[922] Ethik (vom griechischen ἔϑος [Sitte, Gewohnheit, Regel], auch Moral, Sittenlehre genannt), die Wissenschaft, welche sich mit der Übereinstimmung des menschlichen Willens mit dem höchsten Sittengesetze beschäftigt. I. Als Wissenschaft bedarf die E. eines Princips (Ethisches Princip, Moralprincip), d.i. eines bestimmten Grundsatzes od. einer doctrinellen Formel, aus welcher andere Grundsätze u. Pflichtgebote, überhaupt die verschiedenen Lehren der E. als Folgesätze sich ableiten lassen. Diese Formeln, die von den Philosophen der älteren u. neueren Zeit ganz verschieden ausgedrückt wurden, theilt man, namentlich seit der Kantischen Periode, in formale u. materielle. a) Formale Principien sind solche, welche, ohne irgendwie einen Gegenstand zu berücksichtigen, bes. die Art u. Weise ins Auge fassen, wie etwas gewollt werden soll. Die wichtigsten derselben sind: Handle consequent, zuerst von Zeno u. den Stoikern aufgestellt; Handle frei u. selbstthätig, bes. bei Fichte vorherrschend; u. endlich die Kantischen Grundsätze: Handle nach der Regel, von der du zugleich wollen kannst, daß sie zum allgemeinen Gesetze werde. b) Materielle Principien sind, welche nur den Gegenstand berücksichtigen, der erzielt wird, ohne auf die Art des Wollens einen Werth zu legen. Bei diesen unterscheidet man aa) die ästhetischen, z.B. den Grundsatz: Handle nach deinem sittlichen Gefühl, welchen bes. die schottischen u. englischen Sittenlehrer Shaftesbury, Hutcheson, Hume, Smith u. A. feststellten; ferner den Grundsatz: Handle so, daß du deine eigene Glückseligkeit beförderst, welchen Epikur u. die Eudämonisten festhielten; endlich den Grundsatz: Sei gemeinnützig, um das Beste der Welt zu befördern, welchen Pufendorf zuerst in Deutschland geltend machte; u. bb) die idealistischen, wobei irgend ein geistiges Gut als das Ziel aller sittlichen Bestrebungen hingestellt wird, z.B. Handle dem Willen Gottes gemäß, früher schon von Tertullian u. später von vielen christlichen Ethikern festgehalten; Strebe nach Vollkommenheit, von Thomasius, Leibnitz u. Wolf vertreten; Folge dem Beispiel Gottes u. Christi, was man durch viele Stellen der Schrift zu begründen suchte; Handle nach dem Grundsatze einer absoluten Werthgesetzgebung, zuerst von Fries aufgestellt u. dann von De Wette in der christlichen Sittenlehre angewendet; Handle immer der reinen Wahrheit gemäß, zuerst von Cudworth, dann von Clark u. Wollaston entwickelt.
II. Die E. selbst wird getheilt in die philosophische u. christliche E. A) Die philosophische E. (Moralphilosophie) ist die Wissenschaft von den Gesetzen der praktischen Vernunft, welche das sittliche Handeln eines Menschen bestimmen sollen, daher ein Theil der praktischen Philosophie, jedoch von der Religionslehre u. Rechtslehre, sowie von der Politik, wesentlich verschieden. Sie zerfällt in eine reine u. angewandte; beide zerfallen wieder in zwei Theile, nämlich Elementarlehre,[922] welche die sittlichen Begriffe u. Grundsätze selbst, sowohl an sich, als in Beziehung auf den Menschen, darzustellen, u. Methodenlehre, welche die Art u. Weise, wie nach jener die Tugend geübt werden soll, nachzuweisen hat. Die in älteren Zeiten hierher gerechnete u. bes. abgehandelte Casuistik wird bei einer gehörigen Darstellung dieser beiden Theile völlig entbehrlich. a) Reine E. od. Moral. aa) Reine ethische Elementarlehre. Das Gewissen ist ursprünglich Grundlage aller Sittlichkeit, aus welcher die Philosophie nachzuweisen hat, wie erstere eine mit der Vernunft völlig übereinstimmende Denk- u. Handlungsweise fordere. Die verschiedenen Moralprincipien (s. oben I.) der neuesten Philosophen drücken, nur mehr od. weniger bestimmt klar, dasselbe aus, was die Formel besagt: Handle so, wie du wünschest, daß alle Andere handeln. Ein solches Princip ist ein reiner u. formaler Grundsatz, der, von der Vernunft a priori gegeben, blos die Handlungsweise des Menschen überhaupt bestimmt; es ist aber auch ein apodiktischer Grundsatz, denn die Vernunft fordert durch denselben unbedingt eine Handlungsweise u. die sittliche Verbindlichkeit (Pflicht), diesem Gebote zu gehorchen, welche in dem vernünftig sittlichen Individuum außer dem gesetzgebenden Vermögen der praktischen Vernunft, welche verpflichtet (active Verpflichtung), ein demselben untergeordnetes Vermögen, welches verpflichtet wird (passive Verpflichtung), also den freien Willen, voraussetzt. Um dem Sittengesetze gemäß zu handeln, bedarf das sinnlich vernünftige Wesen, außer dem hierin gegebenen Bestimmungsgrunde, auch noch eines subjectiven od. der Triebfeder, welche in der Achtung gegen das Gesetz besteht u., je lebendiger u. dauernder sie ist, desto gehorsamer gegen das Pflichtgebot macht. Echte Sittlichkeit (Moralität) im Gegensatz zur bloßen Gesetzmäßigkeit (Legalität) besitzen die Handlungen nur dann, wenn denselben die Gesinnung einer unbedingten Achtung gegen das Sittengesetz zu Grunde liegt. Aus einer solchen gewissenhaften Pflichterfüllung geht die Tugend hervor. Wenn Gesinnungen u. Handlungen dem Sittengesetze aus Mangel der Achtung dagegen widerstreiten, so sind sie unsittlich, u. es entsteht die Sünde u. durch deren öftere Wiederholung das Laster. Ein sittlich gleich gültiger Zustand tritt blos da ein, wo, wie z.B. bei dem Kinde od. dem Irrsinnigen, die moralische Freiheit gänzlich fehlt. Auch gibt es in der E. weder gleich gültige Handlungen (Adiaphora) in formaler, sondern blos in materialer Hinsicht, noch Kleinigkeiten. Da die Tugend an sich gut, wie die Sünde bös ist, so hängt von jener der sittliche Werth (moralisches Verdienst), von dieser der sittliche Unwerth (moralische Schuld) ab. Die Bestimmung des sittlichen Werthes od. Unwerthes ist die, von der blos juridischen wesentlich verschiedene sittliche Zurechnung (s.d.). Da diese sowohl von dem moralischen Individuum, als von Anderen vorgenommen werden kann, so ist jeder Mensch einer inneren, durch das Gewissen, u. einer äußeren Gerichtsbarkeit unterworfen. Aber weder das Gewissen noch ein anderer Mensch vermag ein untrügliches Urtheil zu fällen, u. es muß daher ein unendliches moralisches Wesen, das allwissend u. allheilig ist, Gott selbst, als Richter, angenommen werden, eine Idee, welche der Glaube in der moralischen Vergeltung, gegen das Verdienst Belohnung, gegen die Schuld Strafe, darstellt. Da die tu, gendhafte Gesinnung, welche das Gesetz der Vernunft achtet, diese Achtung auf alle der sittlichen Gesetzgebung unterworfene Wesen ausdehnt, so ergeben sich nicht nur Selbstpflichten, sondern auch Pflichten gegen Andere. Indem die E. jedes vernünftige Wesen zur Achtung seiner Würde in sich u. Anderen verpflichtet u. daher Alles zu thun od. zu lassen gebietet, wodurch dieser Zweck erreicht od. verfehlt werden wird, so entspringen die beiden Haupttugenden der Gerechtigkeit u. Gütigkeit, von denen die erstere negativ, die zweite positiv ist. Sofern ein Pflichtgebot entweder ein reines od. angewandtes ist, zerfallen auch die Pflichten selbst in reine u. angewandte, in so fern ein angewandtes Pflichtgebot durchgängig, für alle Fälle od. nur im Allgemeinen gebietet, in vollkommene u. unvolkommene Pflichten. Weil reine Tugendgesetze einander nicht widerstreiten können, so kann eine Collision nur bei angewandten Tugendgesetzen Statt finden, u. hierauf beruht die Unterscheidung zwischen höheren u. niederen Pflichten. bb) Reine ethische Methodenlehre. Da die Tugend auf der Freiheit des Willens beruht, so muß nicht nur zunächst Anerkennung gefordert werden, sondern auch der den Gesetzen der allmäligen Entwickelung unterworfene Mensch nach Tugend streben u. daher die Hindernisse der Tugend, welche theils nächste (Mangel der sittlichen Erkenntniß, Unempfindlichkeit des moralischen Gefühls, Übergewicht der Sinnlichkeit etc.). theils entfernte (Beispiel, Erziehung, Umgang, gesellige Verhältnisse etc.) sind, möglichst entfernen u. moralische Selbständigkeit (erworbene Freiheit, im Gegensatz der ursprünglichen Freiheit) zu erlangen suchen.
b) Angewandte Tugendlehre (Moralische Anthropologie, Anthropologische E.). aa) Angewandte ethische Elementarlehre, Indem der Mensch sowohl als denkendes, als auch als ein vernünftig freies, der Zurechnung fähiges Wesen sich zu erkennen gibt, zerfallen auch die Pflichten, welche ihm als solchem die Moral auflegt, in der Anwendung in Pflichten gegen sich selbst u. Pflichten gegen Andere. Mehrere Moralisten dehnen diese Pflichten auch auf andere Wesen als die Menschen aus u. reden daher von Pflichten gegen Thiere, Verstorbene, Engel, Gott etc. Indeß die Pflichten gegen die Verstorbenen beruhen auch auf den Pflichten gegen sich selbst u. die Menschheit überhaupt. Weil Gott nicht als ein gegen uns verpflichtetes Subject u. unserer Wirksamkeit unterworfen gedacht werden kann, so kann es auch keine Pflichten gegen Gott in der philosophischen E. geben; das, was wir Gott schuldig sind, ist Pflichtgebot der Religion, mithin Religionspflicht (vergl. unten B). Auch von Pflichten gegen leblose Gegenstände, wie Kunstwerke, Baumpflanzungen etc. kann nicht die Rede sein, da sie nicht Theilnehmer an der Gesetzgebung der Vernunft sind. Indem die E. zunächst alle die Rechtspflichten in ihren Schutz nimmt u. die unverletzliche Heilighaltung derselben, jedoch mit, das strenge Recht mildernder Billigkeit, gebietet, legt sie dieselben Pflichten gegen Andere auf, welche sie dem Menschen gegen sich selbst vorschreibt. Die Anwendung des Grundsatzes: gegen Andere so zu handeln, wie[923] wir wünschen, daß Andere gegen uns handeln sollen, leitet zu einer vollständigen u. sicheren Erkenntniß derselben. bb) Angewandte ethische Methodenlehre. Obschon die Anlagen des Menschen ursprünglich gut erscheinen, so zeigt sich doch in allen ein Hang zum Bösen. Da jedoch nichts desto weniger, nach den heiligsten Forderungen der praktischen Vernunft, der Mensch nicht blos sittlich gut sein soll u. werden kann, so ist ihm dadurch auch die Aufgabe u. Pflicht geworden, diesem Ziele beharrlich nachzustreben. Eben daher ist die Bekehrung auch ein Ausgang vom Bösen zum Guten, bei welchem, unter mancherlei Abstufungen, der Mensch die Zustände der Rohheit, Schwäche, Unlauterkeit, Bosheit, angehender u. fester Tugend, als dem Ziel der sittlichen Erziehung, durchwandern muß. Vgl. Gellert, Moralische Vorlesungen, Halle 1770; Eberhard, Sittenlehre der Vernunft, Berlin 1786; Schmidt, Versuch einer Moralphilosophie, Jena 1790; Schleiermacher, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, 1805. Außerdem die neueren Schriften von Fries, De Wette, Eschenmayer, Michelet, Hegel, Daub (s.d. a.) u. A.; Stäudlin, Geschichte der Moralphilosophie, Hannover 1822.
B) Die christliche E., die Wissenschaft von der Sittlichkeit unserer Gesinnungen u. Handlungen nach Maßgabe der Lehre Christi. Sie ist ein Theil der Theologie u. wird gewöhnlich im Gegensatz zur theoretischen Theologie (Dogmatik) praktische Theologie, auch Moraltheologie od. E. (Moral) genannt. Sie schöpft ihre Lehren aus der Heiligen Schrift u. hängt mit der Dogmatik, obschon sie in der Wissenschaft von ihr gewöhnlich getrennt wird, aufs genaueste zusammen. Die christliche E. zerfällt, wie die philosophische E., in eine reine u. eine angewandte. a) Reine E. Da nach der Ansicht des Christenthums Moralität in dem freien, freudigen u. unausgesetzten Bestreben besteht, das Göttliche in uns u. durch uns darzustellen, od. Gott ähnlich zu werden, d.h. unsere Gesinnungen u. Handlungen mit der Idee des höchsten Gutes in Übereinstimmung zu bringen: so zerfällt die reine E. in die 4 Theile von der Idee des höchsten Gutes, von dem Menschen im Verhältniß zu dieser Idee u. zum Ausdruck derselben, u. von den Mitteln hierzu. aa) Die Idee des höchsten Gutes stellte Christus unter dem Bilde des Reiches Gottes dar, u. sie wird von vielen Ethikern für das Princip der christlichen Sittenlehre angesehen. bb) Das Verhältniß des Menschen zu der Idee des höchsten Gutes beruht auf seiner Freiheit. Diese Freiheit ist theils eine äußere, in so fern der Mensch durch keine äußere Willkür genöthigt werden kann, das zu wollen, was er nicht will; theils eine innere, in so fern er bei dem, was er mit Bewußtsein will, von der Vernunft geleitet wird. Da aber der Mensch, als Sinnenwesen, keine reine Selbstthätigkeit besitzt, so ist allerdings in seiner Freiheit, hinsichtlich der Sinnlichkeit, natürlichen Disposition, Erziehung, des Temperaments, der Gewohnheit etc. ein Gradunterschied; allein diese Beschränkung der Freiheit ist nicht Aufhebung derselben, u. die Beschränkung selbst schwindet in demselben Maße, als die Vernunft sich entwickelt. cc) Das Verhältniß des Menschen zum Aus druck der Idee der Sittlichkeit lehrt die moralische Anthropologie. Die Heilige Schrift betrachtet den mit der Vernunft im Streite liegenden allgemeinen Hang des Menschen zum Bösen als ein angeborenes u. sich fortpflanzendes Übel unter dem Bilde der Erbsünde. Die Sünde ist Thätigkeit eines sittlich freien Wesens gegen das Gebot Gottes. Objectiv sind alle Sünden gleich schändlich u. verdammlich u. führen zum Verderben, indem sie die Fertigkeit zu sündigen vermehren, Unruhe des Gemüthes, Verminderung eigenen u. fremden Glückes nach sich ziehen, eigenes u. fremdes Unglück häufen, Andere verschlimmern u. der ewigen Seligkeit verlustig machen. Subjectiv betrachtet istdie Sünde verschieden; der Grad wird bestimmt nach den Überzeugungen u. Gesinnungen des Sündigenden, nach der Größe des Schadens, nach der Wichtigkeit der übertretenen Pflicht. Wenn die bösen Lüste den Menschen überwiegend beherrschen, so befindet er sich in dem Stande der Sünde, welche durch öftere Wiederholung u. dadurch erreichte Fertigkeit zum Laster wird etc. Obgleich aber der Mensch von Natur schwach ist, so kann u. soll er doch in den Zustand der Besserung übergehen. Der Übergang von der Sünde zur Tugend erfordert sowohl eine Veränderung in dem Verstande, als im Gefühle u. Willen (Buße); daher sind dd) die Tugend mittel, welche das Christenthum vorzugsweise darbietet, von höchster Wichtigkeit. Siesind: die Heilige Schrift, das Abendmahl, das Gebet, der öffentliche u. häusliche Gottesdienst, Selbstprüfung, Nachdenken, Eingezogenheit u. Strenge gegen sich selbst.
b) Angewandte E. Sie hat es mit den einzelnen Verhältnissen des Lebens u. den dieselben betreffenden moralischen Vorschriften zu thun. Da diese Verhältnisse unzählbar u. unendlich sind, so sucht sie dieselben u. die Vorschriften für sie auf gewisse Hauptklassen zurückzuführen. Nach dem Ausspruche Jesu u. nach der theologischen Eintheilung unter scheidet man gewöhnlich Pflichten gegen Gott, geg sich selbst u. gegen die Nebenmenschen. aa) Pflichten gegen sich selbst. Da der Mensch ein sittlich freies, eines unendlichen Wachsthums in der Tugend fähiges, durch Christum erlöstes Wesen ist u. die menschliche Gesellschaft auf dieser Anerkennung beruht; so soll jeder Mensch sich achten od. gerecht gegen sich gesinnt sein; sein Leben u. seine Gesundheit soll er auf jede erlaubte Weise erhalten; Geist u. Körper soll er zweckmäßig ausbilden; die Güter der Erde soll er gehörig würdigen u. auf eine erlaubte Weise für die Erhaltung u. Vermehrung seines Eigenthums sorgen; seine Ehre u. seinen guten Namen soll er bewahren u. vermehren; seine Glückseligkeit soll er erhalten u. vermehren. bb) Pflichten gegen andere Menschen. Da das Christenthum die Menschen sich als Kinder eines Vaters, mithin als Glieder einer großen Familie, betrachten lehrt u. in seinem Hauptgebote Liebe gegen dieselben wie gegen sich selbst fordert, so sind diese Pflichten eigentlich schon in den Selbstpflichten enthalten, zerfallen jedoch in ihrer Anwendung auf dieses Verhältniß in mehrere Gebote. Wir sollen nämlich die Menschenwürde Anderer achten, erhalten u. vermehren; das Leben u. die Gesundheit Anderer sollen wir auf jede erlaubte Weise zu ehalten suchen; die Vollkommenheiten des Leibes u. Geistes Anderer sollen wir erhalten u. vermehren; die Erdengüter Anderer sollen wir zu erhalten u. vermehren suchen; die Ehre Anderer, ohne welche das Leben keine Bedeutung hat, soll erhalten u.[924] gerette werden; die Glückseligkeit Anderer soll erhalten u. vermehrt werden; man soll gegen Jedermann wahrhaftig u. redlich sein; der Friede unter den Menschen soll möglichst bewahrt werden; die Pflichten der häuslichen u. bürgerlichen Verbindung sollen genau beobachtet werden. Diese Pflichten theilt man gewöhnlich in allgemeine u. besondere Nächstenpflichten. cc) Von Pflichten gegen Gott kann nicht in so fern die Rede sein; als ihm durch Erfüllung derselben ein Vortheil erwüchse; allein nichts desto weniger entspringen diese Pflichten aus dem Verhältniß, in welchem der Mensch u. Christ zu dem höchsten Wesen steht. Das Christenthum gebietet: Verehrung u. Anbetung Gottes; Gott sollen wir über Alles lieben; eben so sollen wir Gott für Alles danken; mit Gottes Einrichtungen sollen wir zufrieden sein; Gott sollen wir über Alles vertrauen u. ihm über Alles gehorchen.
III. Geschichte der E. A) Bei den alten Griechen war die E. ein Theil der Philosophie; sie bildete in deren Systemen als Darstellung dessen, worin sich das bewußte geistige Leben offenbart, den Gegensatz zur Physik, welche es mit der Erklärung der Dinge in der Erscheinungswelt zu thun hat. Der Erste, welcher die E. in die Philosophie einführte, war Sokrates, u. unter seinen Schülern war es bes. Plato, welcher sich um die E. das Verdienst erwarb, daß er das wahrhaft Gute von dem blos Nützlichen u. von der Befriedigung der Begierde (Lust) strenger zu scheiden suchte. Die Philosophen nach ihm irrten darin, daß sie als ursprüngliches Object der ethischen Werthbestimmung nicht den Willen selbst, sondern die Gegenstände außer dem Menschen erkannten u. den Ausdruck für das sittliche Ideal in dem Begriff des höchsten Gutes od. der Glückseligkeit (Eudämonismus) fanden. Da nun die Glückseligkeit, als des in der Befriedigung der Wünsche u. des Begehrens liegenden Wohlseins, sehr verschieden aufgefaßt werden kann u. verschieden aufgefaßt u. der Grundsatz der E. nicht festgehalten wurde, daß es zur Bestimmung des Unterschiedes zwischen Gut u. Bös gar nicht darauf ankommt, was den Willen befriedigt, sondern auf die Beurtheilung des Willens, sofern er von aller Nebenrücksicht unabhängig ist: so erscheinen auch in dem Begriffe der Glückseligkeit bald edlere, echt sittliche Bestimmungen, wie bei den Stoikern, welche der über die Gefühle der Luft u. Unlust erhabenen, von Lohn u. Strafe unabhängigen Tugend, als dem höchsten Gute, alles Andere unterordneten u. in dem Besitz derselben die Glückseligkeit fanden; bald aber auch die Auffassung der Glückseligkeit als eines rein sinnlichen Genusses (Hedonismus) u. Freiheit von Störungen desselben, wie bei Aristippos u. Epikuros. Aber darin trafen die alten Philosophen das Rechte, daß sie ihre E. auf den Grundsatz basirten: alle Gebiete des menschlichen Lebens, sowohl die öffentlichen Verhältnisse, als auch die des Privatlebens, bilden ein untrennbares Ganzes, weshalb bei ihnen die E. auch die Rechts- u. Staatslehre mit in sich begriff. B) Erst das Christenthum bot für die E. feste Haltpunkte dar, indem es dem Menschen Reinigung u. Heiligung des Herzens, der Gesinnnug u. des Thuns, als Ziel seines Strebens aufstellte. a) In den erst en 5 Jahrhunderten. Die ethischen Grundsätze u. Vorschriften, welche die Apostel von Jesu erhielten, u. welche sie als von Gott eingegeben aufgefaßt wissen vollten, wurden von ihnen mit treuer Gewissenhaftigkeit gelehrt, obschon sie als Heiden- od. als Judenapostel in einzelnen Sittenlehren von einander abweichen, z.B. in der Lehre vom Eidschwur, od. auch Vorschriften, z.B. über die einmalige Ehe der Bischöfe, die keine allgemeine Geltung erlangen konnte. Von den Aposteln ging die christliche E. in die Briefe der Apostolischen Väter u. in die Schriften der Kirchenväter über, u. es finden sich bei Justinus, Athenagoras, Irenäus, Origenes, Chrysostomus u. anderen griechischen Kirchenvätern eine Menge sittlicher Vorschriften, die zum Theil sehr in's Einzelne gehen u. oft an mystische od. chiliastische Beziehungen anstreifen; während die lateinischen Kirchenväter, wie Tertullian, Cyprian, Lactantius, Augustinus u. Andere mit sittlichem Ernst u. großer Strenge die ethischen Grundsätze hinstellten. Ein Theil der Gnostiker u. Häretiker kam bei ihrer meist dualistischen Richtung auf höchst abenteuerliche ethische Vorschriften. Bei den schweren Kämpfen, welche die erste Christliche Kirche nach Außen hin zu bestehen hatte, u. bei den vielfachen Streitigkeiten über dogmatische Gegenstände konnte von einer wissenschaftlichen Bearbeitung der E. nicht die Rede sein. b) Im Mittelalter. In dieser Periode, welche für die christliche Sittenlehre nicht sehr ergiebig war, unterscheidet man die populäre, mönchische, scholastische u. mystische E. Weit entfernt, auf die Gesinnung zu wirken, setzte die Volks-E. die Sittlichkeit in die pünktlichste Abwartung des äußerlichen Gottesdienstes, in eine Menge äußerer u. leiblicher Bußübungen, in unbedingte Unterwerfung unter das Ansehen der herrschenden Kirche u. in Geschenke an den Clerus; u. dabei fand sich die unsittlichste Gesinnung u. die roheste Lasterhaftigkeit. Obgleich die Scholastiker die praktischen Disciplinen sehr vernachlässigten, so verunstalteten sie doch die E. zu einem Gewebe unfruchtbarer Grübeleien u. verwischten durch ihren Aristotelismus den Geist Jesu ganz. Sie waren entweder Erklärer des Thomas von Aquino, od. Casuisten, welche sich bei ihren Untersuchungen nach den in grosser Menge vorhandenen Bußbüchern richteten u. für den. Beichtstuhl arbeiteten. Am wirksamsten war noch die Mystik, die im 5. Jahrh. von dem falschen Dionysius im Orient, im 9. Jahrh. von Johannes Erigena im Occident vorgetragen, jetzt bes. in Bernhard von Clairvaux, Hugo u. Richard von S. Victore, Bonaventura, Gerson, Thomas a Kempis, Geiler von Kaisersberg u. A. eine mächtige Stütze fand u. zur Besserung viel beitrug. c) In der Refor mationszeit. Obschon die Reformation des 16 Jahrh. sich zunächst auf dem Gebiete der Glaubenslehre bewegte; so äußerte sie dadurch u. durch das hier aufgestellte protestantische Princip einen segensreichen Einfluß auch auf die E. Indem man die gottes dienstlichen Gebräuche als Erfindungen des Aberglaubens erkennen lernte, die Heilige Schrift auch als Erkenntnißquelle der E. zu betrachten u. zu benutzen anfing, die moralischen Vorschriften des Christenthums von der Gesetzgebung des A. T. unterschied, die ganze Sittenlehre von der Scholastik unabhängig bearbeitete u. die Fruchtbarkeit derselben aufs Leben wieder herzustellen suchte: wurde auch die Reform der christlichen E. eingeleitet. Zwar erhielt u. behielt nach Luthers Tode die E. in der Lutherischen Kirche lange eine dürftige [925] Gestalt, weil man sie blos als einen Anhang der Theologie ehandelle. u. sich, wie Balduin u. A., casuistischen Untersuchungen hingab. Allein durch Arnd, Gerhard, Scriver u. A. kam die Mystik in der letzten Hälfte des 16. Jahrh. hier zur Hülfe u. vermittelte die Extreme. Georg Calixtus brach nach dem Vorgange des reformirten Theologen Danäus in Holland durch die Trennung der E. von der Dogmatik einer wissenschaftlichen Behandlung der ersteren die Bahn, u. wenn auch den damaligen Bearbeitern der E., wie Dürr, Rixner, Beyer, Picker, Schmid u. A., sowohl Kenntniß, die Bibel zu benutzen, als die der Anthropologie abging, so wirkte doch Spener desto gesegneter auf die populäre E. Leider wurde der Einfluß des Calixtus bald durch die Pietistischen Streitigkeiten, durch den Dogmatismus der Gegner u. die Hinneigung seiner Schule zur Frömmelei sehr geschwächt. Indeß gaben die Verbesserungen, welche das Naturrecht damals erfuhr, der christlichen E. eine glückliche Richtung; durch Spener, Pfaff, Buddeus, I. I. Rambach erhielt sie eine bedeutende Reform, welche Leibnitz u. Wolf gewissermaßen vollenden zu wollen schienen. Baumgarten, Rausch, Bertling, bes. aber Reinhard bearbeitete die christliche E. in dem Geiste dieser Philosophen, der auch hier ein heilsames Streben nach Deutlichkeit der Begriffe, nach Bündigkeit der Beweise, nach Zusammenhang der Darstellung anregte, das sich selbst bei den Schriftstellern findet, welche, wie Mosheim, Miller, Töllner, Leß, Döderlein, Tittmann, Niemeyer, Michaelis, Morus, es vorzogen, die ethischen Vorschriften der Bibel zu sammeln, zu erklären u. zu bearbeiten. Im Ganzen äußerte die Kritische Philosophie einen günstigen Einfluß auch auf die christliche E.; denn sie stellte in der Autonomie der praktischen Vernunft ein höheres Princip auf, welches Kant auch in der Lehre Jesu wiederzufinden glaubte, sicherte der Willensfreiheit den ihr gebührenden Rang u. verbreitete durch ihren Rigorismus die erhabensten Ansichten über Menschenwürde. Schmid, Stäudlin, Ammon u. A. versuchten die Grundsätze dieser Philosophie auf die wissenschaftliche, Pölitz u. Berger auf die praktische E. anzuwenden. Selbst auf Kanzeln wurde die Sittenlehre nach den Kantischen Grundsätzen vorgetragen. Inzwischen führten Mosheim, Jerusalem, Cramer, Spalding, Teller u. A. bald von dieser Verirrung zurück. Zwar wurde in der letzten Hälfte des 17. u. zu Anfang des 1g. Jahrh. die Casuistik sehr fleißig bearbeitet; allein man kam doch auch immer mehr zu der Einsicht, daß eine auf richtige Grundsätze zurückgeführte E. jener überhebe. Unter den Reformirten herrschte ein lebhafter Eifer für die E., u. derselbe würde zu noch schönern Resultaten geführt haben, wenn ihn nicht die Prädestinationstheorie mehr ob. weniger gelähmt hätte. Noch früher als in der Lutherischen Kirche sonderte dort Lambertus Danäus die Glaubens- u. Sittenlehre, u. die populäre E. fand treffliche Bearbeiter. Bei den französischen Reformiten, wo bes. Dumoulin, Saurin, Vernet, Drelincourt sich durch moralische Kanzelvorträge auszeichneten, erwarben sich Amyraut, Pictet, la Placette, Basnage, P. Roques Verdienste um die wissenschaftliche E. In der Englischen Kirche blühten Forbes, Hammond, Stockhouse u. Paley als systematische Bearbeiter; Baxter, Taylor, Lucas, Tilotson, Forster, Doddridge Sterne, Secker, Blair als Asceten. In der Niederländischen Kirche gedieh, bes. durch Campejus Vitringa, Hoornbeck, Lampe, Wiittsius, die wissenschaftliche E. In Deutschland zeichneten sich vorzüglich aus als wissenschaftliche Bearbeiter: Heidegger, Stapfer, Endemann; als erbauliche Schriftsteller: Sack, Zollikofer, Tobler, Heß, Lavater. In der Katholischen Kirche wurde die E. zwar weit mehr als in den beiden andern bearbeitet; allein da man noch lange Zeit nach der Reformation an der scholastischen Methode festhielt, so haben selbst die Werke Mendozas, Malders, Suarez, Mastrins, Natalis Alexanders nur untergeordneten Werth. Noch verderblicher inzwischen wurde hier Per E. die Lehre der Jesuiten, deren Koryphäen Lessius, Escobar, Filiucius, Banny, Laymann, Busembaum u. A. durch ihre Reservationes mentales, den Probabilismus, die philosophische Sünde etc. die Sittenlehre so umgestalteten, daß selbst die Römische Kirche Widerspruch erhob. Vorzüglich aber setzten sich den Jesuiten die Jansenisten entgegen u. würden durch Pascal, Arnaud, Perraut u. Quesnel ohne Zweifel noch größere Verdienste sich erworben haben, wenn sie sich nicht einem übertriebenen Rigorismus u. einer lächerlichen Frömmelei ergeben hätten. Unter diesen Kämpfen erzeugte sich nichts desto weniger ein neuer Mysticismus, der vorzüglich in Franz v. Sales, Bona, Molinos, Malebranche, Fenelon u. der Frau Guyon einflußreiche Beförderer fand. Unbefangener u. freier dagegen arbeiteten auf diesem Felde Godeau, le Pelletier, Lamy u. Nicole; zugleich thaten sich Bourdaloue, Massillon, Flechier, Bossuet u. Fenelon als Praktische Kanzelredner hervor. Die Katholische Kirche in Deutschland führte unter dem Einfluß des Protestantismus die E. immer mehr auf die Sittenlehre Jesu zurück, strebte nach Deutlichkeit der Begriffe, nach Zusammenhang u. Consequenz, u. bes. haben Lauber, Sailer, Danzer, Schwarzhueber, Fabiani, Wanker, Schenkl sowohl für wissenschaftliche als populäre E. mit vielem Glück gearbeitet. In neuester Zeit hat das Bestreben, die neuere Philosophie wie mit der Dogmatik, so mit der E. in Verbindung zu setzen, auf die wissenschaftliche Bearbeitung viel Einfluß gehabt. So ward von Schleiermacher der Grundsatz festgehalten, daß die christliche E. als solche eine andere christliche Lehre, nämlich die Glaubenslehre, voraussetzt, während Daub mehr auf speculativem Standpunkt stand u. Merz unter den Formen der Hegelschen Schule die Sittenlehre in ihrer Gestaltung nach den Erundsätzen des Protestantismus behamdelte. Die Moraltheologie von Sartorius u. die christliche E. von Harleß hält sich streng an die christliche Offenbarung, ebensowie die theologische E. von Rothe, welche die Speculation nur in so weit für berechtigt hält, als sie sich auf dem Boden der Schrift bewegt, Rückert hat Dogmatik u. E. ebenfalls in Verbindung gebracht. Vgl. Stäudlin, Geschichte der Sittenlehre Jesu u. dessen Moral, Götting. 17991812, 3 Bde.; Reinhard, System der christlichen Moral, 5. Aufl. Wittenb. 1815, 5 Bde.; Ammon, Handbuch der christlichen Sittenlehre, 2. Aufl. Lpz. 1838; Daub's Moral, herausgegeben von Marheinecke u. Dittenberger, 1840 ff.; Schleiermacher's Sittenlehre, herausgegeben von Jonas, Berl. 1843 ff. [926] Sartorius, Moraltheologie, Stuttg. 184044, 3. Abth., 3. A. 1851; Rothe, Theologische E., Heidelb. 1845; Rückert, Theologie, Jena 1851.
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