Kerner [2]

[853] Kerner, 1) Georg, deutscher Parteigänger der französischen Revolution, geb. 9. April 1770 in Ludwigsburg, gest. 7. April 1812, in der Stuttgarter Karlsschule gebildet, lebte mit einigen Unterbrechungen von Ende 1791 bis September 1795 in Paris als Zeuge der wichtigsten Ereignisse dieses Zeitraums und mehrfach persönlich daran beteiligt. 1795–1801 Sekretär seines Landsmannes K. F. von Reinhard (s. d.), den er nach Hamburg, Florenz, Paris und Bern begleitete, diente er der französischen Republik und meinte damit mittelbar auch Deutschlands Wohl zu fördern. Ein strenger Kritiker der französischen Zustände, entsagte er den französischen Diensten erst, als er die monarchischen Absichten Bonapartes durchschaut hatte (Ende 1801), wirkte seit 1803 in Hamburg als Arzt und starb aus Gram über die Napoleonische Zwingherrschaft während opfermutiger Ausübung seines Berufs. Vgl. Justinus Kerner (Georgs Bruder), Bilderbuch aus meiner Knabenzeit (neue Ausg., Stuttg. 1886); A. Wohlwill, Georg K., ein deutsches Lebensbild (Hamb. 1886).

2) Andreas Justinus, Dichter und medizinischer Schriftsteller, Bruder des vorigen, geb. 18. Sept. 1786 in Ludwigsburg, gest. 21. Febr. 1862 in Weinsberg, erhielt seine Erziehung im Kloster Maulbronn, sollte wider seine Neigung Kaufmann werden, bezog 1804 die Universität Tübingen, um Medizin und Naturwissenschaften zu studieren, und schloß dort mit Uhland und G. Schwab innige Freundschaft. Nach Beendigung seiner Studien begab sich K. 1809 auf Reisen und lebte längere Zeit in Hamburg, Berlin, Wien u. a. O. Die Briefe, die er während dieser Zeit an die Freunde schrieb, bilden die »Reiseschatten von dem Schattenspieler Lux« (Heidelb. 1811; vgl. Gaismaier in der »Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte«, Bd. 13 u. 14, Berl. 1899–1900), das bedeutendste dichterische Erzeugnis Kerners, dem herrliche Lieder und dramatische Szenen voll seltenen, phantastischen Humors eingewebt sind. Zurückgekehrt, kam K. als Badearzt in das Wildbad und schrieb hier: »Das Wildbad im Königreich Württemberg« (Tübing. 1813, 4. Aufl. 1839). Auch gab er mit Uhland, Schwab u. a. den »Poetischen Almanach« (Heidelb. 1812) sowie den »Deutschen Dichterwald« (Tübing. 1813) heraus, der die schönsten, frischesten und sangbarsten Gedichte Kerners und Beiträge von Uhland, Schwab, K. Mayer, Eichendorff u. a. enthält. Es folgten: »Romantische Dichtungen« (Karlsr. 1817). 1818 nach Weinsberg als Oberamtsarzt versetzt, baute er sich an dem Fuße der alten Burg Weibertreue an. Hier beschrieb er in anmutiger und altertümlicher Sprache »Die Bestürmung der württembergischen Stadt Weinsberg im J. 1525« (Öhringen 1821, 2. Aufl., Heilbronn 1848) und lieferte die medizinische Schrift »Das Fettgift, oder die Fettsäure und ihre Wirkungen auf den tierischen Organismus« (Stuttg. 1822). Von Einfluß auf seine geistige Richtung wurden seine Erfahrungen auf dem Gebiete des tierischen Magnetismus. Von der Beobachtung einiger Fälle dieser Art, wie er sie in der »Geschichte zweier Somnambülen« (Karlsr. 1824) beschrieb, schritt er schnell weiter und gelangte in der »Seherin von Prevorst« (Stuttg. 1829, 2 Bde.; 6. Aufl. 1892), in den mit Eschenmayer herausgegebenen »Blättern aus Prevorst« (1.–7. Samml., Karlsr. 1831–35; 8.–12. Samml., Stuttg. 1836–39; fortgesetzt als »Magikon«, das. 1842–53, 5 Bde.; »Mitteilungen« daraus, mit Erläuterungen von H. Barth, Bitterf. 1902 ff.), den Schriften: »Geschichten Besessener neuerer Zeit« (Karlsr. 1834, 2. Aufl. 1835), »Eine Erscheinung aus dem Nachtgebiet der Natur« (Stuttg. 1836) und »Nachricht von dem Vorkommen des Besessenseins« (das. 1836) zur ernsthaften Behauptung des Hereinragens der Geisterwelt in die irdische. Daß K. übrigens auch Momente hatte, wo er von dem ihn sonst beherrschenden Hang zum Dämonismus frei war und mit dem Spuk selbst Spott treiben konnte, beweist sein wunderliches Drama »Der Bärenhäuter im Salzbade« (Stuttg. 1837), das nur als Persiflage des ganzen Geisterkrams verständlich wird. Fast ganz erblindet, legte K. 1851 Amt und Praxis nieder. König Ludwig I. von Bayern hatte dem Dichter einen kleinen Jahrgehalt ausgesetzt, dem König Wilhelm von Württemberg 1853 noch eine Summe zulegte. Kerners Lyrik hat sich wie diejenige Uhlands am Volkslied herangebildet; während aber Uhland klar und plastisch ist, waltet bei K. mehr das Phantastische und die Versenkung in dunklere Seelenregungen vor. Seine Muse zeigt sich am eigentümlichsten da, wo sie das gegebene Menschliche verflüchtigt und im Dufte der Sehnsucht in das Unendliche aufsteigen läßt; daher ist der Grund seiner Poesie wehmütiger und ernster als im Volkslied. Übrigens tragen alle seine Lieder den wahrhaften Charakter des Liedes: sie sind schlagend, kurz, voll Seele und überraschender, zuweilen freilich seltsamer Bilder. Die Romanzen suchen das Schaurige, Geisterhafte. Seine Dichtungen in ungebundener Rede und in dramatischer Form haben einen hier und da auch in den Gedichten vorklingenden kernigen Humor und[853] mitunter scharfen Witz. Eine Sammlung seiner »Gedichte« erschien zuerst Stuttgart 1825 (5. verm. Aufl. u. d. T.: »Lyrische Gedichte«, 1854), seine »Dichtungen«, die auch die »Reiseschatten«, den »Bärenhäuter« u. a. in Prosa enthalten, daselbst 1834 (3. vermehrte Aufl., das. 1841, 2 Bde.). Eine anmutige Schilderung von Kerners Jugendjahren enthält sein »Bilderbuch aus meiner Knabenzeit« (Braunschw. 1849; 2. Abdruck, Stuttg. 1886; auch Frankf. a. O. 1893). Auch gab K. »Gedichte von Johann Lämmerer, einem Weber in Gschwend« (Gmünd 1820) heraus. 1853 veröffentlichte er eine Schrift: »Die somnambulen Tische«, und dann: »Franz Anton Mesmer aus Schwaben« (Frankf. a. M. 1856). Mit dem »Letzten Blütenstrauß« (Stuttg. 1852) wollte der Dichter von der Poesie Abschied nehmen, doch folgte noch eine neue Sammlung lyrischer Gedichte u. d. T.: »Winterblüten« (das. 1859). 1895 wurde ihm in Stuttgart auf dem Kernerplatz ein Denkmal errichtet (Porträtbüste von Gaeckle). Seine »Ausgewählten poetischen Werke« erschienen in 2 Bänden (Stuttg. 1878) und später noch: »Kleksographien« (das. 1890). Vgl. Marie Niethammer (Kerners Tochter), J. Kerners Jugendliebe und mein Vaterhaus (Stuttg. 1877); Reinhard, J. K. und das Kernerhaus zu Weinsberg (2. Aufl., Tübing. 1886); K. Mayer, L. Uhland, seine Freunde und Zeitgenossen (Stuttg. 1867, 2 Bde.), mit Briefen und Gedichten Kerners; D. Strauß, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Bonn 1876); du Prel, J. K. und die Seherin von Prevorst (Leipz. 1886); Theobald Kerner (s. unten), Das Kernerhaus und seine Gäste (Stuttg. 1894), und den von Theobald K. herausgegebenen »Briefwechsel J. Kerners mit seinen Freunden«, mit Einleitung etc. von E. Müller (das. 1897, 2 Bde.).

3) Theobald, Sohn des vorigen, geb. 14. Juni 1817 in Gaildorf, praktischer Arzt in Weinsberg, hat sich ebenfalls als lyrischer (auch politischer) Dichter und talentvoller Erzähler sowie durch magnetische Kuren, in denen er eine Theorie seines Vaters praktisch anzuwenden versuchte, bekannt gemacht. Er veröffentlichte: »Gedichte« (Jena 1845 u. Stuttg. 1852); »Prinzessin Klatschrose« (Stuttg. 1851); »Aus dem Kinderleben« (das. 1852); »Natur und Frieden« (2. Ausg., Frankf. 1861); »Galvanismus und Magnetismus als Heilkraft« (4. Aufl., Kannst. 1858); »Tragische Erlebnisse« (Hamb. 1864); »Gesammelte Dichtungen« (Stuttg. 1879); »Pastor Staber oder der neue Ahasver«, Lustspiel (1888); die Dichtungen »Altes und Neues« (Berl. 1902) und die erwähnten Schriften über seinen Vater.

4) Anton K., Ritter von Marilaun, Botaniker, geb. 12. Nov. 1831 zu Mautern in Niederösterreich, gest. 22. Juni 1898 in Wien, studierte Medizin in Wien, war zwei Jahre Arzt daselbst und wurde 1855 Professor an der Oberrealschule und 1858 Professor der Botanik an der Technischen Hochschule in Ofen, 1860 in Innsbruck und 1878 Professor der Botanik und Direktor des Botanischen Gartens und Museums in Wien. K. bereiste das botanisch bis dahin fast ganz unbekannte Hochgebirge an der Grenze von Ungarn und Siebenbürgen, den Bakonyerwald und sehr oft die Theißniederung. In Innsbruck gestaltete er die Alpenpflanzenanlage zu einer Sehenswürdigkeit, legte kleine Versuchsgärten in der alpinen Region an und bestimmte weit über 1000 Baumgrenzen durch barometrische Messungen. Auch bemühte er sich um die Verbesserung der Alpenwirtschaft und gründete auf dem Blaser eine kleine Versuchsstation für diesen Zweck. Er schrieb: »Flora der Bauerngärten in Deutschland« (in den »Verhandlungen der Zoologischbotanischen Gesellschaft«, 1855); »Die niederösterreichischen Weiden« (Wien 1860); »Studien über die obern Grenzen der Holzpflanzen in den Österreichischen Alpen« (7 Abhandlungen in der »Österreichischen Revue«, 1863–67); »Das Pflanzenleben der Donauländer« (Innsbr. 1863); »Die Kultur der Alpenpflanzen« (das. 1864); »Herbarium österreichischer Weiden« (das. 1863–70,9 Dekaden); »Die Alpenwirtschaft in Tirol« (Wien 1868); »Der botanische Garten in Innsbruck« (2. Aufl., Innsbr. 1869); »Die Abhängigkeit der Pflanzengestalt von Klima und Boden« (das. 1869); »Die natürlichen Floren im Gelände der Deutschen Alpen« (in Schaubachs »Deutschen Alpen«, Jena 1870); »Die Schutzmittel des Pollens gegen die Nachteile vorzeitiger Befruchtung« (Innsbr. 1873); »Über die Bedeutung der Asyngamie für die Entstehung der Arten« (das. 1874); »Die botanischen Gärten« (das. 1874); »Geschichte der Aurikel« (Münch. 1875); »Vegetationsverhältnisse des mittlern und östlichen Ungarn und Siebenbürgen« (Innsbr. 1875, Lief. 1 u. 2); »Die Schutzmittel der Blüten gegen unberufene Gäste« (Wien 1876; 2. Aufl., Innsbr. 1879); »Illustriertes Pflanzenleben« (Leipz. 1887–91, 2 Bde.; 2. Aufl. 1896–98; übersetzt ins Englische, Holländische, Italienische und Russische).

5) Johann Simon von, Botaniker, s. Kern.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 853-854.
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