causalität; in seiner unendlichen Fülle fließt es gleichsam über; dieses Überfließen (Emanatismus) erzeugt ein Anderes; od. in einem anderen Bilde: das Unendliche strahlt aus, wie ein leuchtender Körper, ohne sich selbst zu verändern. Dieser Proceß des Überfließens u. Ausstrahlens setzt sich in jedem der dadurch entstandenen Producte immer wieder fort, dergestalt, daß die entfernteren Producte, welche von der ursprünglichen Einheit immer mehr verlieren, durch die näheren, dem Urwesen verwandteren in einer bestimmten Reihenfolge vermittelt sind. So entsteht erst die übersinnliche, intelligible, u. aus ihr die sinnliche, materielle Welt, u. die Speculationen der N-P. bestehen hauptsächlich in der Darlegung der in gegliederter Reihenfolge aus dem Unendlichen hervorgehenden Formen des Daseins in beiden Welten. Die Materie, das der sinnlichen Erscheinungswelt wesentliche Element, ist die Grenze der Ausstrahlungen, das Nichtseiende, das Böse; das belebende, harmonisch gestaltende Princip in ihr ist die an der Grenze der intelligiblen Welt stehende Weltseele; die Götter u. Dämonen sind die Kräfte, mit welchen die Weltseele die Gestirne u. die zwischen dem Monde u. der Erde liegenden Sphären durchdringt; ebenso haben die Gegenstände der irdischen Natur an diesen Ausströmungen der allgemeinen Weltseele ihren individuellen Antheil. Auf diesen phantastischen Vorstellungsarten beruht theils der Versuch einer Rechtfertigung des hellenischen Polytheismus sammt der allegorischen Deutung der einzelnen Göttergestalten, theils, weil alle Theile der Welt kraft ihrer gemeinschaftlichen Rückbeziehung auf das Unendliche in einem sympathetischen Zusammenhange stehen, die namentlich bei den späteren N-P-n mit Vorliebe gepflegte Lehre von der Theurgie, Magie u. Mantik, welche der Wunderwelt des Christenthums eine ähnliche heidnische gegenüberzustellen suchte u. im Mittelalter Jahrhunderte lang die Quelle vielfachen Aberglaubens geblieben ist. Der Mensch, ein aus der übersinnlichen, schon vor dem irdischen Dasein existirenden (präexistirenden) Seele u. dem irdischen Stoffe zusammengesetztes Doppelwesen, hat die Aufgabe, die in dem Leibe liegenden Ursachen der Unvollkommenheit abzustreifen; aus der Reinigung von sinnlichen Gedanken u. Begehrungen, aus der Lossagung von dem Körper geht ganz von selbst die Hinwendung zu dem, was jenseits des irdischen Lebens liegt, dir Erhebung in die intelligible Welt des wahrhaft Seienden u. Guten hervor. Die Ethik der N-P. ist die Beschreibung der Stufenfolge dieser Erhebung, wie ihre Metaphysik die Beschreibung des Herabsteigens des Unendlichen in das Endliche ist; ein wesentliches Hülfsmittel dieser Erhebung ist der religiöse Cultus, das Gebet, die Askese. Das letzte Ziel, die volle Befreiung von allen Schranken u. Banden des materiellen Daseins ist die Vereinigung mit dem Urwesen, welche weder ein Denken u. Wissen noch ein Thun, sondern ein Herausversetztsein aus dem Zustande des subjectiven Bewußtseins (Ekstasis), eine Hingebung an das Unendliche ist, in welcher alle Unterschiede verschwinden (Vereinfachung), ein unaussprechlicher Zustand des Entzückens, in welchem die Seele mit dem Unendlichen zusammenfließt. Durch diese mystische Vereinigung mit dem Unendlichen, deren Plotin mehrmals theilhaftig gewesen sein will, ist zugleich der Anfangspunkt ihrer speculativen Behauptungen, das Wissen von dem Unendlichen, obwohl dasselbe kein Gegenstand des Wissens ist, bezeichnet. Der Neuplatonismus war der letzte großartige Versuch des absterbenden Heidenthums, sich dem aufstrebenden Christenthum gegenüber wissenschaftlich zu rechtfertigen; bei Porphyrios tritt eine directe Polemik gegen das letztere hervor; die Bemühungen der Schule wurden unter dem Kaiser Julian eine Zeit lang durch äußere Mittel unterstützt, aber die fortschreitende Ausbreitung des Christenthums u. die Macht der vom Staate unterstützten Kirche vereinigten sich mit der inneren Unhaltbarkeit der Lehre u. ihrem in Beziehung auf ihre letzten Zielpunkte hervortretenden Mangel an wahrhaft sittlicher Kraft, um ihre Anhänger schon im Laufe des fünften Jahrh. zu einer ihr Dasein nur nothdürftig fristenden Secte herabzudrücken. Im Jahre 529 erließ der Kaiser Justinian ein Edict, daß Niemand mehr in Athen die Philosophie lehren dürfe; das Vermögen der Lehranstalt wurde eingezogen u. die Hoffnung der letzten N-P., des Damaskios u. Simplikios (s. b.), bei dem persischen König Khosroës Unterstützung zu finden, wurde getäuscht. Vgl. H. Fichte, De philosophiae novae platonicae origine, Berl. 1818; F. Bouterwek, Philosophorum alexandrinorum et neoplaton, recensio accuratior, Göttingen 1821; Matter, Essai histor. sur l'école d'Alexandrie, Par. 1820, 2 Bde.; Vogt, Neu-Platonismus u. Christenthum, Berl. 1836; I. Simon, Hist. de l'école d'Alexandrie, Par. 1845, 2 Bde.; Barthélemy St. Hilaire, De l'école d'Alexandrie, ebd. 1845; X. Vacherot, Hist. de l'école d'Alexandrie, ebd. 1846, 3 Bde. Im 15. Jahrh., wo sich im Kampfe mit der Scholastik der Geister eine ähnlichetrübe Gährung bemächtigt hatte, wie im dritten bis fünften Jahrh., fand der Neu-Platonismus noch einmal eifrige Bewunderer, unter denen Marsilius Ficinus (s.d.) hervorragte. Ihr Einfluß hat lange Zeit das Verständniß der echten Platonischen Philosophie erschwert.[832]

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 831-833.
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