Gerichtsbarkeit

[228] Gerichtsbarkeit (Jurisdictio), die Befugniß zur Ausübung richterlicher Handlungen. I. Die weltliche G. ist als ein Bestandtheil der höchsten Staatsgewalt zu betrachten u. jede richterliche Thätigkeit daher auf diese als die erste u. einzige Quelle der G. zurückzuführen. Die Inhaber der Staatsgewalt übertragen zur Ausübung der G. dieselbe an besondere Gerichte (s.d.), deren Befugnisse, Zahl u. Stellung zu einander die Gerichtsverfassung jedes einzelnen Staates näher regelt. A) Je nach der Art dieser Übertragung unterscheidet man: a) die Amtsgerichtsbarkeit (Jurisdictio officialis s. administratoria), bei welcher Jemandem die G. als ein öffentliches Amt vom Staate übertragen ist, u. die Patrimonialgerichtsbarkeit (Jurisd. patrimonialis), bei welcher die G. Unterthanen des Staates als ein eigenthümliches vererbbares Recht eingeräumt ist, u. zwar so, daß sie dabei entweder als Pertinenz einem bestimmten Gute, namentlich Rittergute, anklebt (dingliche Patrimonialgerichtsbarkeit, Jurisd. praediatoria) u. daher mit diesem Gute auf alle Besitzer übergeht; od. einer Person (z. B. einer Stadtgemeinde), Familie od. sonstigen Genossenschaft zusteht (persönliche Patrimonialgerichtsbarkeit). Die Patrimonialgerichtsbarkeit ist ein dem Deutschen Staatsrecht ganz eigenthümliches Institut. Sie findet ihre Erklärung in der eigenthümlichen Ausbildung der höchsten Gewalten auf deutschem Boden u. ist ein Stück dieser Gewalten selbst, welches den dazu berechtigten Unterthanen bald durch Verjährung, bald durch besondere Verleihung erworben, bald aber auch nur als ein Residuum früherer ausgedehnterer Befugnisse verblieben ist. Mit der neueren Fortbildung der Staatsidee, welche überall nach systematischer Einheit in der höchsten Gewalt strebt, galt die Patrimonialgerichtsbarkeit als nicht länger verträglich, u. sie ist daher theils aus diesem Grunde, theils aber auch wegen mancher praktischen Unzuträglichkeiten, welche sie in ihrem Gefolge hatte, jetzt fast überall aufgehoben worden (in Preußen[228] durch Verordnung vom 2. Januar 1849). Den Standesherren ist ihre Fortdauer indessen durch Art. 14 der Bundesacte als ein ihnen für ihre standesherrlichen Besitzungen zukommendes Vorrecht ausdrücklich gewährleistet. Der Patrimonialgerichtsbarkeitinhaber ist berechtigt, falls er sonst nur die vom Staate aufgestellten Qualificationen zur Bekleidung eines Richteramtes in sich vereinigt, auch persönlich die G. zu verwalten u. wird dann wie jeder andere Staatsbeamte betrachtet. Entbehrt er aber dieser Qualificationen, so hat er an seiner Statt einen Gerichtshalter (Justitiarius) anzustellen, den er aus den nach den Staatsgesetzen qualificirten Personen auszuwählen u. der Staatsgewalt zur Bestätigung u. Verpflichtung vorzustellen hat. b) Die ordentliche u. außerordentliche G. (Jurisdictio delegata), welche letztere in den Fällen eintritt, in welchen Jemandem ausnahmsweise von dem Regenten selbst od. dazu sonst befugten höheren Beamten im Namen des Regenten für einzelne bestimmte Fälle, über gewisse Personen u. Sachen die Befugniß zum Rechtsprechen überwiesen ist. Diejenigen, welche eine solche außerordentliche G. übertragen erhalten, heißen Commissarien u. können bald als ständige, bald als zeitige Commissarien bestellt sein, je nachdem ihnen nur ein einzelner Fall od. eine gewisse Gattung von Fällen, deren Zahl an sich unbestimmt ist, zur gerichtlichen Behandlung übertragen ist. Der Commissarius empfängt zu seiner Legitimation ein Auftragsschreiben (Commissoriale, Rescriptum commissorium), worin zugleich die Grenzen seiner Befugnisse genau normirt werden. Zu den ständigen Commissionen gehören z.B. die Ausnahmgerichte, welche im Falle von inneren Unruhen, bei Kriegs- u. Belagerungszustand eingesetzt werden; zeitige Commissionen können nöthig werden, wenn der eigentliche competente Richter wegen eigenen Interesses an der Sache unfähig erscheint, wenn er perhorrescirt wird, das Gericht zufällig gerade nicht ordentlich besetzt ist, od. auch wenn es die Rechtspflege verzögert. Commissionen der letzteren Art pflegen von den zunächst vorgesetzten höheren Gerichten angeordnet zu werden; die Einsetzung ständiger Commissionen ist aber nach der Verfassung der meisten Staaten nur dem Regenten vorbehalten. c) Die mandirte G. (Mandatum jurisdictionis), welche darin besteht, daß der mit G. Versehene einen Anderen bevollmächtigt, die ihm zustehende Jurisdiction an seiner Statt auszuüben. Der Bevollmächtigte tritt hier in Folge des Mandates ganz an die Stelle seines Auftraggebers, sein Spruch ist von derselben Wirkung, wie wenn der Mandant ihn selbst ertheilt hätte. Die mandirte G. findet, während sie nach römischer Gerichtsverfassung ziemlich häufig u. in ausgedehntestem Maße gefunden wird, bei den deutschen Gerichten nur theilweise, d.h. zur Vornahme bestimmter einzelner Gerichtshandlungen, namentlich solcher Statt, welche nicht füglich durch das gesammte Gericht vorgenommen werden können, indem der Vorstand des Gerichtes dann ein einzelnes od. mehrere Mitglieder zum Vollzuge derselben abordnen (deputiren, daher das Mitglied selbst Deputirter, Deputation) darf, welche dann die Handlung im Namen des Gerichtes vornehmen.

B) Auf den Umfang der mit der G. verbundenen Befugnisse sind zu beziehen die Eintheilungen in: a) generelle u. particulare G. (Jurisd. generalis s. universalis u. Jurisd. particularis s. exemta), von denen die erstere stattfindet, wenn die G. in allen im Gerichtssprengel vorkommenden u. nicht ausdrücklich ausgenommenen Rechtssachen zusteht, die letztere dagegen diejenigen Fälle begreift, in denen dieselben auf eine bestimmte Gattung von Personen, od. Sachen od. innerhalb des Sprengels auf bestimmte Örter eingeschränkt ist, wie die Handels-, Zunft-, Berg-, Hofmarschalls-, Kriegs-, Universitäts-, Zaun- u. Pfahl-, Dorfgerichtsbarkeit etc.; ferner b) in Criminal- u. Civilgerichtsbarkeit, womit früher auch die Eintheilung in hohe (Blutbann) u. niedere G. (Erbgerichtsbarkeit) ziemlich zusammentraf, nur daß die letztere auch die Bestrafung geringerer Verbrechen (Rügesachen) mitzuumfassen pflegte; endlich c) in streitige (Jurisd. contentiosa) u. freiwillige, nicht streitige G. (Jurisd. voluntaria), unter welcher letztern man dann alle diejenigen, mehr der Verwaltung angehörenden Nebenbeschäftigungen versteht, welche in Deutschland den Gerichten neben dem eigentlichen Richteramte (Haltung der Grundbücher, Vormundschaftssachen etc.) übertragen zu sein pflegen; s. hierüber unter Civilgerichtsbarkeit.

II. Gegenüber der weltlichen versteht man unter der geistlichen G. diejenige Jurisdiction, welche die Kirche über die kirchlichen Angelegenheiten beansprucht u. für deren Untersuchung u. Entscheidung sie deshalb die besonderen geistlichen Gerichte allein als competent betrachtet. Der Umfang dieser geistlichen G. ist in den verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedener u. fast zu jeder Zeit ein sehr bestrittener gewesen. In den ältesten Zeiten der Christlichen Kirche waren die Bischöfe die gewöhnlichen Richter für alle Streitigkeiten in der Gemeinde, anfangs als freigewählte Schiedsrichter nach dem Gebote der H. Schrift (1. Cor. 6, 1 ff.), seit Constantin dem Großen auch durch die weltliche Gewalt als ordentliche Richter anerkannt. Später wurde zwar diese G. wieder auf das Maß einer schiedsrichterlichen Gewalt zurückgeführt, dagegen aber allgemeine Regel, daß alle Streitigkeiten, welche sich auf Cleriker u. auf kirchliche Dinge bezögen, vor die bischöflichen Gerichte gehörten. Dem Begriffe der kirchlichen Dinge wurde indessen dabei in der Folge die weiteste Ausdehnung gegeben, so daß nicht nur alle Sachen, in denen die Sacramente in Frage kommen (namentlich die Ehesachen), sondern auch die Streitigkeiten über Vollziehung der Gelübde, über Verlöbnisse, Begräbnisse, Zehnten, Patronatrechte, selbst rein bürgerliche Sachen, wenn dabei eidliche Bestärkungen hinzugetreten waren, Testamente als Gewissenssachen, so wie alle Rechtssachen der Armen, Wittwen u. Waisen, weil man sie als unter dem besonderen Schutze der Kirche stehend betrachtete, vor die geistlichen Gerichte gezogen wurden. Die neuere Zeit hat hiergegen die Grenzen überall schärfer festzustellen u. den Begriff der kirchlichen Rechtssachen auf ihr eigentliches Gebiet zu beschränken gesucht. Die näheren Bestimmungen hierüber sind für die Gerichte der Katholischen Kirche in den verschiedenen Concordaten, für die Protestantische meist in den Consistorialordnungen u. anderen Landesgesetzen enthalten. Als Regel kann man annehmen, daß zwar die Entscheidung über Amts- u. Disciplinarvergehen der Geistlichen lediglich den geistlichen [229] Gerichten überlassen ist, dagegen die Bestrafung der Criminalvergehen derselben, für welche früher ebenfalls die kirchliche G. in Anspruch genommen wurde, den weltlichen Gerichten überlassen ist. Hinsichtlich der Civilsachen pflegen die Streitigkeiten über Mein u. Dein, daher Personalklagen, Streitigkeiten über Verlassenschaften der Geistlichen, alle Processe über kirchliches Vermögen etc. ebenfalls dem weltlichen Richter überlassen zu sein, während die Ehesachen mit Ausschluß der bürgerlichen Wirkungen, d.i. die Fragen über Eingehung, Trennung u. Annullation der Ehe, als geistliche Sachen gelten, indessen doch in mehreren protestantischen Ländern (namentlich in Preußen, s.u. Ehe) gleichfalls vor den weltlichen Richter gewiesen sind. Vgl. Dove, De jurisdictionis ecclesiasticae apud Germanos Gallosque progressu, Berlin 1855.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 228-230.
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