[836] Arzneimittel (Medicamenta), chemisch wirksame Stoffe, die zur Heilung von Krankheiten benutzt werden. Als A. dienen Pflanzen und Pflanzenteile, auch einige tierische Substanzen, aus Pflanzen dargestellte Körper und zahlreiche chemische Präparate. Letztere und die isolierten Pflanzenbestandteile werden in chemischen Fabriken oder in Apotheken hergestellt und für den Gebrauch nach der Verordnung des Arztes in geeignete Form gebracht. Die jedesmal zu gebrauchende Menge heißt Dosis; für eine Anzahl A. ist gesetzlich eine höchste zulässige Gabe (Maximaldosis) vorgeschrieben, die nur ausnahmsweise überschritten werden darf; der Arzt hat diese Überschreitung durch ein! auf dem Rezept zu vermerken. Die Priesterärzte der alten Ägypter, Juden, Griechen und Inder hatten neben diätetischen Mitteln viele Arzneistoffe, besonders aus dem Pflanzenreich, im Gebrauch, deren heilsame Wirkung durch Erfahrung festgestellt worden war. Eine große Bereicherung des Arzneischatzes trat durch die alexandrinische Schule ein (300 v. Chr.), aber erst durch den römischen Arzt Claudius Galenus Ende des 2. Jahrh. n. Chr. erhielt die Lehre von den Arzneimitteln ein mehr wissenschaftliches Gepräge, indem er die Wirkung der A., z. T. durch Experimente an Gesunden, festzustellen und bestimmte rationelle Indikationen für die Anwendung der A. zu geben versuchte. Während des Mittelalters kam man über Galen nicht hinaus, erst im 16. Jahrh. drang Paracelsus darauf. daß die in der praktischen Medizin herrschende scholastische Richtung verlassen werde, und daß man sich wieder der Natur zuwenden solle. Paracelsus führte die Metallsalze in den Arzneischatz ein, deren Bereitungsweise von den Alchimisten gefunden worden war. In den folgenden drei Jahrhunderten gab man der Lehre von den Arzneimitteln je nach der herrschenden Richtung in der Medizin bald mehr eine mechanische, bald mehr eine chemische, oft auch eine dynamistische oder geradezu mystische Grundlage. Im 19. Jahrh. wechselte mit den ältern Schulen die Homöopathie Hahnemanns und die »verstandesgerechte Erfahrungsheillehre« Rademachers, und schließlich wurde ein gänzlicher Nihilismus, die vollständigste Geringschätzung fast aller A. kultiviert. In den letzten fünf Jahrzehnten etwa ging man daran, ohne alle Voraussetzungen und Vorurteile die A. nach ihren chemischen und physikalischen Beziehungen zu studieren und ihre Wirkungen sowohl auf den gesunden als den kranken Organismus zu prüfen. Bei der Fülle alter überlieferter Mittel, die diese Feuerprobe der chemischen, experimentellen und therapeutischen Forschung zu bestehen hatten, bei der Unsicherheit unsrer Kenntnisse über die feinern chemisch-physiologischen Vorgänge des Stoffwechsels an Gesunden und Kranken, bei der Schwierigkeit, die Einwirkung der Arzneien auf das Nervensystem zu deuten, konnte dieser Wissenszweig noch nicht zu großen abgeschlossenen und feststehenden Lehren gelangen. Wenn sich im Magen durch abnorme Prozesse eine große Menge Säure gebildet hat und man Magnesia oder doppeltkohlensaures Natron einführt, so ist die Beseitigung der Säure leichtverständlich, da sich dieselbe mit der Magnesia oder dem Natron zu einem neutralen Salz verbindet. Es gibt aber nur sehr wenige Fälle dieser Art, und für die Mehrzahl der A. fehlt uns die Einsicht in die chemischen Prozesse, die sich zwischen denselben und gewissen Bestandteilen der Gewebe abspielen, und auf welche die Wirkung der A. in letzter Reihe zurückzuführen ist. Ebenso kennen wir auch nur von wenigen Arzneimitteln die Schicksale, die sie im Körper erleiden. Viele A. unterliegen der Einwirkung der Verdauungssäfte und der die Gewebe durchtränkenden Flüssigkeiten. Hieraus erklärt sich z. T. die Tatsache, daß manche A. bei direkter Einführung ins Blut sehr energisch wirken, vom Magen aus aber gar nicht oder nur schwach wirksam erscheinen. Bedeutungsvoll für die physiologische Wirkung ist häufig die chemische Konstitution der A., daher kann oft eine geringfügige Änderung derselben (etwa durch Einfügung an sich indifferenter Molekülgruppen in die ursprüngliche Verbindung) die Wirkungsweise eines Arzneimittels völlig verändern. Hierauf gründet sich die in neuester Zeit sehr lebhaft betriebene Synthese von Substanzen, die als A. benutzt werden sollen, und unter denen sich manche wertvolle A. befinden.
Die Anwendung der A. ist entweder eine örtliche, wie z. B. die der fäulniswidrigen Arzneien und der Ätzmittel, oder die Wirkung ist eine allgemeine. d.h. sie wird durch die Aufnahme der A. ins Blut hervorgebracht. Um die letztere zu erzielen, werden die Mittel dem Blut entweder unmittelbar beigebracht oder unter die Haut eingespritzt (subkutane oder hypodermatische Injektion) oder auf der Haut verrieben (Inunktion), oder sie werden durch den Magen und Darm aufgenommen in Form von Mixturen, Pulvern, Pillen, Pastillen, Tropfen. Latwergen, Aufgüssen, Abkochungen etc., oder endlich werden sie durch die Lungen eingeführt in Form von Dämpfen und Zerstäubungen (Inhalation). In allen Fällen kommt also der wirksame Bestandteil entweder einfach gelöst oder bereits durch die Verdauungssäfte und das Blut chemisch verändert in Berührung mit allen Geweben des Körpers, und der Arzt muß wissen, auf welche Organe das einzelne A. vornehmlich eine Wirkung ausübt (spezifische Wirkung), und in welcher Weise kleine und in welch andrer Art große Gaben das Organ beeinflussen. Die meisten A.[836] werden im Laufe von 13 Tagen durch den Darm und die Nieren wieder ausgeschieden, und es bedarf erneuter Einfuhr, wenn ihre Wirkung fortdauern soll; einzelne Stoffe dagegen, z. B. Digitalis, wirken noch mehrere Tage nach, und diese Wirkung steigert sich bei andauerndem Gebrauch bis zu bedrohlichen Vergiftungserscheinungen (kumulative Wirkung). Bis zu einem gewissen Grad sind die Folgen, die ein A. hervorrufen wird, wenn man es in dieser oder jener Menge gibt, mit Bestimmtheit vorauszusagen; wenn es trotzdem Schwankungen gibt, wenn eine erwartete Wirkung ausbleibt oder eine andre unerwartete Nebenwirkung eintritt, so kann eine mangelhafte Beschaffenheit der Arznei die Schuld daran tragen, oder es kann eine gewisse abnorme Reaktion des Körpers, eine Idiosynkrasie, zu Grunde liegen. Der Großverkehr mit Arzneimitteln ist das eigentliche Objekt des Drogenhandels, die Abgabe an die Konsumenten fällt den Apothekern zu, doch treiben sehr viele Drogisten auch Handverkauf. Eine kaiserliche Verordnung vom 22. Okt. 1901 regelt den Verkehr mit Arzneimitteln im Deutschen Reich und setzt fest, welche Zubereitungen, Drogen und chemischen Präparate nur in Apotheken feilgehalten werden dürfen. Vgl. die Hand- und Lehrbücher der Arzneimittellehre von Husemann (3. Aufl., Berl. 1892); Nothnagel und Roßbach (7. Aufl., das. 1894); Rabow und Bourget (das. 1897); Binz (»Grundzüge«, 13. Aufl., das. 1901); Cloetta-Filehne (10. Aufl., Freiburg 1901); Tappeiner (4. Aufl., Leipz. 1901); Schmiedeberg (»Grundriß«, 4. Aufl., das. 1902); Binz, Vorlesungen über Pharmakologie (3. Aufl., Berl. 1891); Fischer, Die neuern A. (6. Aufl., das. 1894); Peters, Die neuesten A. und ihre Dosierung (3. Aufl., Leipz. 1902); Lewin, Die Nebenwirkungen der A. (3. Aufl., Berl. 1899); Fränkel, Die Arzneimittelsynthese (das. 1901); Holfert, Volkstümliche Arzneimittelnamen (2. Aufl. 1898); Hand- und Lehrbücher der Arzneiverordnungslehre von Ewald (13. Aufl., Berl. 1897; Ergänzungsheft 1901), Liebreich und Langgaard (5. Aufl., das. 1902); Böttger, Die reichsgesetzlichen Bestimmungen über den Verkehr mit Arzneimitteln (4. Aufl., das. 1902); Lebbin, Verkehr mit Heilmitteln u. Giften im Deutschen Reich (das. 1900).